Zwei Weihnachtsepisteln

Textdaten
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Autor: Victor Blüthgen
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Titel: Zwei Weihnachtsepisteln
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aus: Die Gartenlaube, Heft 52, S. 861–862
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Zwei Weihnachtsepisteln.

Von Victor Blüthgen.

20. December 1884.
  Lieber Alfred!

Ich muß schreiben; ich sage Dir: ich muß. Es ist durchaus nöthig, daß ich mich gegen irgendwen ausspreche, wenn sich der Aerger nicht versetzen und mich Karlsbad oder Kissingen in den Rachen werfen soll. Und Du bist Junggeselle (danke Gott!), das heißt, Du wirst meine Auslassungen nicht auf dem Umwege über Deine Frau an die meinige befördern – was mir nicht gerade angenehm wäre und Du kannst Nutzen daraus ziehen, für den Fall, daß Deine vorgerückten Jahre Dich so wenig vor Heirathsgedanken schützen sollten, wie mich die meinen geschützt haben.

Diese Weihnachtsbeschererei bringt mich noch um. Jedes Jahr dieselbe Geschichte – gute Vorsätze, und dann: am Ende wird’s wieder so „wie voriges Jahr es am heiligen Abend war“ – singt eben der Chorus meiner Drei (meine Frau ist ausgegangen, „einkaufen“ natürlich). Diese Kannibalen können hier singen, während ich mir die Haare ausraufen möchte! Natürlich: Lottchen hat wahrscheinlich ihre diesjährige Landschaft schon fertig (drei solche Monstra hängen bereits eingerahmt in meinem Zimmer; es „wäre ja unrecht, wenn man dem Kinde die Freude nicht machte!“), Fritz hat seine laubgesägte Console oder etwas Aehnliches vermuthlich auch bereits zum Polirer geschleppt, wenigstens höre ich nicht mehr dieses entsetzliche Rasseln, das mich seit Wochen nervös gemacht hat. O, wie freut sich der gute Papa auf diesen mißrathenen Staubfänger, den er künftig mit dem Blick zu zerbrechen fürchten muß! Und Angela hat mir bereits in einem unbewachten Augenblicke angedeutet, daß ich mich auf eine unvergleichliche Fröbel-Kindergartenstickerei gefaßt machen darf. Dabei sitzen nun diese Würmer seit Wochen krumm und plagen sich, statt Schneemänner zu bauen und sich mit Bällen zu werfen und Abends rechtzeitig schlafen zu gehen, denn außer den Eltern werden auch noch die lieben Onkel und Tanten, Vettern und Cousinen von ihnen beglückt. Nun denke Dir unsere beschränkten Räume im Winter – ein armer Oberlehrer kann nicht für Jedes ein Zimmer heizen. Ich komme vom Spaziergang, sofort stürzt es durch alle Thüren davon: „Papa kommt!“ Eine Zeitlang war ich von der gesammten Familie wie ein Aussätziger gemieden. „Hast Du auch nichts gesehen, Papa?“ Hundertmal versichert man das Gegentheil, und wenn sie abgehen, hängen sie doch die Köpfe: „Jetzt ist mir die ganze Freude verdorben.“ Was meine Frau mir wieder stickt – natürlich muß sie sticken, da sie augenleidend ist – weiß ich nicht. Ein Sophakissen, einen altdeutschen Schoner, einen Tischläufer, was die Berliner „Compotchaussee“ nennen – kurz irgend etwas, was wahrscheinlich ganz nett, aber mit gewebtem Muster um die Hälfte billiger und reichlich so hübsch in einem Laden zu haben wäre. Siehst Du, das ärgert mich am meisten: diese Geschenke verderben den Charakter; natürlich bin ich Weihnachten gezwungen, vor Freude außer mir zu sein über die Gaben der Liebe – –

Wenn das Glück gut ist und das Sophakissen besonders gerathen, bekomme ich es überhaupt nur Weihnachten zu sehen. Später ist es mit einer weißen Häkeldecke verhängt und wird vertrauten Freundinnen in Stunden besonderer Seelenannäherung enthüllt. Geschlafen habe ich noch auf keinem. Der Sophaschoner wird, um ihn zu schonen, für hohe Festtage verwahrt (ich habe im vorigen Jahre solch ein Prachtstück bekommen, [862] um das mir’s selbst mehr leid gewesen wäre, als um das Sopha, wenn Jemand den Kopf dagegen gelegt hätte). Die Compotchaussee legt Bertha alle Jahre einmal auf, wenn wir große Gesellschaft haben.

Aber Du bekommst doch auch andere Geschenke? willst Du sagen. Jawohl, das versteht sich. Aber ich stehe Todesangst aus, wenn ich daran denke. Tante Jetta könnte mir z. B. sehr wohl ein Eckbrett mit scharlachrothen Lambrequins schenken, die sie bestickt hat – ich Unglücklicher fand neulich ein solches, bei dessen Anfertigung ich sie überraschte, recht hübsch, wiewohl mir Eckbretter ein Gräuel sind und ein solches scharlachrothes Scheusal sämmtliche Farben in jedem Zimmer todt machen würde.

Ich sollte einen Wunschzettel schreiben, aber ich kann mich dazu nicht entschließen. Ich will nichts, nichts – gar nichts!

Aber die Wunschzettel der Uebrigen habe ich in Händen. Lauter „Kleinigkeiten“ natürlich: meine Bertha vielleicht einen neuen Pelzschmuck, Batist zu einem Kleide, zwei hübsche Tischdecken, einen Korallenschmuck – er muß aber genau so sein, wie der von der Directorin – „endlich“ eine Kette zu der goldenen Uhr etc. Natürlich zur Auswahl notirt, aber ich weiß genau: wenn ich das eine gekauft habe, wäre ihr gerade das andere lieber gewesen. Nun die Kinder! Es ist haarsträubend, was sich für Spielsachen heutzutage aufsummen. Wir haben uns in unserer Jugend königlich mit einer Schachtel der ordinärsten Bleisoldaten amüsirt, die wir mit Erbsen aus einer Holzkanone zu Falle bringen konnten. Jetzt will mein Junge durchaus den trojanischen Krieg haben. Diese Sammlung von ein paar Dutzend Bleikunstwerken aber ist unter fünfzehn Mark gar nicht zu schaffen. Das ist erst ein einziges Geschenk! Für das, was heutzutage die standesgemäßen Puppen kosten, könnte ich beinahe einen Waisenknaben ernähren. O Zeitalter der Klapperpuppen und Waldteufel, wo bist du? Diese Rangen werden blasirt, anspruchsvoll – es hört alles auf!

Das Tollste ist aber das Besorgen von all dem Kram. Ich bin ein ziemlich unentschlossener Mensch im Einkaufen, denn ich muß genau wissen, ehe ich zugreife, daß ich mich nicht über den Kauf hinterdrein ärgere. Nun laufe einmal in diesen Läden herum: gestoßen, auf die Zehen getreten, ungeduldig – „He, Fräulein!“ – „Gleich, mein Herr!“ – jawohl, eine Viertelstunde warten, und wenn man aussuchen will, läuft einem dies Volk unter den Händen weg. Du lachst, mein Lieber – das ist sehr billig; Du „kannst auch lachen“, Du hast Deine gemüthliche Stube, Deine Spaziergänge, Deinen alten Scat, Du lässest wie alle Weihnachten Deine Spickgans, Deine Näschereien von der Wirthin für uns einpacken und merkst von alle dem Weihnachtselend nichts, behältst vor allem Dein schönes Geld, und ich armer Schulmeister werfe es für eine Menge unnützen Kram zum Fenster hinaus. Mit dem zehnten Theil von dem, was mich dieses Fest kostet, haben wir in unserer Jugend das lustigste Weihnachten von der Welt gehabt. Jetzt muß ich mich mit Privatstunden ein halbes Jahr abplagen, um dem „schönsten“ Fest der fortgeschrittenen Neuzeit gerecht zu werden, und habe drei geschlagene Wochen keine Ruhe, den Kopf voll Sorgen, um alles recht zu machen: Vorwürfe rechts und links, Erwartungen, die ich enttäuschen muß, Kämpfe – dies und das ist noch nicht da; die schönsten Weihnachtsbäume habe ich mir vor der Nase wegnehmen lassen und komme mit einem Krüppel an; alles wird „bis auf den letzten Augenblick verschoben“; hier „dürfen wir uns nicht lumpen lassen“; da „können es doch Andere auch, warum wir nicht?“ Mein Portemonnaie windet sich krampfhaft in der Tasche – vergebens. „Es muß sein!“

Alfred, kennst Du dieses fürchterliche „Es muß sein“? – Nein, Dasjenige, welches Du kennst, ist ein vernünftiges Product Deines inwendigen Menschen dem Du die Hand reichst, indem Du sprichst: „Gut also, braves Muß.“ Dieses mein „Muß“ ist ein fremdes Ding, das ich nicht begreife, ein Fatum, ein Verhängniß.

Ich habe schon dran gedacht, einen Verein von Familienvätern zur Beschränkung dieses Weihnachtsunfugs zu stiften. Umsonst! Ich finde keine Mitglieder. Sie erklären alle die Idee für nett, aber wenn es zum Schwur auf dem Rütli kommen soll, machen sie Ausflüchte: es würde sich nicht so consequent durchführen lassen, es hinge so vieles von unberechenbaren Umständen ab – aha, „Nachtigall, ich hör’ dir laufen“!

Um des Himmels willen: würden wir denn dieses Fest der Liebe nicht hundertmal gesegneter verleben, wenn wir uns nicht Wochen und Wochen vorher beständig die Stimmung verdürben – nicht abgehetzt, bis in den letzten Nerv zerschlagen, schier genußunfähig daran gingen, das nagende Portemonnaie in der Tasche, um mit Wippchen zu reden – friedlich still mit kleinen Freuden uns überraschten, beglückt auch von einem bescheidenen Etwas unter dem lichtstrahlenden Bäumchen? Muß denn der Weihnachtstisch zu einem Ausstellungsplatz für die Fortschritte des modernen Kunstgewerbes werden? Geht nicht die echte rechte Weihnachtsstimmung unter dieser Geschenkwuth verloren, die nachher scheel auf ihr Theil blickt, weil es doch nicht ganz das geworden ist, was man sich davon versprochen?

Alfred, Du kennst meine Bertha. Sie ist eines der vernünftigsten Weiber, die es giebt: aber wenn Weihnachten anrückt, verzweifle ich an ihr. Nicht blos an ihr: an der Welt, an der Zukunft unseres Vaterlandes, am gesunden Menschenverstande – an mir selber, der nicht die Kraft findet, auch hier im Handeln unentwegt zu seiner besseren Ueberzeugung zu stehen.

O meine Casse, meine Casse! Das Mädchen muß für mindestens zehn Thaler haben (sie hat schon angedeutet, daß sie Freundinnen besitze, welche stets für fünfzehn bekommen), es kommt die Waschfrau, der Barbier, die Kellner – bis Neujahr geht das so lustig weiter – –.

Herrgott, wer scheust mir denn etwas? Jeder Lehrling bekommt seine baumwollene Weste oder sonst etwas Gutes, da hat er doch ein wirkliches Geschenk. Was mir geschenkt wird, bezahle ich doch schließlich auch, oder ich muß mich revanchiren, und da revanchirt man sich gegenseitig in die Höhe, daß man des Teufels werden möchte.

Alfred – ich sage Dir als Dein älterer Bruder: bleibe Junggesell, oder warte erst die Zeit der Umkehr ab. Denn so kann’s nicht lange fortgehen in unserm lieben Vaterlande, oder wir schenken uns Weihnachten alle bankrott. Amen!

Es ist herunter vom Herzen. Ich schließe eilig, Bertha kommt eben an. Ich reiche Dir im Geist die brüderliche Rechte und bitte um Dein Mitleid.

Dein treuer Bruder Conrad. 
*               *
*
27. Dec. 1884.
Lieber Alfred!

Du wirst Dich nicht wenig über meinen Zorneserguß vom 20. amüsirt haben. In der That – wenn ich auch in der Sache denselben Standpunkt einnehme: jener Brief dürfte mehr ein augenblickliches Stimmungsbild als eine objective Würdigung der ganzen Frage darstellen.

Es ist doch ein famoses Fest, und das Herz geht einem so dabei auf, daß man, sobald die Kinder erst durch die Thür geschlüpft sind, die Wochen vorher total vergessen hat. Ich fühle mich angesichts der jüngst verlebten Tage durch Pflicht und Gewissen gedrungen, so manchem Schiefen und Einseitigen in dem frühern Briefe eine Correctur nachzusenden.

Ein reizender Christabend, die Kinder im Himmel, Bertha rührend, ich so recht innerlich glücklich! Ich sah Dich im Geist mit noch ein paar braven Junggesellen um die Bowle sitzen, Schnurren erzählen wie alle Tage, Pfeife rauchen wie alle Tage – Junge, es ist etwas ganz Besondres um so einen eignen Herd, ein geliebtes Weib und ein paar muntre Rangen, und nie fühlt man das deutlicher, als unter dem Christbaum.

Es ist allerdings wahr: diesmal ging mancher gefürchtete Kelch an mir vorüber. Das Eckbrett mit den Lambrequins habe ich freilich bekommen: na, in einer schattigen Ecke wird es ganz belebend wirken. Tante Jetta, das arme Wurm, hat sich redlich. damit gequält. Die Landschaft war auch da, war aber diesmal keine Landschaft, sondern ein Porträt, und gar nicht übel. Das Mädel macht Fortschritte. Der Junge hat Verzierungen zu einem Schlüsselschränkchen ausgesägt – ich habe mir überlegt, daß man sie ja auf festes Holz aufleimen kann; das wird sich nicht schlecht ausnehmen, etwa wie ausgestochene Arbeit. Bertha hat mir Vorhänge über mein Bücherspind gestickt, allerliebst, mit türkischem Muster – das hat große Vortheile, sie werden mir nicht mehr so oft alles umkramen, um abzustäuben. Lieber war mir noch ein prächtig gesticktes Sammet-Käppchen – es hat mich riesig erfreut. Bertha hat’s als Julklapp geworfen, und die ganze Verwandtschaft, die wie alljährlich unsern Weihnachtstisch zu sehen gekommen, stand bei dem Act Gevatter. Die gute Seele, meine Bertha! Wie strahlte sie, daß ich mich so zufrieden gab! Auch sie war’s ja – das Mißmuthsfältchen wegen mangelnden Korallenschmucks ist verschwunden. Na und der trojanische Krieg – der Junge war aus Rand und Band. Er baute auf wie ein alter Homerkenner, sage ich Dir, und die große Luftbüchse und die gewaltige Puppe verfehlten ihren Eindruck nicht. Man stellt diese Sachen wirklich jetzt ganz allerliebst her. Im Grunde liegt das Geheimniß der Weihnachtserfolge doch darin, daß man Jedem nicht das schenkt, was man ihm wünscht, sondern was er sich selber wünscht. Schließlich wird man – entschuldige, ich wurde eben vom Barbier gestört, der brave Blutsauger hat sein Theil weg; rasirt auch wirklich wie mit einer Flaumfeder – auch mit dem Geldpunkt fertig. Ich bin schon über andere Ausgaben weggekommen, von denen ich weniger Freude gehabt habe, und an ein paar Privatstunden stirbt man nicht.

Schade, daß Du Dich nicht einmal entschließen kannst, ein Weihnachtsfest bei uns zu verleben. Du würdest an dem Aufbau des Baums und den übrigen Arrangements Deine helle Freude haben. Mein Werk!

Adieu, altes Haus! Was ich Dir noch sagen wollte: Heirathe! Du wirst es nicht bereuen. Trotz Weihnachten.

Brüderlich Dein Conrad. 

Nachschrift. Deine Gans war delicat, und die andern Ueberraschungen stehen über dem Niveau der Junggesellenauswahl. Alles grüßt und dankt! Adieu – ich muß eine Puppenhand leimen.