Zwei Thiermärchen
Ein esel weidet an einem hügel, die bienen schwärmen um ihn herum: auch eine wespe fliegt heran und setzt sich in sein ohr. der esel, als er ihre stiche empfindet, gerät in wuth, schüttelt sich, schreit laut und rennt hin und her. endlich ruft er dem plagegeist zu ‚hast du dich in den hölungen meines leibes versteckt, so komm heraus und kämpfe offen mit mir. hast du mut, so mögen die bienenschwärme und die schaar der esel mit einander krieg führen‘. es wird ein kampf auf offenem feld verabredet und der tag bestimmt. der esel begibt sich zum löwen und berichtet was sich zugetragen hat; dabei äußert er die besorgnis daß die wespe wieder in sein ohr kriechen werde. der löwe ertheilt ihm den rat alle öffnungen seines leibes mit riemen zu verschließen, dann würden seine feinde nichts gegen ihn ausrichten und er sieger bleiben. dieser rat wird befolgt, und auf diese weise geschützt erscheinen die esel auf dem schlachtfeld. als die wespen sehen daß kein weg mehr offen ist, um in den feind zu dringen, so setzen sie sich unten an den bäuchen der thiere fest und peinigen sie nach kräften. die esel werfen sich auf die wespen nieder, um sie zu erdrücken, aber dabei springen die banden entzwei, womit die zugänge verschlossen waren. jetzt dringen die wespen überall ein, beißen stechen und quälen die esel so heftig daß diese rufen ‚wir unterwerfen uns wenn ihr uns nur wieder verlaßt‘.
[2]
Der zaunschlüpfer ward könig durch list, nicht durch tapferkeit, und ward über die andern vögel gesetzt, obgleich er der kleinste ist. als nemlich sich die vögel versammelt hatten, einen könig zu wählen, wurden sie einig, daß derjenige es werden solle, der am höchsten fliegen könne. der adler sprach ‚wer unter den vögeln kann sich mit mir vergleichen und wer ist schneller als ich?‘ der zaunschlüpfer aber dachte ‚ich will mich von ihm in die höhe tragen lassen‘ und setzte sich unter die flügel desselben. die vögel flogen auf und der adler stieg noch einmal so hoch als die übrigen. da rief er ‚ich bin der herr der vögel!‘ als der zaunschlüpfer sah daß der adler ermüdet war und nicht weiter konnte, nahm er alle seine kräfte zusammen und flog noch ein stück weiter in die höhe. so ward ihm der preis und er der könig der vögel.
Beide märchen sind genommen aus einer sammlung von thierfabeln, die der rabbi Baradja Nikdani oder Hannakdan in der zweiten hälfte des 13ten jahrhunderts in hebräischer sprache dichtete. sie erschien zuerst in Mantua 1557 und im jahr 1661 gab sie der jesuit Melchior Hanel zu Prag mit einer lateinischen übersetzung heraus. man findet darin die bekannten äsopischen fabeln, aber von einem nicht unbeträchtlichen theil lassen sich die quellen nicht nachweisen. daß darunter auch erzählungen aus dem munde des volks waren, wer sie nun zuerst aufgefaßt hat, läßt ihr schlichter, der lebendigen überlieferung gemäßer inhalt nicht bezweifeln. zu diesen gehören die zwei hier mitgetheilten thiermärchen, die bei Hanel s. 105 und s. 147 stehen. sie sind besonderer aufmerksamkeit werth, weil sie mit der noch heute unter uns umgehenden überlieferung offenbar in verwandschaft stehen, deren hohes alter dadurch nachgewiesen ist. der krieg der wespen und esel ist in dem hausmärchen 102 als krieg zwischen den vierfüßigen thieren und den vögeln dargestellt: der zug aber daß die wespe sich in das ohr ihres feindes setzt und ihn sticht kommt in einem andern (bd. 3, s. 82) vor. die list des zaunkönigs wird in nr. 171 nach einer meklenburgischen [3] und hanöverschen überlieferung erzählt, die aber auch in andern gegenden Deutschlands bekannt ist (vergl. Kuhns sagen und märchen 293. Mones anzeiger 1835. s. 313), und deren alter wahrscheinlich noch viel höher hinauf geht, als durch die äußern zeugnisse dargethan wird. der krieg der thiere unter sich wird so alt sein als die thiersage überhaupt.