Zwei „Philosophen“ in ihrer Einsamkeit

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Titel: Zwei „Philosophen“ in ihrer Einsamkeit
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aus: Die Gartenlaube, Heft 21, S. 335–336
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Friedrich Wilhelm von Hessen und Karl Gutzkow
Blätter und Blüthen
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[335] Zwei „Philosophen“ in ihrer Einsamkeit. Der Einzig-Eine, unser Altmeister Goethe, sang einmal:

„Wenn die Reben wieder blühen,
Rühret sich der Wein im Fasse.“

Was aber war es doch, was mir diese Verse so mit einem Male in den Sinn blitzte, als ich jüngst – es war in den letzten Tagen des Monats April – den vielbesprochenen Schatten seiner selbst sah, den entthronten Kurfürsten von Hessen? Aus Süddeutschland kommend, gelangte ich in die Stadt Hanau. Dort ließ mich ein Zufall in einer der wenigen sonnigen Stunden, die unserm diesjährigen „Wonnemonat“ vorausgegangen sind, an ein Gitterthor des Philippsruher Schloßgartens herantreten, als eben „der alte Herr“, von einer seiner Töchter begleitet, lustwandelte in den Gängen des Parks, umrauscht von dem jungen Laube der Birken und der Linden, die, mißmuthig über die böse Zeit, ihre alten Wipfel im Winde schüttelten. Serenissimus war lebhaft erregt; sein Auge leuchtete. War ihm der Frühlings-Lockruf der Drossel in’s Herz gedrungen, die dort auf der höchsten Spitze der Esche saß, stolz wie ein König auf seinem Throne? Oder hatte er dem Liede der Lerche gelauscht, die fröhlich über den grünen Kornfeldern der Kesselstädter Flur ihren Jubelsang erschallen ließ? „Der alte Herr“ hörte nicht das Rauschen der Linde, nicht den Ruf der Drossel und der Lerche; er sprach – vom Krieg. Er sprach von den Schlachten, die dem deutschen Volke schon wieder bevorstehen, und – das gerade ist das Schwere der Gegenwart – aus dem großen Chaos, das da zu drohen schien, lächelte ihm eine junge Hoffnung.

Obschon durch ein eisernes Gitterthor von ihm getrennt, stand ich doch dem weiland Selbstbeherrscher des Hessenländchen, dem gestürzten Nachkommen Philipp’s des Großmüthigen, so nahe, daß ich ihn fast mit den Händen hätte greifen können. Ich sah in sein Auge und habe die Bedeutung des einzigen Blickes, den ich erhaschen konnte, schwerlich falsch verstanden. Der Mann ist nicht mehr der Gefangene von Stettin, nicht mehr der Gebrochene, Vernichtete; wie unglaublich es unseren großen Diplomaten auch klingen mag: er hofft wieder. Auch damals habe ich ihn gesehen, als er, der Kriegsgefangenschaft entlassen, wieder frei in die Heimath ging. Damals meinte ich, der schwere Gang in das Altstädter Schloß zu Hanau werde nur noch sein Gang zum Grabe sein. Friedrich Wilhelm „der Erste“ schien mir damals völlig niedergedrückt, ja zerschmettert zu sein von der Schwere seines Schicksals. Seine Gesichtszüge waren schlaff, die Farbe seines Angesichts fast grau geworden. Der Nacken, den er sonst doch wohl gar stolz getragen haben mag, war gebeugt; die Schritte waren unsicher wie die eines lebensmüden Greises. Die Tochter, die auch dort – in Stettin – als opfermuthige Gefährtin und hingebende Pflegerin treu an seiner Seite stand, hatte ihm damals den Arm offenbar nur deshalb nicht gereicht, damit er nicht auch selbst an seine Hinfälligkeit erinnert werde. Wie aber ist es denn möglich, fragte ich mich jetzt, daß dieser Mann, dieser Gedemüthigte, dieser schon Sterbende so mit einem Male wieder jung geworden?

Wahrlich, es scheint so, und zwar nicht mir allein. Serenissimus hat sich die Regierungssorgen abgeschüttelt, sie sind ihm durch das Schicksal abgeschüttelt worden, und, befreit vom Eise der Regentenpflicht, trinkt nun „der alte Herr“ junge Lebenskraft in dem würzigen Dufte des Lenzes. So wenigstens erklärt man es sich in Hanau. Nicht, daß Serenissimus so ganz frei von Sorgen wäre, sagte man mir, oder daß er nicht jetzt noch tapfer arbeitete. Denn noch ist nicht Alles glatt zwischen ihm und dem Sieger; noch giebt es täglich Differenzchen und Differenzen zu ordnen und darunter selbst solche, die beim Ordnen nur immer größer werden. Auch in der Verwaltung seines Privatvermögens, in seinen Familienverhältnissen findet der Entthronte Beschäftigung in Hülle und Fülle. Eine Last aber ist ihm alles Das schwerlich. Hieß er doch, als er noch souveräner Herr war, in allem Ernste der fleißigste Mann Kurhessens. Niemals hat er das Regieren leicht genommen. Er hatte sich dabei allerdings seine höchsteigne Schablone, wenn man will, sein System gemacht und vielleicht war es gerade sein größter Fehler, daß er trotz allen Mühsalen, die ihm daraus erwuchsen, in der unglückseligen Meinung verharrte, es müßte so sein und ohne sein persönliches, sein unablässiges, ja geradezu halsstarriges Eingreifen in Alles, selbst in das Kleinste, werde die Staatsmaschine still stehen. Aber indem er Alles und Jedes in seiner eigenen Manier zum Verzweifeln pünktlich und einseitig genau nahm, wurde er durch sein Arbeiten die Ursache des Stillstandes. Seine Rathgeber, nicht selten Männer ohne Charakter, suchten ihrer großen Mehrzahl nach diesen Uebelstand nicht immer mit ehrlichen Mitteln zu bewältigen. Die landesherrlichen Entschließungen, die man sich nicht durch kühne Energie zu erkämpfen, dem „allergnädigsten Herrn“ nicht ehrlich abzutrotzen vermochte, suchte man nicht selten zu erlisten oder wohl gar zu erschwindeln. Man ließ ihn befangen bleiben in irrigen Voraussetzungen, wenn man der Meinung war, sie seien geeignet, die Schwergeburt seines Entschlusses zu fördern, und man verheimlichte Anderes, was er auf alle Gefahr hin hätte wissen müssen. Daß der so Betrogene alsdann doch nur allzu oft hinter den Schwindel und hinter die List kam, machte ihn natürlich eigensinnig und mißtrauisch; machte ihn als Regenten so, wie ihn die Welt jetzt kennt. Ich will in dieser Beziehung keine Charakteristik versuchen; er büßt die Schwere des Wortes, daß es bis hin zu den Thronen nur selten einen Weg giebt – für die Wahrheit. Wohl mag sie Serenissimus jetzt gar manchmal hören, aber zu spät!

Doch ich wollte ja nur den Blick zu deuten versuchen, der in den Augen des Alten leuchtete, als den Lippen das Wort „Krieg“ entschwebte. Sah mir doch dieser Blick entschieden nicht darnach aus, als wenn Kurfürst Friedrich Wilhelm von Hessen an sein „Zu spät!“ schon glaubte. Noch blühen die Reben nicht, die hier und da auch im Philippsruher Parke grünen, aber bei dem Alten selber wirkt der Kriegsrumor (und in jenen Apriltagen war dieser gar besonders laut) wie die Rebenblüthe auf den Wein im Fasse.

Noch einmal ging „der alte Herr“ an mir vorüber; er sprach jetzt nicht mehr vom Krieg. Er trat sinnend zu einer Frühlingsblume heran und betrachtete lächelnd die goldenen Flügeldecken des Hollunderkäfers, der glänzend im Blüthenkelche saß, unbekümmert um den Sturm, der hoch über ihm die Wipfel der Linde zauste. „Der alte Herr“ war jetzt wieder ganz derselbe, als welchen ihn die Zeitungen neuerdings zu schildern pflegten, wenn sie von ihm erzählten, daß er nur noch fleißig spazieren gehe, lache und scherze, im Theater ungewöhnlich heiter sei und auf den Straßen menschenfreundlich mit den Kindern plaudere, als wenn er niemals auf einem Throne gesessen hätte. Er war jetzt ganz der „Hanauer Philosoph“, dem noch vor Kurzem auf dem ganzen Erdenrund auch nicht eine Seele das Philosophiren hätte zutrauen mögen.

Auch ich vergaß jetzt den Krieg und ging weiter. Zu meiner Linken die niedrigen Häuser Kesselstadts, jenes Dörfchens, das in Wahrheit eine Vorstadt Hanaus ist. Zu meiner Rechten der hochangeschwollene Mainstrom. Die Wogen schäumten und brausten. Sie kamen mir wahrlich weit weniger pfützenhaft vor, als man sie jüngst in meiner norddeutschen Heimath zu schildern versucht hat. Mancher Held, der kühn in Worten schwimmt, möchte schwer erschrecken, wenn er jetzt einmal versuchen sollte, sich keck hinüber zu rudern. In allerlei Gedanken vertieft, die sich an diese Betrachtung knüpften, wandelte ich auf und ab am Strome. Da huschte plötzlich ein goldgelocktes Kind an mir vorüber, leicht und lieblich wie eine Elfe. Sie sprang fröhlich-wild über das bunte Seil, das sie eifrig mit beiden Händen schwang, und war dabei ganz so rasch verschwunden, wie sie gekommen war. Und doch, ich konnte das Gesicht dieser Kesselstädter Kleinen so wenig vergessen, wie das des Hanauer Philosophen. Mir war, als hätte ich auch in den Zügen des Kindes das Antlitz eines alten Bekannten, den Blick eines Philosophen wiedergefunden. Eine schöne Stirn, eine feine, aber kühn geschnittene Nase, unter den festgeschlossenen Lippen ein scharf hervortretendes Kinn – Alles zart-kindlich und weiblich und doch so erinnerungsvoll? Ja, sie konnte mich wohl erinnern; sie war die Tochter noch eines anderen Hanauer Philosophen: ich stand vor dem Gartenhause Karl Gutzkow’s; die Kleine, die ich gesehen hatte, war eines von seinen Kindern. Aber der ewig ringende, gestaltende, schaffende Philosoph dort im Gartenhause läßt jetzt weniger von sich erzählen, als sein vielbesprochener College im Schloß. Auch der Philosoph des Gartenhauses hat sich einen Thron gebaut, aber nur einen geistigen, der nicht einstürzt. Und noch immer – nach einem schweren Schicksal dem Leben auf’s Neue zurückgegeben – bevölkert er sein Reich mit lebendigen, lebenskräftigen, unsterblichen Gestalten: der Ritter vom Geiste entsendet seine Ritter, aber auf der Fahne, unter welcher sie kämpfen, steht der Sinnspruch der Kunst: Bildung, Friede, Freiheit.

Das Häuschen, in welchem Gutzkow wohnt, liegt nur wenige Schritte vom Main entfernt. Es gehört schon zu Kesselstadt, nicht mehr zu Hanau. Die dunklen Tannen, die Birken und Ahornbäume eines kleinen Gartens verstecken es so vollkommen, daß Hunderte vorübergehen, ohne es nur zu sehen. Es liebt die Einsamkeit wie sein stiller Bewohner, der nur selten sichtbar wird, um allein oder mit seinen Kindern die Stadt zu besuchen. [336] Nur Kunstgenossen und Mitglieder, nur alte, Freunde kommen mitunter zu ihm; nur Vertraute verkehren mit ihm. Wer ihn aber heimsuchen darf, der findet immer einen gastlichen Wirth, einen freundlichen Bekannten, einen mittheilsamen Gelehrten, einen unermüdlichen Arbeiter. Und auch das Häuschen sieht drinnen im Garten weder so klein noch so versteckt aus, wie es von außen erscheinen mag Es gewährt den freien Blick auf den Main, den Blick hinüber auf die malerischen Thürme von Steinheim, hinüber in die blauen Berge des Freigerichtes, des Baierlandes. So sieht Gutzkow die schwere Arbeit der deutschen Nation noch immer unvollendet zu seinen Füßen liegen. Hier den trennenden Strom und die schwarzweißen Grenzpfähle; dort die bescheideneren roth- und blauweißen; nirgend die alleinigenden, ewig hehren, schwarzrothgoldenen. Aber noch liegt ja, wie die schwere Sorge um das Unfertige und Zerbröckelte, so auch der volle Tag vor uns; auf denn, du mein deutsches Volk, an die Arbeit!