Zwanglose Blätter/Vom Bücher- und Zeitungstische
Vom Bücher- und Zeitungstische.
Wir müssen so frei sein, unseren Lesern gleich an der Spitze dieser Nummer zu bemerken, daß wir uns für den Kreis unserer Besprechungen nicht durch den landläufigen Begriff von „Novitäten des literarischen Marktes“ beschränken lassen. Neu ist für das große Publicum nicht blos Das, was soeben die Presse verlassen, sondern gar Manches, das schon Jahre lang im Buchladen liegt, ohne ihm im richtigen Lichte vor Augen geführt oder, wenn es der Ehre werth ist, an’s Herz gelegt worden zu sein. Es ist schon viel gutes Aeltere von minder gutem Neuesten verdrängt worden: auch gegen dieses Unrecht hat eine ehrliche Kritik auf der Wacht zu stehen. [348 b] und dabei die gründlichste Kenltmiß der französischen Sprache und Literatur bekundet: er war Mitarbeiter an einer historischen Revue in Nantes, an einer literarischen Wochenschrift in Tours und hat einen interessanten Aufsatz über das savoyer Volksthum in der Pariser „Illustration“ veröffentlicht. Die Schwächen und Gebrechen der französischen Literatur und Bildung aber, die das Pariser Literatenthum nicht sieht oder nicht sehen will, hat der Fremde gesehen und offen dargelegt. Seine Vergleichung der Literatur der französischen Schweiz mit derjenigen Frankreichs ist somit für Alle unentbehrlich, die sich mit moderner Literatur beschäftigen; es ist das erste Werk, das über diesen Gegenstand geschrieben ist.
„Meine Sonntage. Rückblicke und Erinnerungen. Herausgegeben
von Clelie Betemann.“ (Leipzig, Ambrosius Abel.) Ein wahrhaft
herzerquickendes Buch! Noch selten haben wir die Erzählung der Schicksale
an sich nicht als etwas ganz Besonderes hingestellter Personen und der
Entwlckelung durchaus nicht überraschender Verhältnisse so sinnig
eingeleitet und durchgeführt und so bescheiden und wie sich von selbst
ergebend auf die Erziehung zum Edlen hinstrebend gefunden. Die alte
Tante dieses Buchs ist eine Seelenverwandte jener alten Coburger Tante,
deren „Altfränkische Bilder und Geschichten“ aus ihrem Erinnerungsschatz
wir im Jahrg. 1882 der „Gartenlaube“ (S. 818) gepriesen haben, nur daß
diese uns ein Stück wahrer Lebensgeschichte und jene eine Geschichte aus
dem wahren Leben erzählt. Ein Geschwisterpaar, Friedrich und Therese,
haben, früh verwaist, erst beide die Lehrlaufbahn betreten, er als
Hauslehrer, sie als Gouvernante; beide sind in innige Beziehungen
zu ihren edlen Herrschaften gekommen, Friedrich hat einen kurzen
Liebesfrühling erlebt, den der Tod endete; die Heilstätte für sein
Leid ist das Pfarrhaus in einem armen Walddorfe, dorthin folgt
ihm die Schwester, um „Jungfer Pastor“ und endlich die
„Stricktante“ für alle Dorfkinder zu werden. Trotz ihrer bescheidenen Mittel
nehmen sie zwei noch Aermere in ihr Haus auf: das „Heinerle“ und seine
Großmutter. Heinrich wird der Liebling, das Kind der Geschwister. Sie
lassen ihn sogar studiren; er wird ein tüchtiger Arzt. Als solcher geht
er 1870 mit in den Krieg, und wir erfreuen uns hier derselben
Begeisterung dieser Tante für die Heldenthaten der deutschen Heere, wie
die Coburger Tante uns durch lhre Begeisterung für den Befreiungskrieg
entzückt hat. Heinrich wird der Lebensretter eines hohen Officiers,
welcher der Gatte der ehemaligen Schülerin und nun treuen Freundin
seiner Schwester ist. Zwischen der Tochter desselben und dem jungen
Arzte spinnt sich ein Herzensfaden fest, – die Schranke des
Standesunterschieds bannt beide, bis der Vater selbst es rühmt, daß eine Prinzessin
die Gattin des Dr. Esmarch geworden. Die Schranke fällt und der
Jubel der Tochter: „Er liebt mich! Er begehrt mich! Er lebt für mich!“
deutet auf das schöne Ende der Erzählung hin.
Aber wie erzählt dies die Tante! „Wenn die Abendstunden des Sonntags kommen“, wird ihr Herz von wohlthuenden Gefühlen sanfter Rückerinnerung durchzogen – und da schreibt sie nieder, was von den Bildern des vergangenen Lebens ihr inneres Auge schaut. Aber – „ich habe zu lange ein Pfarrhaus bewohnt“, sagt sie, „um nicht vertraut geworden zu sein mit den Bezeichnungen der Sonntage, – denen die Anfangsworte der alljährlich wiederkehrenden Psalmen und Episteln ihre Namen gegeben. Von jeher habe ich mit meinen Gedanken und Ueberlegungen nicht ungern angeknüpft an diese – Stichworte.“ So ist es ihr nun auch beim Schreiben ergangen – und so theilt sich von selbst die ganze Erzählung in die zweiundfünfzig Sonntage des Jahres ein. Am Sonntag Misericordias Domini hat sie das „Heinerle“ zuerst gesehen und sich seiner erbarmt, – am Sonntag Jubilate freut sie sich des Tags, wo sie ihn und die Großmutter im Pfarrhause aufnahm etc. Wer goldne Worte lesen will, schlage S. 236 den Sonntag Judica auf! – Mit dem Ostersonntage schließt der Jahreslauf und die Geschichte. Unser Schluß aber lautet: Wer sich an einem solchen Buche nicht zu erfreuen vermag, für den ist es eben nicht geschrieben.
Musikalische Universal-Bibliothek. Unter diesem Titel erscheint seit
längerer Zeit in Leipzig, Verlag der Musikalischen Universal-Bibliothek
(R. Schmidt), eine Sammlung von Musikstücken für Pianoforte und
Gesang, die, wie schon der Titel sagt, auf denselben Grundsätzen basirt,
welche dem gleichnamigen literarischen Unternehmen, der im Laufe der
Zeit zu so überraschender Bedeutung herangewachsenen Reclam’schen
Universal-Bibliothek, zur Grundlage gedient haben: – eine Sammlung,
welche das Ziel verfolgt, der musikalischen Welt eine Gelegenheit zu
bieten, sich die besten Erzeugnisse aus dem musikalischen Gebiete auf eine
leichte Weise zu verschaffen und sich so nach und nach eine Hausbibliothek
anlegen zu können, die allen Ansprüchen der Billigkeit, der sorgsamen
Auswahl und der Mannigfaltigkeit Genüge leistet.
Wenn wir erst jetzt dazu kommen, ein empfehlendes Wort über diese Bibliothek zu sagen, so hat dies seinen Grund darin, daß wir das Erscheinen einer größeren Anzahl von Nummern abwarten wollten, um einen klaren Ueberblick über Anlage und Plan dieser wirklich volksthümlichen Sammlung zu bekommen. Nachdem nunmehr gegen 100 Nummern ausgegeben sind, können wir sagen, daß die Idee, aus welcher das Unternehmen hervorgegangen ist, als eine glückliche bezeichnet werden kann und daß es der Verlagshandlung allem Anscheine nach wirklich darum zu thun ist, für einen unglaublich billigen Preis (die Nummer kostet ohne Rücksicht auf den Umfang nur 20 Pfennig) dem Publicum etwas Gediegenes und Geschmackvolles zu bieten. Die Auswahl ist eine mustergültige, das Programm überaus reichhaltig und das Arrangement in jeder Hinsicht gut. Neben dem deutschen Lied, das mit Recht einen hervorragenden Platz in der Sammlung einnimmt, begegnen wir Tänzen, Märschen, nationalen Hymnen und Weisen etc. sowie nicht minder auch den klangvollsten Namen auf dem Gebiete der Tonkunst, wie Bach, Beethoven, Haydn, Mendelssohn, Mozart, Schubert, Weber, Chopin und Anderen.
Wenn nun auch zugegeben werden muß, daß wir schon viele billige Ausgaben von Musikalien besitzen und namentlich in der Richtung, die Classiker der Musik dem Volke zugänglich zu machen, Großes geleistet worden ist, so liegt doch der Vortheil und das Angenehme der Musikalischen Universal-Bibliothek darin, daß eben jedes Stück einzeln käuflich ist und man nicht stets, wie bei den anderen billigen Ausgaben, eine ganze Sammlung nehmen muß, daß die Auswahl eine leichte und übersichtliche ist und Jeder das seinem Geschmack und Können Entsprechende herausfinden und für wenige Pfennige erwerben kann. Außerdem beschränkt sich aber die Bibliothek nicht darauf, nur Bekanntes zu bringen, sondern sie zieht auch in der Masse der Erscheinungen Verschwundenes und im Laufe der Zeiten mit Unrecht Vergessenes wieder an’s Licht und räumt besonders dem echt nationalen Volkslied (wir machen nur auf die schönen Lieder aus Steiermark aufmerksam) einen Platz ein und wird, wenn sie fortfährt wie begonnen, was wir hoffen, mit der Zeit eine Universal-Bibliothek im wahrsten Sinne des Wortes und ein Schatz für jeden Musikfreund werden.
Hermann Hettner’s Morgenroth. Von Jacob Moleschott
(Gießen, Emil Roth). Ein Jugenddenkmal alter Freundschaft. Freilich
werden nur diejenigen, welche mit den beiden Männern jung waren und
alt geworden sind, den ganzen Zauber der vollendeten Lebenswahrheit in
dem Bilde jener bewegten Zeit von 1847 bis 1850 auf sich einwirken
lassen können, aber lernen kann die spätere Generation doch aus dem
prächtigen Buche sehr viel über jene Tage, in deren Darstellung noch
immer Licht und Schatten wild durch einander fließen, weil der politische
Parteigeist bis heute an derselben mitarbeitet. Die Bezeichnung
„Morgenroth“ bezieht sich jedoch vor Allem auf das wissenschaftliche Streben der
beiden damals erst dem Jünglingsalter entwachsenen Männer. In wie
liebevoller Weise schildert uns Moleschott die Entstehung, den Fortgang
und den Inhalt von Hettner’s erstem Buche, der „Vorschule zur bildenden
Kunst der Alten“, dessen Vollendung der weise Vater seiner Braut, Maria
von Stockmar in Coburg, als Bedingung für die Verbindung beider
aufgestellt hatte! Seitenweise theilt er uns die glänzendsten Stellen desselben
mit und bedauert schließlich noch, daß er nothgedrungen abbrechen müsse.
Mit den damaligen bedeutenden Männern und Frauen in Heidelberg, wo
das „Morgenroth“ Hettner’s und Moleschott’s aufging, lernen wir viele
bis in ihre Häuslichkeit kennen, namentlich tritt uns „der alte Schlosser“
in ganzer Gestalt entgegen. Die politischen Streiflichter auf jene und
unsere Zeit (besonders Seite 49) verdienten an maßgebender Stelle wohl
beachtet zu werden. Nachdem der Verfasser auch Hettner’s zweites noch
in Heidelberg vollendetes Werk: „Die romantische Schule in ihrem
Zusammenhang mit Goethe und Schiller“, in gleicher Weise wie das erste uns vor Augen geführt, kommt die Scheidestunde, die Hettner nach Jena
ruft, und damit das Verglühen des „Morgenroths“, der Abschied Moleschott’s
von dem Freunde und das Ende eines Buches, das wir nicht warm
genug empfehlen können.
Als empfehlenswerth und zum Theil künftiger Besprechung vorbehalten, haben wir von den uns vorliegenden älteren und neuesten Erscheinungen zu nennen:
Ludwig Nonne’s Romane (Georg Dipaod, Aus vergangenen Tagen [Der Frohnhof und Auf der Landwehr], Georg von Frundsberg und der Bürgermeister von Rothenburg, sämmtlich Gotha, F. A. Perthes.).
Adolf Brennecke, Um Paris herum, eine Erzählung aus großer Zeit (Zürich, Cäsar Schmidt).
Karl Stelter, Aus Geschichte und Sage, Erzählende Dichtungen (Elberfeld, Bädeker).
Lyrisches: Anna Stirn, Haideblumen, 3. Aufl. (Kassel, Ernst Hühn); Lilly Uhrlaub, In einsamen Stunden (Stuttgart, E. Greiner); Rosa Baruch, Gefesselt (Wien, Leutgeb); E. R. Neubauer, Die Ideonen, ein Gedicht in 50 Liedern (Hamburg, J. F. Richter); Karl Schäfer, Haiderosen. 2. Aufl. (Darmstadt, Liter.-artistische Anstalt); Rasario, Streusand (Parchim, H. Wehdemann); August Sturm, Auf Flügeln des Gesanges (Neuhaldensleben, A. Besser).
Episches: Wilh. Reif, Von Sedan bis Java. Ein Menschenleben (Meiningen, Keißner); Anton Ohorn, Die Madonna, eine Künstlernovelle in Versen (Stuttgart, Levy und Müller); Heinrich Seitz, 1) Anton Greiner, ein Sang vom Thüringer Schneekopf, 2) Reinhardsbrunn, eine Mär vom Wald (Hildbnrghausen, Kesselring).
Dialektpoesie: Julklapp, Leeder un Läuschen v. Gaedertz, Hambarg, J. F. Richter); Heinrich Kloth, De Landrathsdochder. En Geschich ut östlich Holsteen (2 Bände. Kiel, Lipsius und Tischer); Professor O. Sutermeister, Schwizer-Dütsch. (Zürich, Orell Füßli u. Comp.); Ete Jörnsen und A. Kues, De Eekbom. Zeitschrift (Berlin).
Dr. Heinrich Beitzke’s Geschichte der deutschen Freiheitskriege in den Jahren 1813 und 1814. Vierte neu bearbeitete Auflage von Dr. Paul Goldschmidt. 2 Bde. (Bremen, M. Heinsius.)
Dr. C. Beyer’s Deutsche Poetik. Theoretisch-praktisches Handbuch der deutschen Dichtkunst. 2 Bde. (Stuttgart, G. J. Göschen.)
G. Huyssen, Die Poesie des Krieges und die Kriegs-Poesie. (Berlin, J. H. Maurer-Greiner.)
Ed. de la Fontaine, Luxemburger Sitten und Bräuche. (Luxemburg, Joh. Beffort.)
Ida Klein, Novellen und winzige Sächelchen. (Prag, Heinrich Mercy.)
K. E. Franzos, Deutsches Dichterbuch aus Oesterreich. (Leipzig, Breitkopf u. Härtel.)
Dr. Otto Lyon, Minne- und Meistersang. (Leipzig, Th. Grieben, [L. Fernau])
Die Luther-Schriften bleiben der Besprechung für die Jubiläumsfestzeit vorbehalten.