Zusammenkunft der Todten
Zusammenkunft der Todten.
Mündlich, aus Hessen. |
Eine Königin war gestorben und lag in einem
schwarz ausgehängten Trauersaal auf dem Prachtbette.
Nachts wurde der Saal mit Wachskerzen hell erleuchtet
und in einem Vorzimmer befand sich die Wache:
ein Hauptmann mit neun und vierzig Mann. Gegen
Mitternacht hört dieser, wie ein sechsspänniger Wagen
rasch vor das Schloß fährt, geht hinab und eine in
Trauer gekleidete Frau, von edlem und vornehmem
Anstande, kommt ihm entgegen und bittet um die Erlaubniß,
eine kurze Zeit bei der Todten verweilen zu
dürfen. Er stellt ihr vor, daß er nicht die Macht
[442] habe, dies zu bewilligen, sie nennt aber ihren wohlbekannten
Namen und sagt, als Oberhofmeisterin der
Verstorbenen gebühre ihr das Recht, sie noch einmal,
eh sie beerdigt werde, zu sehen. Er ist unschlüssig,
aber sie dringt so lange, daß er nichts schickliches mehr
einzuwenden weiß und sie hineinführt. Er selbst, nachdem
er die Thüre des Saals wieder zugemacht, geht haußen
auf und ab. Nach einiger Zeit bleibt er vor der Thüre
stehen, horcht und blickt durchs Schlüsselloch, da
sieht er, wie die todte Königin aufrecht sitzt und leise
zu der Frau spricht, doch mit verschlossenen Augen
und ohne eine andere Belebung der Gesichtszüge, als
daß die Lippen sich ein wenig bewegen. Er heißt die
Soldaten, einen nach dem andern, hineinsehen und jeder
erblickt dasselbe; endlich naht er selbst wieder, da
legt sich die Todte eben langsam auf das Prachtbett
zurück. Gleich darnach kommt die Frau wieder heraus
und wird vom Hauptmann hinab geführt; dieser fühlt,
indem er sie in den Wagen hebt, daß ihre Hand eiskalt
ist. Der Wagen eilt, so schnell er gekommen,
wieder fort und der Hauptmann sieht, wie in der Ferne
die Pferde Feuerfunken ausathmen. Am andern
Morgen kommt die Nachricht, daß die Oberhofmeisterin,
welche mehrere Stunden weit auf einem Landhause
wohnte, um Mitternacht und gerade in der Stunde
gestorben ist, wo sie bei der Todten war.