Zur Erinnerung an Hedwig Reicher-Kindermann
Zur Erinnerung an Hedwig Reicher-Kindermann.
Verrauscht, verklungen für ewig ist die herrliche Stimme, die mit ihrem süßen Wohllaut, ihrer unendlichen Kraft und Fülle Tausende von Herzen im Sturm erobert! Erde, kalte, feuchte Erde deckt die hohe Gestalt unserer Reicher-Kindermann, keine geliebte Heimatherde, sondern fremde: der Adria sonnig blauer Himmel wölbt sich über ihrem Hügel.
Wer nur einmal mit dieser wunderbaren Frau persönlich verkehrt hat, dem wird es schwer, an ihren Tod zu glauben, eine solche Lebensfülle und Gefühlsmächtigkeit trat Jedem mit ihr entgegen. Man kann sich eben das hohe schöne Weib nicht todt denken, und doch reden’s uns alle Zeitungen seit dem 2. Juni täglich vor, und die Nachrufe und Erinnerungen haben noch heute kein Ende. Um so mehr zieht uns nun Alles an, was aus ihrem Leben erzählt wird. Und gerade weil ihr großer öffentlicher Künstlerlebensgang nur eine kurze Spanne von Jahren umfaßt, geht man gern ihrer früheren Vergangenheit nach, um den Ursprung ihrer Größe und die Quellen der Leiden zu erkunden, die beide sich in ihr Leben getheilt zu haben scheinen.
Hedwig Kindermann konnte die Anwartschaft auf ein glückliches Leben nicht augenscheinlicher in die Wiege gelegt werden. Sie war an Leib und Seele trefflich beanlagt und hochbegabt und vom Schicksal mit Eltern gesegnet, deren Bildung und Mittel geeignet waren, ihr den Pfad von der Kindheit bis zum Beruf so freuden- und hoffnungsreich wie möglich zu machen. Ihr Vater ist bekanntlich der berühmte Sänger August Kindermann in München; von der Liebe zu ihrer Mutter zeugen viele später veröffentlichte Briefe. Hedwig muß als Kind und Backfisch eine reizende Erscheinung gewesen sein in ihrer Anmuth, Kraft und Natürlichkeit. Es wird erzählt, daß, wenn sie mit der Küchenschürze geschmückt der Mutter am Herde half, ihre fröhlichen Lieder zum Küchenfenster herausschallten und die Leute auf der Gasse stehen blieben und lauschend sagten: „Das ist Kindermann’s Hedwig! Wie die singt!“ – Und doch soll, nach allen Berichten, der Vater erst durch den Professor an der Münchener Musikschule, Franz Wüllner, auf den Werth der Stimme seiner Tochter aufmerksam gemacht worden sein.
Er nahm sie nun in seine Schule und bildete sie so weit aus, daß sie, sehr jung schon selbstständig, die dornenvolle, aber durch den winkenden Lorbeer unwiderstehlich verlockende Künstlerbahn betreten konnte. Von da an beginnen Kampf und Leid und mit den Triumphen die Gefahren für das junge Leben. Wer die Energie anerkannte, durch welche die entzückende Soubrette sich bis zur höchsten Stufe ihrer Kunst emporrang und die Bewunderung aller Kunstenthusiasten in Deutschland, Oesterreich, England, Frankreich und Italien bis zur Vergötterung zu steigern vermochte, der darf auch nicht vergessen, daß dieselbe Gewalt der Seele, mit welcher sie die peinigendsten körperlichen Schmerzen bezwang, wenn die Pflicht ihrer Kunst es forderte, auch im Dienst ihrer Leidenschaften stand.
Von diesen körperlichen Schmerzen schildert uns ein Beispiel die langjährige Freundin Hedwig’s, Adelheid Bernhardt, in ihrem inhaltreichen „Erinnerungsblatt“[1] S. 7 wie folgt:
„In München (wo Hedwig zuerst an der Hofbühne auftrat) war es auch, wo ihr Leiden begann, denn in den wenigen Wochen unseres Zusammenseins litt sie fast täglich an den entsetzlichsten Krämpfen. Ich erinnere mich eines Abends gegen fünf Uhr, daß sie von Krämpfen befallen wurde. Ich war allein mit ihr und der Aufwartung. Gegen sonstige Anfälle war sie diesmal merkwürdig [489] ruhig zu leiten, denn oft gehörte die Gewalt von vier Personen dazu, um sie vor einem Sprung aus dem Fenster zu schützen. Diesmal legte sie sich unbewußt auf das Bett, ich öffnete die Fenster, um Luft hereinströmen zu lassen, nachdem ich sie genügend verstellt, und schickte zu Herrn Baron von Perfall, um die Oper abzusagen, da sie ‚Amneris‘ singen sollte. Sie hörte dies und sagte: ‚Nein, Adelheid, ich werde singen.‘
Sie sang wirklich, und so wunderbar hinreißend, wie ich sie nie wieder gehört; jeder ihrer Töne zog mich mächtig zu ihr hinauf; seit jenem Tage war es mir klar, daß solcher Gesang noch ganz Deutschland in Bewegung setzen müsse.“
[489][489] Und so ist es denn auch geschehen. Doch begann ihre große Zeit erst mit ihrem Auftreten bei den Bayreuther Festspielaufführungen 1876, wo sie in der obwohl untergeordneten Partie der „Erda“ im „Rheingold“ eine so Alles bewältigende Meisterschaft bewies, daß ihr Beruf, die vollkommenste Darstellerin der Wagner’schen Schöpfungen zu werden, von diesem Augenblick an bei allen Fachmännern feststand.
Jetzt regten sich auch die Bewerbungen um sie. Zunächst folgte sie einem Rufe Pollini’s an das Hamburger Stadttheater. Im Jahre 1848 finden wir sie am Hofopernhaus in Wien, und dort drückt die Nachricht vom Tode ihrer Mutter sie tief darnieder. Von dort schrieb sie am 15. Juli, ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstage, an Adelheid Bernhardt: „Ich muß furchtbar viel studiren, da ich sehr ehrenvolle Anträge nach London und Petersburg, sowie nach Mailand (Scala) und Paris an die Große Oper habe. Natürlich muß alles italienisch studirt werden. Aber ich ersinge mir halt ein Vermögen und schlage Capital aus dem Talent, welches mir vom Schöpfer verliehen ist.“
Der schöne Traum! Als ob die für jede Bitte immer offene Hand dieser Künstlerin je zum Dienste des Mammon hätte geeignet sein können!
Schon im September desselben Jahres datiren ihre Briefe wieder aus München, wo sie abermals mit ihrem Vater vereinigt ist. Ihn singen zu hören und heimlich ihm Kränze zu werfen, ist ihre höchste Lust. - Aber auch neue dunkle Schatten treten jetzt auf. „Ich werde Dir,“ schreibt sie an die Freundin, „in Form eines Tagebuchs mein ganzes Leben beschreiben, all meine Erfahrungen und Enttäuschungen, und Du wirst staunen. In der einfachen, wahren Erzählung wirst Du einen Roman finden. Noch [490] ist mir das Schlimmste nicht widerfahren! Ich muß noch immer erwarten, daß mich ein entsetzlicher Schlag trifft, den ich nur ahne, vor dessen Eintreffen ich aber jetzt schon zittere.“
Welcher Schlag dies sein könne, läßt aus späteren Briefen an Adelheid Bernhardt sich nur ahnen. Hedwig hatte, noch sehr jung, sich mit Reicher, Schauspieler am Gärtnerplatztheater, vermählt, eine Ehe, die ihren Vater in Sorgen und Trauer versetzt haben soll. Sie gebar einen Sohn, ihren „Franzl“, an dem sie mit aller Liebe ihres leidenschaftlichen Herzens hing bis zu ihrem letzten Augenblick. Während dieser Münchener Zeit ist noch kein Schatten über ihrer Ehe zu bemerken. Sie schreibt um diese Zeit an die Freundin: „Seit ich von meinem theuren Mann fort bin, lebe ich nicht mehr, ich vegetire nur!“ Später (im December) meldet sie: „Mein Manderl hat Engagement in Weimar, Erfurt, Eisenach. Ich bin sehr glücklich darüber.“ Im Januar 1879 schreibt sie: „Ich trachte jetzt einen zehnjährigen Vertrag zu erhalten mit Gatten und mit zwei oder drei Monaten Urlaub.“ Und im Juni 1879: „Wirke für meinen Mann eine schöne Stellung aus, Berlin, Leipzig, Dresden, dadurch machst Du mich glücklich.“
Schließlich (wohl 1882) wurde die Ehe doch getrennt, aber so wunderliche Herzen waren beide, daß sie kurz nach der Scheidung den Wunsch gehegt haben sollen, nach einem Jahre still sich wieder zu vereinigen. Das Kind war durch das Gericht dem Vater zugesprochen worden; doch davon später.
Aus den Münchener Briefen müssen noch einige für die Kenntniß von Hedwig’s Seelenleben bedeutende Stellen hier mitgetheilt werden. Am 8. December 1878 schreibt sie der Freundin: „Baron von Perfall ist mir der gütigste Vater. Er hat mich in sein Herz geschlossen, weil er mich kennt, und er hilft mir aus meiner schlimmen Lage! – Ich vergesse es ihm nie! Ewig werde ich ihm dankbar dafür sein! Ich reiche ihm meine Kunst dafür, es ist ja das Einzige, was ich wirklich mein nennen darf.“
Ein glücklicher Augenblick dictirte ihr (am 28. Juni 1879) die Worte: „Meine Ortrud ist mit kolossalem Erfolge vorbei, ich habe schön gesungen, gespielt und ausgeschaut, so sagt man mir wenigstens.“
Aber nur zwei Tage später eröffnet sie uns einen erschreckenden Einblick in ihr Inneres: „Meine Ortrud-Leistung,“ meldet sie der Freundin, „ist Seiner Majestät durch seinen Secretär und Regierungsrath Bürkel bekannt gemacht worden, ich bin heute zu Bürkel bestellt und stürze mich tout-de-suite en grande toilette. Wie gut, daß ich noch hier bin und höchstwahrscheinlich hier bleibe, obwohl ich schwere Ahnungen habe und die Folgen dieses Hierbleibens eine unabsehbare Reihe von Kummer und Herzweh sein wird. Ich werde eine große Künstlerin werden, wenn ich so weiter meinem inneren Leben folge, ich werde die Mitmenschen durch die Gewalt meiner Töne, durch das Gefühl hinreißen, begeistern, mein Herz aber wird von eben diesen Menschen zerrissen. Ich weiß, daß Du mich für närrisch hältst, nachdem Du diesen Brief gelesen. Immer glauben die Leute dasjenige für wahnsinnig, was sie nicht mehr begreifen. Ich lasse nur meine Seele sprechen, bringe die tausend Stimmen zu Papier, die in mir sich mächtig hören lassen. Ich muß all meine Geistes- und Körperkräfte zusammenraffen, um nicht wieder meinen unheilvollen Geistern zu verfallen, die mich peinigen, verfolgen.“
Und abermals zwei Tage darnach: „Ich erwarte meinen Mann mit Franzl! Hab’ ich nur erst meinen Bubi wieder!“
Im October desselben Jahres ist Hedwig in Paris. „Ich bin im Begriff, eine große Karriere zu machen,“ jubelt sie am 29. Sie hatte beim Probesingen an der Großen Oper so gefallen, daß ihr ohne Gastspiel sofort ein Antrag gestellt wurde. „Ich habe einen dreijährigen Vertrag abgeschlossen, man lobt vor Allem meine auffallend schöne Aussprache im Singen!“ – Aber diese Stellung konnte sie so wenig antreten, wie die am 8. April 1880 von Mailand angezeigte, von wo sie schrieb: „Hier sitze ich als Cantatrice della Scala, engagirt für drei Saisons, im Frühjahr mache ich meine erste Tour nach Amerika, Buenos-Ayres für 60,000 Franken und Benefiz in fünf Monaten.“ Aus Gesundheitsrücksichten mußte sie alle diese lachenden Pläne aufgeben und nach München zurückkehren, von wo sie am 26. April der Freundin mittheilt, daß sie seit ihrer Pariser Reise an einem constanten nervösen Schmerz leide. „Ich litt unsäglich und habe buchstäblich seit October keine Nacht geschlafen, der Schmerz wuchs, der Zustand drohte verhängnißvoll für meisten Beruf zu werden.“ Trotz alledem blieb auch jetzt noch guter Rath von ihr unbeachtet, denn der Brief schließt mit den Worten: „Mein Doctor kommt, wenn er mich schreiben sieht, wird er böse!“ -
Wenige Monate später begrüßen wir sie in Leipzig. Hier, wo damals unter der Oberleitung Angelo Neumann’s die Oper zu seltener Kunsthöhe emporblühte, stieg auch Hedwig Reicher-Kindermann wie im Sturme zur Höhe ihrer Leistungsfähigkeit und ihres Ruhmes hinan. In kurzer Zeit hatte sich das ehrendste gegenseitige Verhältniß zwischen dem Publicum und ihr gebildet: sie belohnte die aufrichtige Bewunderung der Leipziger mit ihrer innigen Zuneigung und Liebe: ihre „große Familie“ nannte sie dieselben, und die Stadt war ihr so theuer, wie eine zweite Vaterstadt.
Nachdem unsere Künstlerin auf ihrem öffentlichen Lebensgange bis hierher geführt ist, gestatten mir nun die Leser, sie auch in die hiesige Häuslichkeit derselben zu führen, indem sie einem Besuche dorthin folgen. Bei einer solchen Größe sind auch kleine Beobachtungen ihrer Persönlichkeit und Umgebung der Theilnahme werth.
Vor mehr als Jahresfrist war es mir vergönnt, die nun geschiedene Künstlerin persönlich kennen zu lernen, und ihr Bild hat sich mir, sowie Allen, die sie gekannt, unauslöschlich eingeprägt. – Es war an einem Nachmittage des April vorigen Jahres, als ich mit meiner Freundin, die Frau Kindermann Grüße von einer ihrer Schwestern bringen sollte, an der einfachen, aber bekränzten Thür der Wohnung am Schletterplatz klingelte. Ein weißes Schild an der Thür zeigte die Inschrift: „Hedwig Reicher-Kindermann, Opernsängerin.“ Ein sauberes Dienstmädchen öffnete und ließ uns eintreten. In dem kleinen Vorsaal standen Schränke, auf denen eine Menge verdorrter Bouquets lagen. Das Mädchen führte uns in ein nicht sehr großes Zimmer, das in seiner originellen Drapirung der Wände mir unvergeßlich ist. Zahllose Lorbeerkränze schmückten das Heim der Künstlerin, sie bedeckten die Wände des Zimmers vollständig, hingen über dem Claviere und lagen auf demselben. Große Bilder der Künstlerin, sie als Isolde, Brunhilde, Carmen etc. darstellend, hingen an den Wänden, vom Lorbeer fast verdeckt, oder lagen auf Stühlen, eines lehnte sogar am Ofen. Blumen schmückten die Fenster, alles blühte und duftete.
Während wir noch unsere Umgebung betrachteten, ging die Thür leise auf, und Hedwig Kindermann erschien auf der Schwelle. Ein dunkelblauer Schlafrock, mit bunten Kanten verziert, umhüllte die hohe Gestalt. Das dunkle Haar war schlicht zurückgestrichen. Zuerst war die Künstlerin furchtbar stolz und unnahbar. Sie nötigte uns, Platz zu nehmen, und setzte sich dann zu uns. Ich saß dicht neben ihr und hatte Muße, denn ich brauchte ja die Grüße nicht zu bestellen, das schon gezeichnete Profil in der Nähe zu betrachten. Frau Kindermann hörte, zuweilen mit dem Kopfe nickend, ernst und schweigsam auf Das, was meine Freundin vorbrachte. Mir wurde dieser starren Ruhe gegenüber ganz unheimlich zu Muthe, und ich wäre am liebsten davon gelaufen. Wie bald änderte sich jedoch mein Sinn, denn plötzlich wurde sie eine Andere, ein ganz anderes Wesen, und ich saß, wie gebannt von der bezaubernden Liebenswürdigkeit der berühmten Sängerin, nun um so fester!
Ich wundere mich heute noch, woher Frau Hedwig Kindermann so plötzlich das Vertrauen nahm, mit dem sie uns, die ihr Fremden, von denen sie kaum den Namen wußte, nun in ihr Leben einweihte. Das Herz mußte ihr doch ganz voll davon sein, sodaß ein Ausströmen desselben ihr eine Wohlthat war. Vieles von dem oben Dargelegten, das mir freilich damals größtentheils unbekannt war, teilte sie nun so süß plaudernd, so offen und treuherzig mit, daß ich mich in eine ganz wunderbar gehobene Stimmung von Trauer, innigster Theilnahme und tiefer Ehrfurcht versetzt fühlte.
Sie erzählte uns mit ihrer tiefen, melodischen Stimme von ihrem guten Vater, ihrer todten Mutter, ihren Schwestern, ihrem Gatten und dem Kinde. Ihre Heirath mit Reicher erwähnte sie nur kurz, und ihre Stimme zitterte, als sie voll Wehmuth hinzufügte: „Mein Vater sagte damals zu mir: damit hast Du mir den größten Schmerz angethan!“
Am aufgeregtesten wurde sie, als sie von ihrem Kinde erzählte! Wie würde ich erst von ihrer Klage ergriffen worden sein, wenn ich damals schon den Brief gekannt hätte, den sie wenige [491] Tage vor unserm Besuch, während einer Gastspielreise nach Bremen, von dort an Adelheid Bernhardt geschrieben:
„Was wissen die Menschen, die meine Kunst bewundern, wie es in mir aussieht! Wer kann es begreifen, wenn ich beklatscht und bewundert da oben stehe, daß ich schlaflos die Nächte verbringe und nur eben mein Herzeleid mich der Kunst so voll und ganz in die Arme warf! Wenn nicht die liebevolle aufopfernde Pflege meiner jüngsten Schwester Toni wäre, wo wäre ich jetzt! Sie ist es, die mich dem verhaßten Leben erhalten hat – kann ich ihr's danken?! Du weißt, Adelheid, wie ich litt unter unseren Verhältnissen! Wie dem auch sei – ich schreibe Dir aufrichtig, wie ich fühle! Nie kann ich mehr hoffen, glücklich zu sein: Ich habe meinen Franzl verloren! Das ganze Weltall müßte zusammenstürzen, während ich diese Worte niederschrieb – Worte, welche der Ausschrei einer verzweifelnden, sich in Sehnsucht verzehrenden Mutter sind. – – Da hast Du mein Herz! So sehe ich aus, bedaure mich, wenn Du es vermagst.“
Dieser wilde Sturm des Schmerzes brach jetzt nicht wieder hervor. Sie erging sich in allerliebsten Erzählungen von ihrem „Bubi“, aber mit Thränen im Auge klagte sie wieder über die Trennung und seufzte tief auf : „Und ich habe mein Kind doch so sehr lieb!“ Mir wurde ganz weh um's Herz, und es hätte nicht viel gefehlt, so wäre ich ihr um den Hals gefallen und hätte ihr die Thränen weggeküßt.
Auch von ihrer schweren Krankheit im Centralhotel zu Berlin sprach sie, wo vier Aerzte das Bett der Typhuskranken umstanden hatten. Auf ihr kurz geschnittenes glattes Haar deutend, sagte sie lächelnd: „Das ist auch noch eine Errungenschaft jener schweren Zeit.“
So sprach sie noch viel, und aus Allem klang ihre große Herzensgüte, ihr mildes Urtheil und ihre begeisterte Liebe zur Kunst. „Es giebt ja oft Tage und Stunden, wo ich keine Silbe rede, aber wir Künstler sind einmal so, das muß eben unsere Umgebung ertragen lernen,“ sagte sie, als sie uns von der Güte ihrer Schwester Toni erzählte, die wir nun ebenfalls kennen lernten, denn sie kam in’s Zimmer und wandte sich so reizend naiv an die Schwester mit der Bitte:
„Hedwig, schenk’ mir zwanzig Pfennig!“
Hedwig lachte mit uns, befriedigte die Schwester und trug ihr noch auf, ja den Vogelbauer nicht zu vergessen. Sie bestellte ihr Haus noch, ehe sie ihre Reise nach England antrat!
Von London aus, wo sie als Brunhilde in „Walküre“ und „Götterdämmerung“, wie überall, unerhörte Erfolge erregt hatte, schrieb sie (am 26. Mai 1882) unter Anderem: „Das Neueste ist also, daß Neumann wahrscheinlich im October-November wieder hier und dann drei Monate in Amerika – New-York und Boston – sein wird. Trotzdem halte ich fest an meinem Vorhaben, nach Leipzig zurückzukehren. Denn mein Leipzig ist mir an’s Herz gewachsen und gäbe es nur ein Hoftheater, das ist München, wo ich wegen Papa gern wäre.“
Nach der Rückkehr von dieser Reise sollte sie doch nur gar zu bald ganz von Leipzig scheiden Der Abschied ist ihr schwer geworden. „Ach, jedes Blumentöpferl thut mir leid, was da bleibt, und ich muß fort!“ sagte sie, ihre schönen Blumen betrachtend.
Wir waren endlich aufgestanden und bewunderten die erstauliche Fülle der Lorbeerkränze. „Ja,“ sagte sie, „das ist auch mein Stolz.“ Und nun zeigte sie uns mehrere, die sie von ihr besonders theuren Personen oder bei besonders denkwürdigen Veranlassungen empfangen hatte, und schloß endlich lächelnd : „Ach, und da habe ich noch Körbe voll zu Hause.“
Eine nicht ganz gelungene Kreidezeichnung lehnte auf einem Stuhl, sie stellte sie als Isolde vor. Frau Kindermann erzählte uns, sie habe das Bild einem armen Schlucker für dreißig Mark abgekauft. Da aber manches auf dem Bilde nicht gut sei, so bessere sie es selbst aus. So war sie immer die Herzensgüte selbst! Man könnte davon unzählige Beispiele anführen, wie kein Armer ohne ein Mittagsbrod von ihrer Thür ging, wie sie einem armen Betteljungen fünf Groschen gab und dann entzückt ausrief: „Schauen’s nur das glückliche Gesicht, was der Jung’ macht!“
Und sobald schon mußte dies schöne Wesen sein Leben lassen! Seit diesem Besuche kann ich nicht an Hedwig Kindermann denken, ohne daß mir Schiller’s Vers vor Augen stände: „denn der Mächtigste von allen Göttern ist der Augenblick.“ Wenn je in erschütterndster Weise, hat sich die Wahrheit dieses großen Dichterwortes an Hedwig Kindermann dargethan. Sie lebte nur mit dem Augenblick: sie beherrschte ihn, wenn ihre Kunst es gebot, sie besiegte jeden Schmerz, wenn die Pflicht rief, sie errang ihre höchsten Triumphe durch ihre Herrschaft über den Augenblick; – aber ebenso gewaltig war der Sieg des Augenblicks über sie, wenn sie von der Bühne in’s Leben zurücktrat. Sie ließ sich vom Augenblick in den tiefsten Jammer wie zur äußersten Lust führen. Wohin er sie aber auch geführet, da hielt sie ihn fest. Ein solcher festgehaltener Augenblick der Freude war es, der sie nach ihrem letzten Triumph als Erda an jenem Abend in Triest beim „prächt’gen Krügel Pilsener“ in der tückisch schmeichelnden Mailuft gefangen hielt, bis der Schüttelfrost ihr den letzten Augenblick verkündete. Augenblicke um Augenblicke – aber die ihrer Kunst werden noch strahlen, wenn die andern längst verwischt sind.
Der Name Hedwig Reicher-Kindermann wird ewig in leuchtenden Lettern am Kunsthimmel prangen und weiter leben im Herzen Aller, die ihre bezaubernde Stimme gehört – ob auch der Leib zu Staub zerfällt, im Herzen Tausender bleibt Hedwig Kindermann ewig unvergessen.- ↑ „Erinnerungsblatt an Hedwig Reicher-Kindermann nebst deren Briefen an eine Freundin“. (Dresden. Commissions-Verlag von C. Pierson’s Buchhandlung. 1883.) Verehrern und Freunden der großen unglücklichen Sängerin ist dieses Schriftchen, dem wir die werthvollsten Mittheilungen verdanken, auf das Wärmste zu empfehlen.