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Titel: Zum Kleist-Jubiläum
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aus: Die Gartenlaube, Heft 42, S. 714
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[714] Zum Kleist-Jubiläum (10. October) sind zwei neue Ausgaben von Bühnendichtungen dieses bedeutendsten unter den Vertretern der romantischen Schule erschienen, welche wir als einen Beweis für das ungeschwächt fortlebende Interesse an dem genialen Dichter freudig begrüßen – Hermann Riotte’s Bearbeitung der „Penthesilea“ und Karl Siegen’s Ausgabe des „Zerbrochenen Krugs.“

Unter den Repräsentanten jener bedeutsamen Periode unserer Literatur, welche den Uebergang des Schiller-Goethe’schen Classicismus zur Romantik bezeichnet und deren leuchtendster Stern unser Heinrich von Kleist ist, hat wohl Keiner in weitesten Kreisen eine so liefgehende Sympathie gefunden wie gerade er. Nicht sowohl seine hervorragenden dichterischen Thaten, als vielmehr die wahrhaft erschütternden Schicksale seines persönlichen Lebens, welche gewissermaßen den unheimlich düsteren Hintergrund bilden, von dem sein poetisches Schaffen sich um so wirkungsvoller abhebt, haben sein melancholisches Haupt mit dem Glorienschein umgeben. Heinrich von Kleist, der Dichter sowohl wie der Mensch, ist im Bewußtsein seiner Nation längst zu einer romantischen Gestalt geworden, romantisch, wie seine Dichtungen selbst. Aber über den Schöpfer hat man die Geschöpfe vergessen. Abgesehen von „Käthchen von Heilbronn“ und allenfalls vom „Prinzen von Homburg“, sind Heinrich von Kleist’s Dramen nur einem kleinen Theile der Nation bekannt geworden. Wer kennt heutzutage „Die Familie Schroffenstein“, wer die „Hermann-Schlacht“ und die anderen dramatischen Schöpfungen unseres Dichters? Nur eine kleine Gemeinde. Um so verdienstvoller ist das Erscheinen der beiden oben genannten fleißigen und einsichtsvollen Bearbeitungen Kleist’scher Dichtungen. Sie kamen zur Jubiläumsfeier unseres Romantikers gerade rechtzeitig, um die deutsche Literatur- und Bühnenwelt auf den großen Namen eines Dichters auf’s Neue hinzuweisen, der gleich ausgezeichnet ist durch die Kraft und Kühnheit seiner dramatischen Gestaltungsgabe, wie durch die Größe und Eigenart seines excentrischen Naturells, der zugleich über echte Weihe des Gedankens und hinreißende Leidenschaft des Gefühls verfügt und, was die realistische Kraft seines dramatischen Schaffens und Bildens betrifft, den Ehrentitel eines deutschen Shakespeare nicht unwürdig trägt.