Zu Fuß um die Erde. Die Feldarbeiterkolonie Krinitza im Kaukasus
Zu Fuß um die Erde.
Eine Reise um die Erde ist heute nichts Seltenes mehr; läßt sich eine solche doch, wenn es auf Schnelligkeit ankommt, mit Zuhilfenahme aller Vorteile des modernen Verkehrs, von Blitzzügen und Schnelldampfern, in wenigen Monaten ausführen. Aber den Erdkreis zu Fuß zu durchwandern! Einem solchen Unternehmen haftet auch heute der Charakter des Unerhörten und Märchenhaften an. Wir haben daher mit nicht geringem Erstaunen und berechtigtem Kopfschütteln aufgeschaut, als wir im vorigen Herbst vom Verfasser des folgenden Wanderbriefs aus dem Kaukasus mitgeteilt erhielten, er habe die Absicht, von seinem Wohnort Riga aus eine Fußreise um die Welt anzutreten. Es geschah unter dem Eingeständnis, daß er selbst sich darüber klar sei, man müsse diesen Plan auf den ersten Eindruck recht gewagt, wenn nicht phantastisch finden. Aber er berief sich darauf, daß Friedrich Gerstäcker bereits in den vierziger Jahren es fertig gebracht habe, die Reise von Sidney nach Adelaide durch das unwirtliche Australien zu Fuß zurückzulegen, und daß ihm persönlich, der den größten Teil seiner Jünglingsjahre in nur wenig kultivierten Gegenden zugebracht habe, auf Grund seiner Erfahrungen eine auf 5½ Jahre berechnete Fußtour um die Welt am Ende unseres fortgeschrittenen Jahrhunderts gar wohl durchführbar erscheine.
„Schon mit 13 Jahren,“ fuhr er fort, „als ich noch das Gymnasium zu Pskow besuchte, habe ich in genau drei Tagen eine Entfernung von 140 Werst (151 Kilometer) zu Fuß ohne Schwierigkeiten überwunden; während zweier Jahre, die ich Seemann war, habe ich an mir die günstigsten Folgen einer von früher Kindheit an streng durchgeführten Abhärtungsmethode zu erproben Gelegenheit gehabt, und in fast 5 Jahren, die ich als Beamter (unter anderm auch an der transkaspischen Kriegsbahn unter General Annenkow) im Kaukasus und im Transkaspigebiet zubrachte, habe ich größere Fußtouren unternommen und auf denselben einen Teil des nördlichen Persiens, die Chanate Chiwa und Buchara und auch ein Stück von Turkestan kennengelernt. Augenblicklich zähle ich 29 Jahre.“
Der Reiseplan, den uns der unternehmungslustige Weltwanderer damals mitteilte, war aber folgender. Von Riga aus sollte der Marsch durch das europäische Rußland über den Kaukasus, weiter durch das nördliche Persien, durch Transkaspien, Buchara, Turkestan, die Kirgisensteppen, Sibirien (mit Berührung [299] einiger nördlicher Provinzen von China) nach Wladiwostok führen. Von dort wollte sich Herr von Rengarten nach Japan einschiffen, das er gleichfalls zu Fuß zu „durchqueren“ gedachte, um dann, eine Schiffsgelegenheit benutzend, den Westen von Süd-Amerika zu erreichen, von wo er sich nach einer nunmehr festzusetzenden Reiseroute an die Ostküste der Vereinigten Staaten begeben wollte. Von dort vermittelst eines der Lloyddampfer nach Lissabon gelangt, hoffte er über Spanien, Frankreich und Deutschland spätestens im Dezember 1899 – zum Abschluß des Jahrhunderts – wieder in Riga eintreffen zu können.
Was wir anfangs bezweifelten, ist inzwischen wirklich eingetreten, Herr von Rengarten ist an die Ausführung seines kühnen Planes geschritten und die interessanten Anfänge seines wagehalsigen Spaziergangs um die Erde liegen bereits hinter ihm. Nachdem er vor seinem Aufbruche aus eigenem Antrieb sich bereit erklärt hatte, über besonders merkwürdige Erlebnisse und Eindrücke, die ihm auf seiner Wanderfahrt zustoßen würden, der „Gartenlaube“ Bericht zu erstatten, hat er uns seitdem bereits wiederholt von den Fortschritten seiner Reise Kunde gegeben und dann auch in dem nachstehenden Aufsatz einen größeren Beitrag gesandt, von welchem wir annehmen dürfen, daß ihn unsere Leser, nachdem sie von dem Unternehmen im allgemeinen Kunde erhielten, mit doppeltem Interesse begrüßen werden. Die Redaktion.
Der Kaukasus ist so voller Kontraste wie wohl kein anderes Gebiet der Erde. Man wandert durch denselben wie durch eine riesenhafte Schaubude, in der dicht aneinander gereiht so wechselvolle Bilder beisammenstehen, wie sie keine Phantasie sich bunter denken könnte. Eben noch riesenhafte Steppen, dann wilde Hochgebirge; hier Repräsentanten eines Bauernstandes, wie ihn indolenter und einfältiger kein zweites Land besitzt, dort hinter dem Pfluge eine Intelligenz, wie sie nicht einmal die Theorien moderner Utopisten für ihre Zukunftsideale in Anspruch nehmen. Russen, Deutsche, Tschechen, Letten, Esten und alle die vielen heimischen Stämme – Christen und Mohammedaner, alles bunt durch einander, und diese Fülle von Sitten, Gewohnheiten und Gebräuchen, wie sie dieses Völkergemisch erzeugen muß, überragt in großartiger Schönheit eine Landschaft, wie man sie als Gegenstück zur öden Ukraine und als Entschädigung für die Monotonie derselben sich nicht prächtiger denken kann.
Es ist wahr, daß namentlich der von mir eingeschlagene Weg dem Ostufer des Schwarzen Meeres entlang reich an mannigfachen Beschwerden ist. Ich wandere ja schon seit fünf Wochen allein, nachdem mein Begleiter in Charkow zurückgeblieben ist, und daher habe ich meinen ganzen Vorrat an Wäsche, Schreibutensilien und Proviant für mich und meinen Hund auf den Schultern allein zu schleppen; doch wenn ich mühevoll ein Gebirge erklommen habe, wenn ich hoch oben von der goldenen Sonne beschienen stehe, dann ist im Nu alle Mühe vergessen, denn immer prächtigere Bilder entrollen sich vor meinen Augen.
Auch ist das Ueberschreiten der Flüsse, die einem mitunter bis unter die Brust reichen, kein absonderliches Vergnügen zur Winterszeit. In den Bergen liegt vielfach Schnee und ihnen entstammen ja diese jetzt eiskalten Gewässer. Doch auch hier hat die Wissenschaft ein Mittel ersonnen, um bei alledem den Körper gesund und widerstandsfähig zu erhalten, und das ist der Segen der wollenen Kleidung, wie sie den Theorien des Professor Jäger entspricht. Im Freien verbrachte Nächte während eines rauhen russischen Herbstes, das Überschreiten von Flüßchen, wobei die sie bedeckende Eiskruste durchbrochen werden mußte; Kälte, Nässe und Seuchen, alles ist spurlos bis jetzt an mir vorübergegangen, und wohin ich komme, vernehme ich, daß ich trotz aller Strapazen gesund aussehe.
Nachdem ich nun die Ausläufer des Markotsch-Gebirges hinter mir gelassen hatte, galt es, die in achtzehn steilen Windungen emporstrebende Chaussee zum Michaels-Paß emporzusteigen und kurz vor dem Flüßchen Pschada nach rechts in das Gebirge einzubiegen. Ich hatte mir nämlich vorgenommen, der merkwürdigen Kolonie Krinitza (auch Jerobkino, nach ihrem Gründer benannt) einen Besuch abzustatten, denn was ich über dieselbe vernommen hatte, war geeignet, mein Interesse im höchsten Grade zu erregen. Und so ließ ich mich einen etwa 35 Kilometer weiten Weg durch eine der wildesten Gegenden des Kaukasus nicht verdrießen, um diese Absicht auch auszuführen.
Doch noch ehe ich die Landstraße verließ, hatte dieselbe mich im Stich gelassen. Zeitungsnachrichten zufolge sollte sie freilich schon ganz vollendet sein, doch scheinen an mehreren sehr ausgedehnten Partien irgend welche ungünstige Umstände gewaltet zu haben, denn nicht nur, daß Ueberfahrten und Brücken mehrfach nicht vorhanden sind, selbst das allen Chausseen der Welt eigentümliche Schottermaterial fehlt recht häufig. Daher geriet ich hinter dem Michaels-Paß in ein Thal, das mit Geröll angefüllt war und nicht einmal etwas aufwies, was den Namen Weg verdiente. Durch zwei kleine Flüßchen watend, bog ich in die erste meinen Weg kreuzende Schlucht ein, die dem Stande der Sonne gemäß am Ostufer des Schwarzen Meeres ausmünden mußte.
Hier vermutete ich nämlich das Kirchdorf Beregowaja und viereinhalb Kilometer hinter demselben den Chutor (d. i. Kolonie oder Dorf) Krinitza. Ich hatte mich nicht getäuscht, denn von links kommend, versperrte mir alsbald der Fluß Pschada den Weg, und ihn hatte ich, wie ich wußte, zu überschreiten, um an mein Ziel zu gelangen. An der Fähre war es zu tief, denn als ich dort ins Wasser stieg, reichte mir dasselbe sofort bis über die Hüften, daher wandte ich mich mehr nach oberhalb und hier entdeckte ich auch eine Partie, wo ich ans nächste Ufer gelangte, ohne erheblich naß zu werden.
Das Kirchdorf Beregowaja zeichnet sich durch keine besondere Wohlhabenheit aus. Die Einwohner sind ehemalige kubansche Kosaken. Was mir übrigens gleich ins Auge fiel, war ein sehr schmuckes Schulhaus, das, wie ich später hörte, sein Entstehen zum großen Teil dem benachbarten Krinitza verdankt. Auch die dort vorhandene hübsche Kirche soll auf Initiative der Kolonie erbaut worden sein.
Beregowaja rasch passierend, denn ich brannte vor Ungeduld, mein Ziel zu erreichen, schlug ich nun den Weg dahin ein, der, schmal, aber sauber gehalten, sich am Fuße des Gebirges hinwand.
Auch die Pschada floß anfänglich in der Richtung zum Gebirge fort, und schließlich nur einen Platz für die Fahrstraße freilassend, bahnte sie sich ihren Weg gerade fortlaufend ins Meer, während nach einigen hundert Schritten die Bergkette zurücktrat und in weitem Bogen ein sehr ausgedehntes Thal einrahmte. Auf einem Plateau, dicht am Meeresufer, gelangte ich endlich an einen von Heckenzäunen umringten, sehr ausgedehnten Hof, wo zwischen Bäumen sich ein halbes Dutzend sehr schmucker Häuschen vorfand. Mehrere junge Leute arbeiteten im Umkreise derselben mit Schaufel und Hacke.
Unterwegs hatten einige Personen, mit denen ich über meinen in Krinitza beabsichtigten Besuch sprach, Zweifel darüber geäußert, ob ich als Schriftsteller dort Zutritt haben würde, und nun stand ich da und wußte im Augenblick nicht, womit ich mich einführen sollte. Zuguterletzt beschloß ich denn auch, mich vorläufig nur als Reisenden zu geben und erst später meine Absicht zu bekennen und um die Erlaubnis zu bitten, über meinen Besuch und die empfangenen Eindrücke einiges an die Oeffentlichkeit zu bringen.
Mich an die mir zunächst arbeitenden jungen Leute wendend, wurde ich in zuvorkommender Weise an eines der älteren Glieder der Kolonie verwiesen. Es war ein Herr S., Absolvent eines landwirtschaftlichen und technischen Institutes. In dem Hause, wo ich ihn anzutreffen hoffte, trat ich zunächst in eine sehr umfangreiche Küche, wo mich einige schlichtgekleidete Frauen empfingen, und aus der mich ein junges Mädchen durch das allgemeine Eßzimmer in ein saalartiges Gemach führte, das ganz nach Art und Weise gewöhnlicher Bauernstuben nur Möbel in sich barg, welche roh aus ungestrichenem Holz hergestellt waren. Stühle habe ich dort überhaupt nirgends angetroffen, nur Holzbänke verschiedener Größe. Seltsam stach gegen diese schlichte Ausstattung, die näher zu beschreiben ich für zwecklos halte, ein wundervoller Flügel ab, der in einer Ecke Aufstellung gefunden hatte.
„Nehmen Sie Platz,“ sagte das junge Mädchen.
„Danke, ich kann ja auch stehend warten, bis der Wirt kommt,“ lautete meine Antwort.
Ich hatte mir damit eine Unschicklichkeit zu schulden kommen lassen, denn ich hätte mir denken sollen, daß bei einer Genossenschaft wie „Krinitza“ das Wort „Wirt“ nicht am Platz ist. Daher wunderte ich mich auch nicht im geringsten, als ich kurz zur Antwort erhielt: „Hier sind wir alle Wirte!“ – eine Versicherung, die mir die Erfüllung meiner zurückgehaltenen Bitte als schon gewährleistet erscheinen ließ, denn durch die Art und Weise, wie ich empfangen worden war, gewann ich die Ueberzeugung, daß diese guten Leute nicht nur jeden gerechten Wunsch zu erfüllen gewohnt waren, sondern auch keine Ursache hatten, ihr Licht unter den Scheffel zu stellen.
Jetzt trat auch Herr S. in die Stube.
[300] Es war eine hohe markige Gestalt, die vor mir stand. Das Haar war etwas lang gehalten, ein dünner Knebelbart umsäumte das Kinn, das Gesicht war nicht schön, doch ausdrucksvoll und sympathisch, und die Hand, die sich mir entgegenstreckte, hart und schwielig. Die Kleidung dieses etwa vierzigjährigen hochgebildeten Feldarbeiters bestand aus einer gehäkelten Mütze und einem groben Kittel, dessen Aermel mit Leder eingekantet waren. Am Halse ragte ein blaues Baumwollenhemd hervor, und einfache Lederschuhe bekleideten die Füße. Von letzteren reichten weiße strumpfartige Umhüllungen empor, durch welche das Beinkleid an den Knieen festgehalten wurde.
Mit einer höflichen Verbeugung stellte sich mir Herr S. vor und gänzlich zur Verfügung. Seine Versicherung, es berühre ihn äußerst sympathisch, daß ich zu Fuß reise, gab mir dann auch den Mut, ihn um die Erlaubnis zu bitten, meine Erinnerungen an Krinitza in der „Gartenlaube“ schildern zu dürfen, welchem Verlangen er in liebenswürdigster Weise entsprach.
Bevor ich mich nun daran mache, das Gesehene zu schildern, möchte ich das Ergebnis eines kurzen Gespräches mitteilen, das wir – mein neuer Bekannter und ich – auf dem Wege in die Weinberge führten. Herr S. war nämlich in seiner freien Zeit der Weinküfer der Gesellschaft.
Ueberall, wo ich bis dahin von der Kolonie, in der ich nun weilte, gehört hatte, hieß es, daß dieselbe eine Verwirklichung der Tolstoischen Ideale darstelle, zu denen ja auch die Rückkehr zum Feldbau gehört. Dem ist aber nicht so.
Die Kolonie Krinitza hat es sich zur Aufgabe gemacht, ein Geschlecht heranzuziehen, das durch in der Jugend ihm angewöhnte Anspruchslosigkeit in die Lage kommen soll, sich eine gewisse Unabhängigkeit zu wahren. Es wird den Zöglingen von Krinitza und auch dem Nachwuchs der Kolonisten die Möglichkeit geboten, sich die gediegenste Bildung anzueignen, daneben aber den Ackerbau als Beruf zu erlernen und so sich zu gewöhnen, ihren Erwerb nicht aus den Händen anderer, sondern einzig und allein aus dem Boden, aus der Erde – kraft der Arbeit ihrer Hände – zu schöpfen.
Ohne irgend eine extreme Ansicht vertreten zu wollen, sind die Krinitzer der Meinung, daß bei jedem Dienstverhältnis viele das Leben verbitternde Umstände mit unterlaufen. Deshalb soll der Mensch durch die ihm erteilte Erziehung befähigt werden, falls er sich diesem Mißstande nicht zu beugen vermag, sich seinen Lebensunterhalt durch körperliche Arbeit zu erringen, ohne – wie schon gesagt – dabei der Wohlthat einer höheren Bildung verlustig zu gehen.
„Wir fühlen uns freilich in unserer augenblicklichen Lebenslage nicht vollständig glücklich,“ äußerte Herr S. unter anderem, „denn uns haftet noch vieles aus unserm früheren Leben an. Doch wir hoffen, unsere Zöglinge so weit zu bringen, daß in ihnen unsere Ideale verwirklicht werden. Es soll keine durchgreifende, die ganze Welt umfassende Reform sein, der hier vorgearbeitet wird,“ hieß es weiter, „daher Kirche, Staat, Ehe, Handel und Wandel bestehen bleiben müssen; nur sehen wir in der körperlichen Arbeit, die mit einer gediegenen Bildung gepaart ist, ein Zufälligkeiten weniger unterliegendes Glücklichsein; wie groß jedoch das Häuflein dieser so durch uns geschaffenen Menschen einst sein wird, ist eine Frage der Zeit!“
Nun ist bekannt, daß der Einsiedler von Jasnaja Poljana, Graf Leo von Tolstoi, außer der körperlichen Arbeit, die auch er für eine Vorbedingung zum Glücklichwerden hält, noch manches andere fordert, um die moderne Menschheit einem Leben zuzuführen, das nach seiner Meinung allein ihrer würdig ist. Er hat der gesamten modernen Bildung, der Kunst und der Ehe, den Krieg erklärt und ist ein Fanatiker der Askese. Während meines zweitägigen Aufenthaltes in der Kolonie fand ich nun Gelegenheit, die Prinzipien zu beobachten, welche bei der Erziehung der dortigen Zöglinge angewandt werden, und ich bin zu der Ueberzeugung gelangt, daß die hier versuchte Heranbildung von glücklichen Zukunftsmenschen viel weniger utopistisch ist als die Tolstoischen Pläne zur Wiedergeburt der Menschheit.
Alles, was es dort giebt, ist Gemeinbesitz, keinem Bedürfnis zur Erzielung einer gewissen Behaglichkeit wird entsagt; was aber an Barmitteln erübrigt wird, gelangt nicht zur Verteilung, sondern wird dazu verwandt, außer der Kolonie segensreich zu wirken; die Schule und Kirche in Beregowaja verdanken diesem Grundsatz ihre Entstehung.
Aufnahme erhält in der Kolonie jeder, der sich dort meldet. Wer neu hinzukommt, muß die Versicherung geben, keiner der Regierung feindlichen Partei anzugehören und von nationalen Vorurteilen sich frei halten zu wollen. Wohnung und Nahrung erhält er als Gegenleistung für eine seinen Kräften entsprechende Arbeit unentgeltlich, Kleider jedoch erst nach drei Monaten. Ein Jahr hat er Praktikant zu sein, bevor er der Genossenschaft einverleibt wird. Schließlich wurde ich noch gebeten, in meinem Bericht ausdrücklich zu betonen, daß es bis jetzt für keines der Mitglieder ein Notbehelf war, dort um Aufnahme nachzukommen, denn der Patron der Genossenschaft ist z. B. Mathematiker und Jurist und außer Herrn S giebt es dort einen Techniker, einen Absolventen des Alexander-Instituts in Warschau, einen Mediziner aus dem dritten Kurse der Moskauer Universität und unter den Damen eine Gouvernante, die des Russischen, Deutschen, Französischen und Englischen vollständig mächtig ist und dazu noch Violin- und Klavierunterricht erteilt.
Auf unserem Rundgang durch die Kolonie waren wir nun in den Weinbergen angekommen. Der Boden, auf welchem hier ausschließlich die Reben gezogen werden, besteht aus einer verwitterten Steinart, die „Treskun“ genannt wird, weil sie in der Luft durch die Witterungseinflüsse zerfällt. Dieser Boden ist ungewöhnlich kalihaltig, daher sehr kräftig. Die Reblaus hat hier noch keine Verheerungen anzurichten vermocht. Das Vorhandensein des Treskun im Kaukasus macht sich häufig, da er in abgegrenzten Schichten vorkommt, durch die über ihm sich hinziehenden Baum-, sowie Buschgruppen von auffallend üppigem Aussehen bemerkbar. Auch hier gewährte das vier Dessätinen (437 Ar) große, mit Sauternes- und Burgunderreben bestandene Gelände einen sehr günstigen Eindruck, und obgleich kaum der fünfte Teil aller Stöcke alt genug war, um eine Ausbeute zu liefern, so hatte man doch im laufenden Jahr etwa 24 500 Liter Wein geerntet. Bei den hier erforderlichen Arbeiten sind alle verfügbaren Hände thätig, selbst die noch ungeschickten Hände der kleinen Zöglinge. Das hat freilich zur Folge, daß beim Pflanzen neuer Stöcke stets bis zu 15 Prozent derselben eingehen, was man um des Prinzips willen gern in Kauf nimmt.
Während die Weingärten in nächster Nähe der Wohnhäuser auf dem Plateau gelegen waren, führte mich nun mein liebenswürdiger Begleiter hinab in das Thal, in welchem einerseits bis ans Ufer der Pschada, anderseits fast von den Wogen des Meeres bespült, die Felder gelegen sind, die in diesem Jahre eine überreiche Ernte gegeben hatten, so daß durch den Verkauf von Getreide eine ansehnliche Einnahme erzielt werden konnte. Trotzdem haben aber die strebsamen Kolonisten beschlossen, die Felderwirtschaft so einzuschränken, daß sie nur dem eigenen Bedarf Rechnung trägt, da das Getreide hier schon seit Jahren sehr niedrig im Preise steht. Dafür sollen aber in rationeller Weise eine Wiesen- und auch eine Milchwirtschaft eingerichtet und in der Folge Versuche mit dem Anbau verschiedener Futterkräuter angestellt werden.
Demgemäß werden in Zukunft als landwirtschaftliche Erwerbszweige in Krinitza die Hauptrolle spielen: der Wein-, Garten- und Arzneipflanzenbau, die Milch- und Wiesenwirtschaft und die Bienenzucht.
Ganz versteckt zwischen Bäumen steht in dem Thal, nicht weit von der Pschada, ein kleines Häuschen, in welches zu treten mich nun ein hinzugekommener alter Herr bat. Es war einer jener jovialen Leute, wie sie nur ein sorgenfreies Alter hervorbringt. Mit einem braunen Kittel angethan, in dessen Tasche ein großes Stück Brot steckte, stellte er sich mir als Leonid Alexandrowitsch D. vor, Bienenvater der Kolonie. Im Gürtel trug er ein kleines Messer und eine Laterne, sonst war er bis auf die weißen Beinumhüllungen ganz ebenso gekleidet wie mein Begleiter. Auf die Frage, was er am Tage mit der Laterne wolle, antwortete er schmunzelnd nach dem Vorbild des Diogenes, er suche Menschen, und nun traten wir in jenes Häuschen ein, in dem hübsch geordnet 30 Bienenstöcke modernsten Systems für den Winter Aufstellung gefunden hatten.
Leonid Alexandrowitsch hatte allerdings besondere Ursache, sich zufrieden zu fühlen. Er konnte von überraschend günstigen Resultaten seiner Bienenzucht berichten, und dieselben verdankte er dem Erfolg seiner eigenen Erfindung. Er hatte künstliche Waben und viereckige Holzrahmen hergestellt, die, in geeigneter Weise eingerichtet und für Drohnen und Königin unzugänglich gemacht, nur den Arbeitsbienen allein zugänglich waren, die sie nun mit schönem reinen Honig füllten. Nach auswärts fanden diese Rahmen, von beiden Seiten mit Fensterglas vermacht, mit buntem Papier und einem Bildchen versehen, für 60 Kopeken das Stück [302] reißenden Absatz. Nachdem wir nun noch von dem mitgenommenen Brot, dabei es in Honig tunkend, gespeist hatten, ging es, als die Sonne sich zu neigen begann, an einem geräumigen Viehhof und einem in den Felsen gehauenen Weinkeller, der in etwa zwei Jahren vollendet sein soll, vorüber, den Wohnhäusern zu.
Wir passierten den von mir wenige Stunden früher allein zurückgelegten Weg, der steil sich am Berge hinwindend zum Plateau hinaufführt. Vor uns im Westen senkte sich eben die Sonne in das leichtbewegte Meer, das Gras unter unsern Füßen war noch nicht verwelkt, und daß die blattlosen Bäume nicht gar zu traurig aussahen, dafür sorgten zahllose Ranken der Clematis und Epheugewinde, welche die Aeste bis in die Gipfel hinauf bedeckten. Es war warm wie mitten im Sommer.
Das rauschende Meer, die herrliche Aussicht, die wir, immer höher und höher emporklimmend, genossen, weckten in mir liebe Erinnerungen an den baltischen Meeresstrand, wo ich noch kürzlich so traulich schöne Stunden inmitten meiner Lieben verlebt hatte. Wie hatte sich das alles nun verändert! Fern von der Heimat, durch mehr als 2000 Kilometer von den Meinen getrennt und erst der geringste Teil meiner großen weiten Reise überwunden!
Verlockend huschte der Gedanke durch mein Inneres, bei diesen guten Leuten zu bleiben, die mich mit offenen Armen aufzunehmen bereit waren; doch nur vorübergehend ließ ich mich von der Möglichkeit einer derartig herbeigeführten Wiedervereinigung mit den Meinen verwirren. Ist es recht, wenn das Weib, das dazu berufen ist, den Begriff alles Schönen im Herzen ihrer Kinder zu wecken und zu pflegen, sich absichtlich in häßliche Bauernkleider hüllt, ist es recht, wenn sie aus ihrer trauten Häuslichkeit hervortritt, um das Glied einer Gemeinschaft zu werden, die ausdrücklich auf die segensreiche Umfriedung eines persönlichen Heims verzichtet? –
Ich konnte diesen Gedanken nicht nachhängen, denn eben sah ich mich von Herrn S. angeredet: „Wissen Sie, Konstantin Konstantinowitsch, daß unsere Schulkinder außer der russischen Sprache nur noch das Deutsche erlernen?“
Das klang mir überraschend genug, und mit einem grenzenlosen Erstaunen konnte ich nur fragen: „Warum?“
„Ja, sehen Sie,“ fuhr mein Begleiter fort, „wir sympathisieren natürlich wie alle Vaterlandsgenossen mit den Franzosen und würden gern unseren Pariser Freunden etwas Angenehmes erweisen, aber unsere Kinder sind uns doch zu lieb, als daß wir es auf ihre Kosten thun könnten. Zu einer realen, gediegenen Bildung gehört unbedingt die deutsche, vielleicht auch die englische Sprache und nicht vergessen darf man, daß Kant und andere Männer ihre Theorien in deutscher Sprache niedergelegt haben. Und was sind Uebersetzungen!“ …
Noch am selben Abend lernte ich einen Zögling der Kolonie kennen, der ganz hübsch deutsch sprach, und als ich am andern Tage die Schule besuchte und die Hefte der Kinder mir ansah, erhielt ich fast auf alle Fragen aus der deutschen Grammatik richtige Antworten. Auch das reichhaltige Herbarium der Schule enthält durchgängig lateinische, russische und deutsche Benennungen und in der Bibliothek giebt es eine besondere Abteilung für deutsche Werke.
Diese Bibliothek, in der ich an beiden Tagen, während ich in Krinitza war, arbeitete, ist es gleichfalls wert, als ein sehr gemütlicher Winkel geschildert zu werden. Von mehreren Glasschränken umgeben, in denen über 1000 Bände, alles Perlen der Litteratur in russischer, deutscher, englischer und französischer Sprache, aufbewahrt werden, enthält das Zimmer ein Seitenstück zu dem oben erwähnten Klavier, nämlich einen wunderhübsch gearbeiteten und polierten Schreibtisch.
Das Abendbrot vereinigte alle Mitglieder der Genossenschaft im großen Speisesaal an zwei Tischen. Am größeren hatten die Tagelöhner und das jüngere Volk Platz genommen, am kleineren hingegen saßen die älteren Herrn und in ihrer Mitte ich. Gegessen wurde gemeinsam aus großen Schüsseln, die in der Mitte des Tisches standen, und zwar mit Holzlöffeln.
Im Nebenraum hatten sich mittlerweile alle Kinder versammelt, und während wir nun den schmackhaften Speisen zusprachen und mit dem heimischen Wein auf ein glückliches Gelingen meiner Reise angestoßen wurde, ertönte plötzlich aus dem Nebenzimmer Klavierspiel mit Violinbegleitung. Es waren zwei Knaben von 12 bis 14 Jahren, die mit großer Fertigkeit für Tafelmusik sorgten.
Am nächsten Tage besuchte ich noch die Viehställe sowie das Magazin, einen Speicher mit allerhand Waren, von denen Jeder seinen Bedarf unentgeltlich bezieht, ferner die Werkstätten für Schlosser- und Drechslerarbeiten und ein im Bau begriffenes sehr geräumiges Haus. Der Bau ist so angelegt, daß in der Mitte ein sehr großer luftiger Saal für die Kinder aufgeführt wird, während in allen vier Ecken Zimmer für eine gleiche Zahl Ehepaare hergerichtet werden.
Ziehe ich nun das Facit von meinen in Krinitza gewonnenen Erfahrungen, so kann ich nicht umhin, die beispiellose Selbstverleugnung aller erwachsenen Glieder der Kolonie anzuerkennen, mit der sie sich, von den eigenen Kindern abgesehen, einer ganzen Schar fremder Wesen widmen, um sie dereinst zu, nach ihrer Ansicht, glücklichen Menschen zu machen. Wie man es unter gebildeten Leuten nicht anders erwarten kann, hört man dort kein böses oder gar schlechtes Wort, alles atmet reine, herzliche Harmonie und unter den schlichten Bauernkitteln schlagen biedere, treue Herzen, die es verursacht haben, daß mir die Thränen ins Auge traten, als ich, von den herzlichsten Wünschen begleitet, meinen weiten Weg fortsetzte.
Habt Dank, ihr lieben, guten Menschen in den wilden Bergen des Kaukasus, die ihr mir so schöne Stunden in eurer Mitte bereitet habt, und möge Gott euch vor allen Enttäuschungen bewahren!