Textdaten
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Autor: Ernst Willkomm
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Titel: Zipser
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 49–50, S. 661–664, 680–681
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[661]
Zipser.
Nach wirklichen Erlebnissen erzählt von Ernst Willkomm.

Am äußersten Ende einer Lausitzer Stadt, gegen Süden lag ein kleines, aber freundlich aussehendes Haus. Von drei Seiten, war es mit sorgfältig gepflanzten Gärtchen umhegt. Vor der jederzeit verschlossenen Thür ward täglich Sand gestreut, gleichviel, ob das Wetter schön und sonnig war oder Regen und Nebel die Gegend bedeckten.

Die kleinen Fenster blinkten so hell, als wären sie von polirtem Spiegelglas, auch der metallene Hammer an der Thür, welcher die Stelle einer Schelle ersetzte, flimmerte wie Gold und war bei hellem Sonnenschein in ziemlicher Entfernung bemerkbar. Menschen sah man selten weder vor der Thür noch im Garten. Die Bewohner des Häuschens schienen sehr still und einsam zu leben. Nur sehr früh am Morgen umschritt wohl bisweilen ein hochgewachsener alter Mann das Haus, der Jedem durch sein ungewöhnlich reiches Haar, das lang und lockig bis auf die Schultern niederhing, auffallen mußte. Seltener noch ließ sich ein fein gebautes junges Mädchen vor der Thüre blicken, das sehr hübsch war, immer aber blaß und melancholisch aussah.

Aufmerksame Beobachter behaupteten, es gehe in dem einsam gelegenen Häuschen nicht so still zu, als es den Anschein habe. Am Tage freilich ließe sich selten Jemand dort blicken, am innigsten sehe man andere Leute dahin wandern, wer aber recht aufpasse, der könne bald nach Sonnenuntergang mehr als einen Menschen jenem Häuschen zuschreiten und durch behutsame Schläge mit dem metallenen Hammer Einlaß begehren sehen. Bald seien diese späten Gäste einfache Landleute, bald fein gekleidete vornehme Herren, bald gar in unscheinbare Gewänder sich hüllende Damen. Bis gegen Mitternacht währe regelmäßig dies Kommen und Gehen, und wer sich nur auf’s Spioniren legen wolle, der könne die wunderlichsten Beobachtungen und gar merkwürdige Entdeckungen noch obendrein machen.

Unsere Leser werden den heimlichen Besuch erwähnten Hauses sehr natürlich finden, wenn wir ihnen sagen, daß es die Wohnung des Scharfrichters war und daß man um die Mitte des vorigen Jahrhunderts noch nicht weit genug in Kultur und Humanität vorgerückt war, um öffentlich und am hellen Tage mit einem Scharfrichter zu verkehren.

Zipser war auch nicht aus freiem Entschlusse ein Bewohner des einsamen Hauses geworden. Der Zufall und eine recht heitere Lebensstunde hatten ihn dazu gemacht. Vor langen, langen Jahren war Zipser als hoffnungsvoller Student bei Verwandten zu Besuch gewesen, mit mehreren Freunden in ein Tanzlokal gegangen, wo eine Menge junger Mädchen sich im Kreise schwang, während andere unthätig der Belustigung zusahen. Eine dieser nicht tanzenden Schönen, die entfernt von den übrigen Zuschauerinnen, mit sehnsüchtigen Blicken dem Jubel ihrer Schwestern lauschte und diese um den herrlichen Genuß zu beneiden schien, gefiel dem fröhlichen Studenten vor Allen. Ohne sich lange zu besinnen und ohne das niedliche Mädchen um Erlaubniß zu fragen, faßte er das schöne Kind um die schlanke Taille und riß sie, ungeachtet ihres ängstlichen Sträubens, hastig in den Kreis der tanzenden Paare. Im Taumel der Lust bemerkte er nicht sogleich die Verstörung, welche sich auf der Stelle aller Tanzenden bemächtigte und binnen wenigen Minuten den ganzen Tanzplan leer fegte. Erst als er sich mit dem keuchend und schluchzend in seinem Arme liegenden Mädchen allein sah, ward ihm unheimlich zu Muthe und bleicher Schreck entfärbte seine hoch geröthete Wange. Eine schnelle, wilde Frage, an das erschrockene Mädchen gerichtet, entriß diesem die bedeutungsschwere Antwort: „Ich bin die Tochter des Scharfrichters!“

Diese wenigen Worte erklärten Alles. Zipser mußte sich widerstrebend bekennen, daß ein einziger unbesonnener Augenblick sein ganzes Lebensglück zerstört habe, daß dies Leben selbst auf dem Spiele stand, wenn er nicht Manns genug war, sich und seinen in ihm aufsteigenden Schmerz gewaltsam zu besiegen.

Er beruhigte mit wenigen Worten die verstörte Schöne, die noch zitternd und weinend an ihm lehnte und, wie ihm däuchte, nur das Unglück des jungen Mannes beklagte.

„Beruhige Dich und sei still!“ sprach er innerlich ergrimmt. „Ich habe Dich in meinem Arme gehalten, Du bist mein, wenn Du mich nicht verachtest!“

So sprechend, verließ der kecke Student festen Schrittes den Tanzsaal, die Tochter des Scharfrichters am Arm. Er näherte sich finster und trotzig der zusammengelaufenen Menge, die sogleich auseinander stob, um das Paar unberührt vorübergehen zu lassen. Zipser lachte ingrimmig, sein Entschluß aber stand fest. Die Tochter des Scharfrichters war seine Braut. Entweder wollte er das schuldlose Kind der Welt und der bürgerlichen Gesellschaft dadurch, daß er sie ehelichte, wiedergeben, oder er selbst wollte dieser von Vorurtheilen beherrschten ungerechten Gesellschaft für immer den Rücken kehren.

Dem jungen Manne ward keine lange Wahl gelassen. Niemand wollte mehr mit ihm verkehren, denn Vorurtheile, die wir mit der Muttermilch eingesogen haben, die mit uns gewachsen und erstarkt sind, wirken ansteckend wie pestartige Krankheiten. Kein Einziger wagte es so hoch sich über die urtheilslose Menge zu erheben, daß er dem ehemaligen Freunde und Genossen abermals die Hand gereicht hätte. Zipser war verstoßen. Wollte er nicht wie [662] ein Geächteter, von Allen verlassen, durch die Welt wandern oder in weiter weiter Ferne, wo Niemand ihn kannte, sich eine neue Heimat suchen, so blieb ihm nichts übrig als denen sich anzuschließen, die außerhalb dieser vorurtheilsvollen Gesellschaft standen und eine Welt für sich bildeten. Zipser entschloß sich, wenn auch mit schwerem Herzen und vielleicht nicht ohne harte Kämpfe, zu Letzterem. Mathilde war ein liebevolles Mädchen, das ihm mit schwärmerischer Treue anhing, und schon wenige Monate später feierte er mit der vom Verhängniß ihm zugeführten Braut seine Vermählung.

So war nun aus dem heiteren, übermüthigen Studenten der Medizin ein stiller, oft schwermüthiger Scharfrichter geworden. Sein Schwiegervater hatte keine Söhne und da er längst schon sich hinfällig fühlte, trat er dem kräftigen Eidam, der sich in so merkwürdiger Weise als ein Mann von Thatkraft und festem Willen gezeigt hatte, gern das wenig beneidenswerthe Staatsamt ab, das ihm als Erbe vom Vater und Großvater zugefallen war.

Mathilde konnte sich in keiner Weise über ihren jungen Gatten beklagen. Er war stets liebevoll und zärtlich gegen sie, und ließ sie nie weder durch Miene noch Worte ahnen, daß ihr Liebreiz es gewesen sei, der ihn verlockt und dadurch der Gesellschaft entrissen hatte.

Dennoch nagten Kummer, mehr vielleicht noch ein still verborgener Ingrimm an dem Herzen des jugendlichen Scharfrichters. Auf seiner Stirn thronte finsterer Stolz, und in seinem tiefen Blicke lag etwas, das Manchen erbeben machte. Einige hielten das unheimliche Feuer seines Auges für Hohn, Andere meinten, es brodele und lodere die ganze Glut einer unersättlichen Lust nach Rache darin. Dies Alles waren aber wohl nur Vermuthungen, denn der so verschrieene junge Mann war leutselig, sanft und freundlich gegen Jeden, mit dem seine Stellung ihn in Berührung brachte, und Niemand wußte ihm einer harten oder ungerechten, lieblosen Handlung zu zeihen.

Da ihn Niemand störte, warf er sich mit Eifer auf das Studium der Medizin und bald hieß es, der junge Scharfrichter sei im Besitz vieler Geheimmittel, die jedes Gebrechen, jede Krankheit zu heben vermöchten.

Bei dem weit verbreiteten Volksglauben, der damals viel mehr als jetzt Schäfern und Scharfrichtern noch eigenthümliche Kräfte zusprach, war es nicht zu verwundern, daß der ehemalige Student der Arzneikunst mehr als andere seiner Collegen verstehen mußte und, um Hülfe angegangen, sich schnell einen bedeutenden Ruf als Wunderdoktor errang. Zipser benutzte diese abergläubische Meinung der Menge, theils um wirklich Segen zu stiften, theils um sich selbst in Achtung zu setzen und gleichsam unentbehrlich zu machen. Die Gesellschaft, die den Mann in ihrer erbärmlichen Anschauungsweise verächtlich von sich gewiesen, mußte sich jetzt zu ihm flüchten, ihn bitten, vor seinem Ausspruche erbeben oder durch ihn zu neuer Hoffnung erwachen. Das sollte die einzige Rache sein, die er für das ihm zugefügte Unrecht an der Gesellschaft zu nehmen entschlossen war.

Einmal als glücklicher Arzt zu Ruf und Ansehen gelangt, ward Zipser von Jedermann hoch in Ehren gehalten. Freilich verkehrte man nicht offen mit ihm, aber man mied ihn auch nicht geflissentlich. Die Gesellschaft öffnete dem weisen Scharfrichter nicht ihre Salons, dafür ließ dieser die Hülfesuchenden stundenlang vor seinem Laboratorium warten und während dieser zu Ewigkeiten sich verlängernden Stunden in Angst und Qual fast vergehen. Eine verzeihliche Schadenfreude fühlte er sein Herz durchzittern, wenn Bekannte sich in diesem Fegefeuer begegneten und Einer sich vor dem Andern vor Scham und Verdruß verbergen wollte.

Zipser wußte recht wohl, daß die lautere Ehrlichkeit nicht halb so viel Erfolge erzielt, als ein gewisser erlaubter Charlatanismus. Darum nahm er keinen Anstand, sich mit etwas imponirendem Hokuspokus zu umgeben. Ohnehin war er ja nicht Arzt und durfte eben so wenig als Arzt auftreten, wie er es wollte. Von ihm – das wußte er zu genau – begehrte Jeder, mochte er den gebildeten Ständen angehören oder in bäuerlicher Beschränktheit erzogen sein, etwas Ungewöhnliches, wo möglich dem Wunderbaren Verwandtes. Der Glaube des wirklich Leidenden mußte bei ihm ungleich mehr wirken als die Mittel, die er ihm verordnete. Deshalb ging Zipser’s ganzes Streben nur dahin, den Hülfesuchenden vor Allem zu veranlassen, daß er an die Unfehlbarkeit seines Rathes Glauben habe. War ihm dies gelungen, dann sah er fast ausnahmslos die auffallendsten Wirkungen von seinen Mitteln. Oft würde er es selbst nicht für möglich gehalten haben, daß ein absolutes Nichts so große Dinge hervorbringen könne, hätte er nicht die sichere Gewähr der eigenen Augen gehabt.

Als Liebhaber von Thieren umgab sich Zipser mit sehr verschiedenartigen Quadrupeden. Außer einigen zottigen Hunden hielt er sich fortwährend zwei prächtige Katzen, eine schwarze und eine gelbe, die er liebevoll pflegte und ihnen mancherlei Kunststücke beibrachte. Unter andern lehrte er sie mit erhobenen Vorderpfoten geraume Zeit sitzen und auf einen stummen Wink sich umarmen. Dann mußten sie wieder auf sein Geheiß minutenlang in einen oblongen Spiegel sehen und taktmäßig die rechte Vorderpfote bewegen. Auch zu schnurren und mit gekrümmtem Rücken einher zu spazieren verstanden die gelehrigen Thiere, wenn er es befahl, und dann stiegen ihnen die Haare zu Berge, als würden sie von einer unsichtbaren Kraft bewegt.

Mehr noch als diese Vierfüßler flößten denjenigen Individuen, welche Hülfe heischend in Zipser’s Behausung traten, drei große Raben ein. Diese Thiere betrachteten jeden Fremdling mit merkwürdig klugen Augen, umhüpften ihn, als hätten sie Auftrag erhalten seinen Charakter, seine Neigungen und Leidenschaften zu erforschen, und als ob diese Ocular-Inspektion wirklich etwas nütze, traten alle drei wunderlich dressirten Vögel schließlich vor dem Kabinet des Scharfrichters zusammen, und unterhielten sich schnatternd und lebhaft mit den Flügeln klappend unter einander, wobei sie nie versäumten, den Harrenden immerdar mit klugen und forschenden Augen zu betrachten. Erst auf die laut werdende Stimme ihres Gebieters zogen sich die Raben zurück, und nun erst öffnete sich die Thür des Kabinettes und dem Eintritte in das Innere stand nichts mehr entgegen.

In späteren Jahren machte der Anblick des schnell gealterten Mannes einen bleibenden Eindruck auf Jeden, der nicht erst noch in künstlicher Weise gesteigert zu werden brauchte. Zipser aber blieb bei seinen früheren Anordnungen und stieg durch dies konsequente Verfahren nur noch mehr in der Achtung der Halbgebildeten.

Unter Menschen sah man den alten Mann niemals, doch zeigte er sich bisweilen öffentlich. Dies geschah jedoch nie anders als zu Roß und in einem nicht gerade phantastischen aber doch stark auffallenden Kostüme. Zipser ritt stets einen feurigen Rappen, den er trefflich zu tummeln verstand. Sein volles weißes Haar bedeckte ein niedriger schwarzer Hut mit feuerrothem Futter, und um die Schulter schlug er jederzeit, mochte das Wetter kalt oder heiß, trocken oder feucht sein, einen faltenreichen schwarzen Mantel, der ebenfalls mit hochrothem Zeuge ausgeschlagen war. Bisweilen gaben ihm seine Lieblingsvögel eine kurze Strecke das Geleit, in der Regel jedoch verweilten sie auf der Schwelle der Hausthüre und bewegten nur unter lautem Krächzen die Flügel, wenn ihr Gebieter auf dem ungeduldigen Rappen in raschem Laufe davon sprengte.

Hatte die weltliche Gerechtigkeit irgendwo ein todeswürdiges Verbrechen zu bestrafen, so fehlte gewiß der eben so sehr bewunderte als gefürchtete Scharfrichter in seiner seltsamen Tracht, hoch zu Rosse sitzend, nicht. Jüngere Kollegen mochten den erfahrenen Mann gern bei derartigen traurigen Vorkommnissen sehen. Sie meinten, die Ausübung ihrer Pflicht werde ihnen dann leichter. Manche glaubten sogar, Zipser verstehe die Kunst, das Schwert zu feien, wodurch selbst ein ängstlicher oder noch ungeübter Anfänger in der Handhabung desselben fest und sicher werde.

Diese Ansicht war eine so allgemein verbreitete, daß Zipser sogar mehrmals officielle Einladungen erhielt, der Vollstreckung eines Todesurtheils beizuwohnen.

Auch diese eigenthümliche Auszeichnung benutzte der alte Mann zu seinem Vortheile. Er that immer geheimnißvoller, zeigte sich mit jedem Jahre zurückhaltender und trug einen Ernst zur Schau, der die Meisten scheu vor ihm zurückweichen machte.

In der mehr als fünfzigjährigen Ausübung seines Berufes war Zipser verhältnißmäßig nur wenige Male in die Nothwendigkeit versetzt worden, persönlich als Nachrichter auftreten zu müssen. War es geschehen, so hatte er sich der blutigen Aufgabe mit männlichem Ernst und mit der ganzen Würde eines Mannes, welcher im Auftrage eines Höheren gleichsam ein Gottesgericht zu vollziehen hat, entledigt. Man sah ihn aber in solchen Zeiten wenigstens drei volle Wochen lang gar nicht, wie er sich auch nach vollzogenem Urtheile längere Zeit vor Jedermann verborgen hielt.

Zipser’s Familienleben galt nicht blos für ein glückliches und musterhaftes, es verdiente diesen Namen auch wirklich. Selten [663] mögen Ehegatten so einträchtig mit und neben einander gelebt haben, als der frühere Student der Medizin mit der bescheidenen, still-glücklichen Mathilde. Nach langer, kinderloser Ehe beschenkte Mathilde den geliebten Mann spät noch mit einer Tochter. Die Geburt dieses Kindes raubte leider der Mutter das Leben, und Zipser sah sich als Mann, der bereits das Herannahen des Alters spürte, und der längst schon den Ehrenschmuck des Alters, hell glänzendes Silberhaar trug, verlassener denn je vorher. Das Kind blieb indeß am Leben, gedieh sichtlich, wuchs unter den Augen des Vaters auf, der es mit der zärtlichsten Liebe hegte und pflegte, und erblühte zu einer der schönsten Jungfrauen.

Da Zipser, der von Jahr zu Jahr immer eigensinniger ward, mit Niemand Umgang pflog, lernte auch Sabine wenig oder gar nicht die Menschen kennen. Das junge Mädchen fühlte nicht selten eine gewisse Leere in und um sich, und hätte sich Wohl gern jubelnd dem Leben in die ausgebreiteten Arme geworfen, wäre nur der eigensinnige Vater dazu zu bewegen gewesen. Das Vorurtheil allein stand der Verwirklichung eines solchen Wunsches jetzt nicht mehr im Wege. Die Zeiten hatten sich geändert, die Ansichten der Welt waren milder geworden. Suchte man auch den Nachrichter und seine Angehörigen nicht gerade auf, um innigen Umgang mit diesen zu pflegen, so kehrte man ihnen doch auch nicht mehr verächtlich den Rücken, oder mied und floh sie gar wie Aussätzige oder von Gott Gezeichnete. Die größere Bildung hatte den Fluch finsterer Jahrhunderte von den ehedem Geächteten genommen. Im Stillen mochte diese Umkehr zum Bessern den alten Mann wohl freuen, äußerlich ließ er sich nichts davon merken, und sein gemessenes, abgeschlossenes Wesen der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber blieb unverändert, wie es gewesen, seit die Verachtung der vorurtheilsvollen Menge ihn zwang, Schutz in dem Hause zu suchen, das er jetzt mit seinen reichen Schätzen sein wohlerworbenes Besitzthum nannte.

Ein junges Mädchen von Sabine’s Schönheit konnte jedoch nicht lange in dem seitwärts gelegenen Hause verborgen bleiben. Wer das fröhliche Kind, das mit rührender Liebe dem greisen Vater anhing, nicht am Tage sah, der fand wohl einmal Gelegenheit, unter dem Schleier der Nacht einen, wenn auch nur flüchtigen Blick auf die Schöne zu werfen. Denn noch immer war der alte Mann Vielen ein Rather und Helfer. Seine Aussprüche wurden befolgt und geglaubt, als wären es Orakel, und da Jedermann das Aufsehen eines täglichen Besuches scheute, so blieb nach wie vor das einsame Haus ein Wallfahrtsort geringer und vornehmer Leute.

Zipser vermuthete sehr bald bei den vielen jugendlichen Besuchern, die freilich allerhand Leiden zu haben behaupteten, geheime Absichten, und war sogleich entschlossen, diesem Zulauf junger Männer ein Ziel zu setzen. Er gedachte seiner Jugend, seines Elends, der langen schmerzensvollen Jahre, welche die Thorheit der Menschen ihm bereitet. Die Tochter vor ähnlichen Erfahrungen zu bewahren, hielt er für die erste und heiligste Pflicht eines Vaters.

„Es ist nicht gut,“ sagte er sich, wenn er ungestört in seinem stillen Laboratorium saß, zu seinen Füßen die beiden freundlich spinnenden Katzen, hinter ihm auf der Lehne des hohen Stuhles einen der gezähmten Raben, „es ist nicht gut, daß mein Kind aus dem Zauberkreise heraustritt, in den mich das Verhängniß gestoßen hat. Jetzt ist sie glücklich in diesem Kreise, denn sie kennt keine anderen; erführe sie dereinst, wie man früher von Leuten dachte, die ihres Vaters Gewerbe treiben, so würde ein dunkler Schleier über den sonnenhellen Glanz ihres bisherigen Lebens fallen, und Sorge, Angst, Reue, Unzufriedenheit wären ihre unzertrennlichen Begleiter. Das soll und darf nicht geschehen. Ich werde also das Kind verheirathen.“

Sabine erfuhr nichts von diesem Plane ihres Vaters, bald aber stellte sich erst in längeren Zwischenräumen, dann öfterer ein junger Mann ein, den der Vater stets freundlich begrüßte, mit dem er gern und viel sprach, und den er offen vor Andern auszeichnete. Mit Georg ging er sogar Arm in Arm spazieren, ihm reichte er nicht blos, ihm drückte und schüttelte er sogar die Hand. Georg war aber der Erbe der größten Scharfrichterei in einer nur wenige Meilen entfernten Grenzstadt. Zipser hatte den Vater Georg’s schon gekannt, und beide Väter hatten eine Ehe ihrer Kinder für wünschenswerth gehalten.

Es dauerte auch wirklich nicht lange, so entspann sich zwischen den jungen Leuten ein Verhältniß, das schon nach wenigen Monaten zu einem stillen Verlöbniß führte. Sabine reichte dem stattlichen Manne aus inniger Herzensneigung ihre Hand, Georg schien mehr bezaubert von der auffallenden Schönheit des jungen Mädchens, als von ihrer wahrhaft weiblichen Anmuth für immer gefesselt und in tiefster Seele beglückt. Er war noch zu wenig in die Welt gekommen, daher von jeder angenehmen Erscheinung leicht hingerissen, von Natur aber flatterhaft und unbeständig.

Sabine’s Vater kümmerten so leichte Jugendfehler nicht. Er kannte seine Tochter, ihre hingebende Liebe, ihre Aufopferungsfähigkeit, und deshalb zweifelte er keinen Augenblick, daß es ihr sehr bald gelingen werde, Georg mit unlösbaren Banden an sich zu fesseln, mit ihrem heiß liebenden Herzen auch das seine ganz zu erobern. Bald indeß bemerkte er, daß der junge Mann seines Vertrauens nicht würdig sei. Georg vernachlässigte Sabine mehr und mehr, kürzte seine Besuche ab, und blieb endlich ganz aus. Deshalb von dem rechtlichen Vater seiner Verlobten zur Rede gestellt und an seine Pflicht erinnert, erklärte er, niemals sich verheirathen zu wollen. Er fühle, setzte er entschuldigend hinzu, daß er eines so edlen Geschöpfes wie Sabine nicht werth sei, und daß, zwinge man ihn zur Ehe, das größte Unglück daraus entstehen könne.

Zipser, den tiefen Schmerz seiner getäuschten Tochter in innerster Seele mitfühlend, legte sich jetzt auf freundliches Zureden, und führte Georg zu Gemüthe, daß er Sabine das Herz breche, und an seinem einzigen Kinde zum Todtschläger werde.

„Würd’ ich’s,“ entgegnete der leicht Erregbare unmuthig, „wer anders trüge dann die Schuld, als Sie? Nicht ich habe Sabine gesucht, Sie haben mich ihr zugeführt. Mir selbst fällt nichts zur Last, als ein Irrthum des Herzens.“

Der greise Scharfrichter neigte sinnend das weißlockige Haupt, und jener Zug finsterer Strenge, der sich frühzeitig seiner Stirn eingegraben hatte, trat jetzt schärfer als sonst hervor.

„Besinne Dich, und mache uns nicht unglücklich,“ sagte er nach einer Weile. „Ich lasse Dich nicht, das bedenke!“

„Sie wollen mich doch wohl nicht bannen?“ erwiederte Georg lächelnd, mit dieser Antwort zugleich auf das geheimnißvolle Wesen des Alten anspielend, dem er weit und breit seinen Ruf verdankte.

„Gewiß!“ versetzte Zipser und blitzte den Treulosen mit so zornigem Auge an, daß es diesem eiskalt überlief.

„Sabine wird einen Bessern finden als mich, und glücklich werden,“ sagte Georg einlenkend. „Junge Mädchen sind auch Täuschungen unterworfen. Hat sie sich ausgeweint, so vergißt sie mich. Thränen werden sie nur noch schöner machen.“

„Ich will aber nicht die Schande erleben, die Du mir zuzufügen gedenkst,“ erwiederte Zipser. „Es wissen’s Hunderte, daß Ihr mit einander verlobt seid. Trittst Du zurück, so verfällt das arme Mädchen in Unehre, und die Leute reden Uebles von ihr.“

„Dann bringen Sie mich meinetwegen um,“ versetzte der ungeduldige Georg. „Genug, ich heirathe nicht, und wenn der Himmel einfällt!“

„So fahre zur Hölle!“ rief Zipser ergrimmt, und hob drohend die Hand gegen den Jüngling. Sich aber rasch besinnend, ließ er den Arm sogleich wieder sinken. „Es ist gut,“ fuhr er gemäßigt fort. „Ich habe jetzt Deinen Sinn erkannt, und werde nun thun, was ich für Recht erachte. Dein Freund bin ich nicht mehr, begegnet Dir aber früh oder spät auf Deinem Lebenswege ein Feind, so gedenke des alten Zipser, dessen Herz Du von Dir gestoßen hast. Ich hoffe, wir sehen uns noch einmal, ehe ich für immer die Augen schließe.“

Zipser kehrte Georg den Rücken und ging von dannen.

Dem flatterhaften jungen Fant ward nicht wohl bei diesem Abschiede. Er hätte sich den alten Mann lebensgern versöhnt, denn er fürchtete ihn, wie er ihn achten mußte, Sabine aber zu heirathen, war ihm nicht möglich, er wußte selbst nicht recht, weshalb, und so war denn jede Verbindung abgebrochen.

Von dieser Zeit an begann das junge Mädchen zu kränkeln. Getäuschte Liebe, Sorge um den Vater, der immer finsterer ward, Gram und Kummer nagten an Sabine’s Herzen, und ließen sie sichtbar verblühen. Zipser aber gab noch immer nicht alle Hoffnung auf, den verblendeten Jüngling doch wieder an sich zu ketten, und da er Zeit genug hatte, sich ungestört mit seinen Gedanken zu beschäftigen, so grübelte er fortwährend darüber nach, wie er es wohl am klügsten anzufangen habe, um der liebesiechen Tochter den ungetreuen Bräutigam wieder zuführen zu können. Ob dies auf Umwegen, mit List oder auf sonst eine passende Weise geschehe, war [664] ihm gleichgültig. Er wollte nur, daß Georg demüthig wieder kommen, und reuig um die jetzt verschmähte Hand seiner Tochter bitten solle.

Seit Jahr und Tag schon harrte damals eine Kindesmörderin ihres Urtheils. Es war ein blutjunges, armes Mädchen von seltener Schönheit, schlank und voll, blendend weiß von Teint, mit üppigem, rabenschwarzem Haar. Ihr Vertheidiger, der eine schwer zu bekämpfende Neigung in seinem Herzen für die schöne Klientin sich regen fühlte, bot Alles auf, der Unglücklichen wenigstens das Leben zu retten. Das arme, fast zurechnungslose Geschöpf hing mit schwer zu begreifender Zähigkeit am Leben. Sie wollte nichts vom Tode hören, und mehr denn einmal war sie ihrem Vertheidiger zu Füßen gefallen, hatte seine Kniee mit zarten Armen umschlungen, und mit leidenschaftlichen Worten ihn angefleht, er solle sie doch nur vom Tode erretten. Allein alle Vertheidigungskünste prallten ab an der ehernen Brust der Richter, die, weil neuerdings das Verbrechen des Kindermords sich mehrmals wiederholt hatte, an der Ueberführten, der That Geständigen, ein Beispiel statuiren wollten. Die Beklagenswerthe ward zum Tode durch das Schwert verurtheilt, und das Urtheil vom Landesherrn bestätigt.

Schon einige Wochen vor diesem richterlichen Erkenntnisse sagte Zipser seiner nächsten Umgebung, wie auch Solchen, die zu ihm kamen, um seine Hülfe in Anspruch zu nehmen, daß er alsbald ein Todesurtheil zu vollstrecken haben werde. Forschte Jemand weiter, so sprach er geheimnißvoll: „Angezeigt ist mir noch nichts, aber ich weiß es. Das Schwert hat sich gerührt!“

Er deutete dann mit respektvoller Scheu auf das breite Richtschwert, das in rothsammetner Scheide auf einem Haken an der Wand seines Kabinettes hing. Dies Sichrühren des Schwertes war nach des alten Mannes Behauptung ein untrügliches Zeichen, daß es nächstens gebraucht werden solle.

Als nun die Kunde von der Verurtheilung der erwähnten Kindesmörderin auch Zipser erreichte, zweifelte er keinen Augenblick, daß ihm schon in den nächsten Tagen von obrigkeitswegen Anzeige davon gemacht werden würde. Zu seinem größten Erstaunen geschah dies aber nicht. Der Nachrichter der Nachbarschaft, der ehemalige Verlobte seiner Tochter, Georg, erhielt den Auftrag, die Verurtheilte hinzurichten.

Zipser lächelte und schüttelte sein weißes Lockenhaupt.

„Georg!“ sprach er zu sich selbst, „Georg soll dem jungen Blut den Kopf abschlagen? Und mit meinem Schwert? – Das müßte mit Kräutern zugehen! Mein Schwert soll richten, denn es hat geklungen, ich aber gebe mein Schwert nicht aus der Hand.“

Er ließ sich gegen Niemand aus über sein Glauben und Wähnen, im Stillen nur zog er Erkundigungen ein. Was er hörte, bestätigte, daß Georg zur Vollziehung des Urtheils bestimmt worden sei. Der junge Nachrichter sollte sein Meisterstück machen. Zipser wiegte nachdenklich sein Haupt und ein schadenfrohes Lächeln spielte um die fest geschlossenen Lippen.

Drei Wochen noch hatte Georg Zeit sich vorzubereiten auf die schwere Pflicht, die ihm von obrigkeitswegen auferlegt ward. Zipser behauptete, die Obrigkeit handele in diesem Falle ungesetzlich, willkürlich. Die Verbrecherin gehöre in den Bezirk der Stadt, in welcher er selbst als Nachrichter angestellt sei, und deshalb gebühre ihm die Vollstreckung des Urtheiles, Einspruch thun aber wolle er nicht, da es sich hier um die Einführung eines Neulings handele; dennoch bezweifle er, daß Georg Muth und Kaltblütigkeit genug haben werde, um den Befehl der Obrigkeit auch wirklich vollziehen zu können.

Der greise Mann stieg jetzt wieder zu Pferde, was er längere Zeit unterlassen hatte, und in seinen auffallenden Mantel gehüllt, ritt er hinaus auf die Richtstätte, wo bereits Vorbereitungen getroffen wurden. Diesen Ritt wiederholte er regelmäßig alle Tage, umkreiste in ziemlicher Entfernung den Richtplatz regelmäßig drei Mal und sprengte alle Mal, wenn es zwölf Uhr Mittags schlug, im wildesten Galopp zurück nach seiner Wohnung.

Wozu sollten diese nutzlosen Ritte dienen? Keiner konnte sich dies erklären, Jedermann aber sprach davon, und ehe noch acht Tage vergangen waren, raunte Einer dem Andern zu, der alte Zipser habe die Richtstätte in den Bann gethan, weil man ihm sein Recht nicht geben wolle, sondern einen Andern, einen jungen Laffen ihm vorziehe. Er selbst schwieg, nach andern acht Tagen aber sahen Einige mit wahrem Entsetzen, daß auch die drei Raben ihrem geheimnißvollen Herrn bei seinen Besuchen des Richtplatzes folgten und jedes Mal, wenn er seinem Rappen die Zügel schießen lasse, mit lautem Gekrächze hinter ihm herflögen.

Diese Ritte des alten Mannes und sein unerklärliches Treiben während derselben konnte Georg nicht verborgen bleiben. Zwar ließ er sich nichts merken, wohl aber ward ihm nicht dabei. Unwillkürlich gedachte er Zipser’s drohenden Worten und der vielen Gerüchte, die über ihn umgingen. Wenn er nun wirklich im Besitz von Geheimmitteln war, die Andere nicht kannten, wenn er einen Gebrauch von verborgenen Naturkräften machte, deren Wirkung nur er selbst vorauszuberechnen verstand: konnte er dann ihn nicht mit heimlich gelegten Schlingen umgarnen und sein ganzes zukünftiges Glück tückisch zerstören?

Einige Tage vor der Urtheilsvollstreckung trieb Georg die Angst nach der Richtstätte. Gern wäre er am hellen Tage dahin gegangen, aber er fürchtete dem unheimlichen Greise zu begegnen, und ein Zusammentreffen mit diesem seinen Feinde wollte er um jeden Preis vermeiden. Er wartete deshalb die Dunkelheit ab, wo er in so verrufener Gegend Niemand zu treffen besorgen durfte.

Die Stätte, wo das Hochgericht stand – ein hohes, halbrundes Gemäuer, aus dessen mit Nesseln und Ginster verwachsenem Innern eine steinerne Treppe nach einer nur wenige Fuß breiten Plattform führte – war öde genug. Hüben und drüben breitete sich unbebautes, dürres Wiesenland aus, wo in der guten Jahreszeit große Heerden weideten, weshalb der fast eine Quadratmeile haltende Distrikt gewöhnlich nur die Viehweide genannt wurde. Eine Menge theils großer, theils kleinerer Vertiefungen – die Ueberbleibsel alter Lehmgruben, bildeten jetzt trübe Tümpel voll rauschenden Schilfes, die von zahllosen Unken bevölkert waren. Der melancholische Ruf dieser Thiere verstummte weder Tag noch Nacht, klang aber im falben Zwielicht der Dämmerung schauerlich und jagte jeden Wanderer rasch über das unwirthliche, von Allen gemiedene Land.

Georg ging absichtlich recht langsam durch die schmalen, wenig betretenen Pfade, welche sich schlangenartig um die rauschenden Tümpel wanden, in deren Tiefe die Unken stöhnten. Er achtete genau auf jeden Gegenstand. Das Unbedeutendste entging seiner Aufmerksamkeit nicht, auf jedes Geräusch horchte sein Ohr, das scharfe Auge durchdrang weithin das farblose Dunkel. Es begegnete ihm jedoch nichts Auffallendes oder gar Störendes. Selbst im Mauerrund des alten Richtsteines raschelten nur ein paar Blindschleichen im Ginster. Festen Schrittes erstieg der junge Mann die Treppe und trat hinaus auf den steinernen, umfriedeten Rand. Da stand der Stuhl, welcher die Verurtheilte aufnehmen sollte. Georg befühlte das Holz, umschritt es, trat an die Umfriedigung und blickte nach der Stadt, deren Thürme aus nebligem Dunst schwarz und finster emporragten. Der Schein eines einzigen Lichtes glimmerte über der braunen Heidefläche. Georg kannte die Gegend genau, er wußte, wo jenes Licht brannte, und ungestümer fühlte er sein Herz pochen.

[680] „Wenn sie wirklich um mich leiblich zu Grunde ginge,“ sprach Georg nachdenklich, „ich würde doch nie ganz glücklich werden. Aber ich liebe sie nicht, ich liebte sie nie! … Wie bleich saß sie letzthin am Flußrande, wie träumerisch sah sie vor sich hin auf das ausgebreitete Linnen, das in der Sonne bleichte! Sie dauert mich und dennoch – dennoch konnte ich nicht anders handeln. Der Alte, o der Alte ist an Allem Schuld!“

Die letzten Worte hatte Georg unvermerkt so laut gesprochen, daß die Stimme des Echos das Wort „Schuld“ halblaut wiederholte. Er fuhr zusammen und ein unbehagliches Gefühl beschlich ihn. Ohne sich weiter umzusehen, verließ er die Richtstätte und suchte auf dem geradesten Wege die Heimat auf.

Am Tage der Urtheilsvollstreckung strömten von nah und fern viele tausend Menschen herbei, um, wie dies bei derartigen Gelegenheiten immer geschieht, Zuschauer und Zeugen des blutigen Schauspiels zu sein. Alle Höhen und kleinen Hügel in der nächsten Umgebung der Richtstätte waren mit Neugierigen besetzt, selbst die vereinzelt stehenden Eichbäume trugen auf ihren knorrigen Aesten Knaben und Männer..

Es war ein heißer Augusttag, die Luft klar und still. Gegen zehn Uhr Vormittags zeigte eine vor dem Stadtthore aufwirbelnde dicke Staubsäule den draußen Harrenden an, daß der Trauerzug mit der Delinquentin sich nähere. Eine Viertelstunde später war die Unglückliche am Platze. Gleichzeitig mit dem Eintreffen der Delinquentin erschien auch ein Reitersmann, der sofort Aller Augen auf sich zog. Die Meisten kannten und erkannten diesen Mann. Einer flüsterte es dem Andern zu: „Er ist’s! Es ist der alte Zipser!“ und Mancher deutete mit der Hand nach dem Rappen, der jetzt gerade durch die zurückweichende Menge sich Bahn brach und in gemessenem Trabe dem Rabensteine sich näherte.

In einer Entfernung von etwa hundert Schritten hielt Zipser sein Roß an, hob sich hoch auf in den Bügeln, daß seine imposante Gestalt mit dem wallenden Silberhaar weithin erkennbar war. Er trug seinen auffallenden Hut und den schwarzen faltigen Mantel mit dem hechrothen Unterfutter.

Noch zeigte sich Niemand auf dem Richtsteine, als ein Knecht. Zipser erhob seine Rechte, stellte sich abermals in die Bügel und beschrieb langsam mit der erhobenen Hand einen Kreis in der Luft. Hierauf ließ er sich zurücksinken in den Sattel, spornte den Rappen, daß er wiehernd in die Zügel biß und sich in einen stolzen Galopp setzte. Es gewährte einen prächtigen und eigenthümlichen Anblick, wie der seltsam gekleidete Mann, das Haupt von greisem Haar umwallt, hoch aufgerichtet wie ein mächtiger Herrscher, dem Alles Unterthan ist, um den Rabenstein galoppirte. Als er ihn einmal umkreist hatte, trat Georg mit den Beiständen aus der Mauerhöhlung auf die schmale Plattform. Ihm folgte, von zwei Knechten geführt, die Verurtheilte. Sie sah bleich, gebrochen, aber rührend schön aus in dem Schmerz, der sie erfüllte und zitternd vor dem Tode, den sie zugleich fürchtete und verwünschte. Ein gemeinsamer Laut des Mitleids entrang sich den Lippen Tausender.

Der stolze Reiter konnte Georg nicht entgehen. Er sah den Greis und zuckte zusammen. Zum zweiten Male umkreiste Zipser, in kurzen Pausen seine behandschuhte Rechte über das Haupt erhebend und dann wieder senkend, das Schaffot. Als er zum dritten Male sich im Sattel hob, vernahmen Viele ein krächzendes Geschrei, und mit hastigem Flügelschlage zogen drei Raben über die Menschenwoge dahin und folgten dem unheimlichen Reiter auf seinem Ritte.

Jetzt hielt der alte Mann sein Roß an und stellte sich im Angesicht des Rabensteines so auf, daß Georg ihm bei Ausübung seines Amtes gerade in das ernste versteinerte Antlitz sehen mußte. Die Raben aber flogen rastlos, immer ihr häßliches Geschrei ausstoßend, in weit gezogenen Kreisen um das Schaffot.

Georg wechselte mehrmals die Farbe. Er vermied es, dem unglücklichen Mädchen in’s Gesicht zu blicken, denn diese bleichen, wehmuthweichen Züge, dies bittende, im Schmerz schon halb gebrochene Auge gemahnten ihn an Sabine. Bisweilen sah er wirklich nicht die Verurtheilte, sondern die verlassene Braut vor sich, und eine furchtbare Angst bemächtigte sich seiner Seele.

Je näher die Minute kam, wo er das Bluturtheil vollziehen sollte, desto heftiger wurden seine Beängstigungen. Es flirrte ihm vor den Augen, die Hände zitterten, rothe und blaue Lichter zuckten in der hellen glühend heißen Augustluft. Die Raben aber zogen fort und fort ihre magischen Kreise um den Gebannten und der alte Nachrichter saß regungslos wie ein Geist auf seinem schwarzen Hengste.

Endlich schlug die verhängnißvolle Stunde. Das Urtheil war der Unglücklichen nochmals verlesen worden; kräftige Männerhände fesselten sie an den Stuhl, eine Binde legte sich um die Augen der Halbtodten.

Man reichte Georg das Schwert. Zitternd und zögernd ergriff er es – die Raben schrieen lauter und flogen in engeren Kreisen um das Schaffet.

Georg zückte, seinen ganzen Muth zusammennehmend, das Schwert, senkte es aber sogleich wieder, um zögernd einen Schritt zurückzutreten. Der Geistliche näherte sich dem zagenden Manne und sprach ihm ermuthigende Worte zu. Georg seufzte und erhob abermals das blitzende Richtschwert. Die Raben schwebten jetzt [681] dicht über dem Schaffot und die Augen Zipser’s waren unbeweglich wie ein paar Fixsterne auf Georg gerichtet.

„Ich kann den Streich nicht führen,“ stotterte der entsetzte junge Mann, „denn nicht die Kindesmörderin, eine Andere, eine Unschuldige sitzt vor mir auf dem Schemel!“

„Wer ist es?“ fragte der Geistliche.

„Sabine Zipser,“ lallte Georg, „die Tochter des Mannes, der dort auf seinem Rosse zu uns herüberblickt!“

Dies Zögern des Nachrichters machte die harrende Menge unruhig. Ein dumpfes Murmeln rollte rund um die Richtstätte, wie ein bewegtes Meer wogte die Menschenmasse ruhelos hin und her. Die Gerichtspersonen drangen mit ernsten Ermahnungen in Georg, daß er thue, was seines Amtes sei und ein Ende mache.

So gedrängt faßte der erschrockene Mann noch einmal all’ seinen Muth zusammen, wie er aber das Schwert zum tödtlichen Streiche erhob, sah er zwei Personen vor sich sitzen, die Beide Sabine’s Züge trugen. Er senkte den Mordstahl, kehrte sich um und sprach, beide Hände über seine getäuschten Augen legend, zu einer der anwesenden Gerichtspersonen: „Ich bin geblendet! Rufen Sie den Alten dort unten, er wird das Urtheil vollziehen!“

Man hatte keine Zeit zu langer Berathung. Die Stunde war beinahe abgelaufen, Eile war nöthig. Ein schnell abgeschickter Gerichtsdiener rief den gefürchteten Mann herbei, der diesem Rufe unverweilt Folge leistete. Als Zipser die Plattform des Gemäuers betrat, entfernten sich die krächzenden Raben und verschwanden schnell den Augen der verwunderten Menge. Bereit, das Urtheil zu vollstrecken, wollte ihm Georg das Schwert reichen. Zipser wies es kalt zurück, seinen flatternden Mantel lüftend.

„Nicht Dein Schwert, das meinige hat geklungen,“ sprach er laut genug, daß die zunächst Stehenden ihn hören konnten, „mit meinem Schwerte will ich richten!“

Noch während er sprach, funkelte der breite Stahl im heißen Sonnenlicht, ein blitzartiger Schimmer zuckte durch die Luft – das Urtheil war vollstreckt. Stolz wandte sich der alte Nachrichter zu den Gerichtspersonen, entblößte sein weißes Haupt und richtete an sie die übliche Frage: „ob er recht gerichtet habe?“ Als er die ebenfalls übliche Antwort: „Du hast gerichtet, wie es Urtheil und Recht mit sich gebracht,“ vernommen hatte, schlug er den Mantel wieder über das gereinigte Schwert, trat zu dem bleich gewordenen Georg und sagte zu diesem:

„Willst Du frei werden und Deiner Sinne mächtig, so komme zu mir. Meine Thüre wird geöffnet sein.“

Damit grüßte er das Gericht und verließ das Schaffot. Wenige Minuten darauf saß er wieder zu Rosse und sprengte in Galopp zwischen den moorbraunen Tümpeln über das dürre Land seiner Wohnung zu.

Diesmal folgte Georg der Einladung des greisen Mannes. Er fand ihn allein in seinem Cabinet, zwischen seinen verständig aussehenden Katzen und den gravitätisch herumwandelnden Raben. Das Gespräch zwischen beiden Männern war kurz aber ernst. Georg bekannte sein Unrecht und bat den Vater, sein Fürsprecher bei Sabine zu sein.

„Nicht meine Künste, die nur in der Einbildung existiren,“ sagte Zipser, „Dein böses Gewissen hat Dir die Sehkraft geraubt. Ich selbst und meine gehorsamen Raben waren nur Helfershelfer. Das sei eingedenk von jetzt an bis an’s Ende, und nun geh’ und sprich mit Sabine.“

Am Abend dieses Tages, der für Georg unter so traurigen Auspizien begonnen hatte, war große Freude im Hause des geheimnißreichen Nachrichters. Tags darauf wurde die Verlobung Georg’s mit Sabine öffentlich bekannt gemacht. Schon einen Monat später ward das junge Paar getraut; Sabine erblühte in neuer Jugendfrische und man hat nie gehört, daß Georg über Mangel an Liebe oder gar über Kälte und Gleichgültigkeit seiner glücklichen Frau Klage geführt habe. Der alte Zipser lebte noch lange Jahre. Wer seinen Rath begehrte, dem half er in seiner wunderlichen Weise, die Raben aber schaffte er unmittelbar nach der Hochzeit seiner Tochter auf besonderes Bitten des ihm völlig ergebenen und innig dankbaren Schwiegersohnes für immer ab.