Zahnoperation unter Schwierigkeiten
[440] Zahnoperation unter Schwierigkeiten. Die Besucher von Mauder’s Menagerie (der reichhaltigsten Englands), augenblicklich in Glasgow, waren am verflossenen Mittwoch (31. Mai) Augenzeugen einer gewiß in ihrer Art einzig dastehenden Operation, über deren Verlauf im Allgemeinen die Zeitungen zwar bereits berichtet haben, deren nähere Umstände wir aber unseren Lesern nach einer directen Mittheilung vom Operationsplatze her schildern können. Es handelte sich nämlich um nichts mehr und nichts weniger als einem ausgewachsenen starken Löwen einen hohlen Zahn auszuziehen.
Maccomo, der berühmte Löwenzähmer in Mauder’s Menagerie, hatte vor einiger Zeit diesem Löwen bei der Dressur einen derben Schlag über die Kinnlade versetzt, da ihn Erfahrung gelehrt, daß Schläge auf andere Theile des Kopfes, wenn das Thier gereizt wurde, ohne Wirkung blieben und ihn großer Gefahr aussetzten. Durch diesen Schlag scheint der Löwe ziemlich bedeutend verletzt worden zu sein; er wurde sehr niedergedrückt, fraß wenig, und was ihm gereicht wurde, mußte in feine Stücke geschnitten werden.
Herr Mauder erwähnte dieses Gegenstandes vorige Woche seinem Arzte, welcher sofort die Vermuthung aussprach, daß wahrscheinlich durch den erwähnten Schlag ein Zahn gelockert oder die Kinnlade zerschlagen worden sei. Er bot sich ferner an, den Löwen zu operiren, vorausgesetzt, daß Herr Mauder die Bestie sicher fesseln könnte. Diese freiwillige Offerte wurde nach kurzem Ueberlegen von Herrn Mauder angenommen und der Tag bestimmt. Zuerst wurden die Vorderfüße gesichert und mit starken Seilen an dem doppelt starken Eisengitter befestigt; sodann wurde der Kopf mit einem Lasso gefangen und ebenfalls mit Seilen derart angebunden, daß das Thier sich mit dem Vorderkörper so wenig wie möglich bewegen konnte. So gefesselt überließ man die Bestie ihrer Wuth, und schrecklich, aber zugleich erhaben war es anzuschauen, wie sie sich von der Umgürtung zu befreien suchte und dabei brüllte, daß es Einem Mark und Bein erschütterte. Den fürchterlichen Anstrengungen folgte nach einer halben Stunde vollständige Ermattung, und jetzt war der Augenblick gekommen, die Operation vorzunehmen.
Ohne Zagen bestieg der Doctor, von einem andern Arzte begleitet, eine vor dem Käfige aufgestellte Tonne; ein Stück Holz wurde dem Thiere vorgehalten und gierig schnappte es nach demselben und in den offenen Rachen wurde sofort eine Maulsperre geschoben. Nachdem der Rachen gehörig ausgewaschen, das Werk von einer Minute, steckte der unerschrockene Doctor seinen Arm in denselben, strich mit seiner Hand über die Zähne und fühlte im nächsten Augenblick, daß einer der Hinterzähne lose war. – Ueberzeugt, daß dies die Ursache des Uebels, machte er sich sofort daran, mit bereit gehaltenen Zangen den Zahn herauszunehmen.
Wahrhaft grenzenlos war nun die Wuth des Thieres, das Gebrüll ohrzerreißend, und die Angst um den waghalsigen Doctor unbeschreiblich. Unbeirrt setzte er jedoch das begonnene Werk fort und nach einigen Minuten hatte er die Genugthuung, den losen Zahn, der an der Wurzel angefressen und außerdem zerbrochen war, in seinen Händen zu haben.
Vollständig niedergebrochen durch Wuth und Schmerz, sank das stolze Thier zu Boden, während es aber ruhig dalag, schnitt der Doctor in das Fleisch der unteren Kinnlade und fand, daß dieselbe, wenn nicht gebrochen, so doch stark beschädigt sei. Der Zustand des Thieres ließ jedoch eine weitere Operation für diesen Tag nicht zu, und Herr Mauder will auch erst sehen, ob eine solche nöthig ist. Die neuesten Bulletins über den Zustand des hohen Patienten, der jetzt mit Fleischbrühe und Bordeauxwein ernährt wird, lauten günstig. Die ganze Operation mit Einschluß des Fesselns nahm nur anderthalb Stunden in Anspruch.
London, Anfang Juni.