CCCXCIX. Die Gegend um Baar und der Pilatus in der Schweiz Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band (1842) von Joseph Meyer
CCCC. Worms: der Dom
CCCCI. Archangel
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WORMS: – DER DOM

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CCCC. Worms: der Dom.




Du sahest einst Germaniens Völkerkraft,
Du sahst die Herrlichkeit des alten Roms,
Du sahst den Glanz des deutschen Kaiserthums,
De sahst den Mann, der einst mit großem Sinn
Der Welt die Glaubensfreiheit wiedergab! -
Wär’ gar nichts sonst aus jener hehren Zeit
Geblieben dir: es ruhte dennoch, Worms!
Mein Geist voll Ehrfurcht aus an deiner Stätte,
Und dächt’ an Weltgeschichte, Vaterland und Luther.


Im Duft und Schmelz der Legende stand das heilige Worms schimmernd vor der Seele des Knaben, und auf den Fluthen des Rheins rauschten die Sagenklänge des Vaterlandes in dessen Vorstellungen herüber. Siegfried und Chriemhilden, den Königsdom und den Rosengarten, den Landungshafen und all’ die andern Stätten der Sage, umspannte meine rege Phantasie auf einmal, sobald der Name Worms genannt wurde, und die Kluft der Zeit überspringend, reihete sie unmittelbar daran die große Schlußscene des Mittelalters – Luther vor Kaiser und Reich. Ein Gewand, das Zaubergewand kindlicher Poesie, umhüllte das Ganze, die Schatten der Mythe, wie die Gestalten der Geschichte. Worms kam meiner deutschen Knabenseele vor, wie eine Königin der Städte, wie die rechte deutsche Maaleiche, an deren Stamm und Aesten sich alles Große und Herrliche im Vaterlande mit seinen Blüthendolden und Früchten hinanrankte und klammerte. So recht aus dem Grunde des Gemüths gedachte ich ihrer nur mit Ehrfurcht, und ich beneidete den Schiffer, der an ihren Mauern und Thürmen vorübersegelte, oder den Handwerksburschen, der dort einspräche, wie der Gläubige den Pilger beneidet aus dem heiligen Lande. Diese Vorstellungen verschwanden freilich bald genug und schon, als ich die nüchterne Erkenntniß mit aus der Schulstube nach Hause brachte. Dem alternden Mann aber ist kaum ein schwacher Nachhall in der Erinnerung geblieben, und des guten Worms Wirklichkeit ist auch wenig dazu geeignet, das buntschimmernde, idyllische Bild wieder aufzufrischen.

[76] Denn die ehemals so gefeierte, so große Reichsstadt ist, weniger unter der Last der Jahre, als vielmehr unter dem Drucke und der Geißel der Kriege, zusammengeschrumpft zu einer mittelmäßigen Landstadt des Großherzogthums Hessen, die kaum 8500 Einwohner zählt. Keine der alten, deutschen, großen Rheinstädte ist so tief gesunken, keine auch hat das Schicksal so hart verfolgt, für keine endlich ist zur Wiedererhebung so wenig geschehen. Seine großartigen Denkmale – Zeugen der Zeiten seines Glanzes und seiner Herrlichkeit – sein edler Dom, die Martins-, die Andreas-, die Dreifaltigkeitskirche, die Trümmer seiner Thore, seiner Pfalz, seiner gewaltigen Mauern und Thürme, Trümmer, auf die der wiedererwachte deutsche Volksgeist erröthend sieht, sind gleichsam Riesennoten einer Nationalelegie. Sie konnten auch wohl zur Melodie deutschen Schlachtgesangs dienen, wenn einmal die Buchstaben in den Friedenspakten unleserlich würden, oder eine kecke Hand sie verwischte. Doch diese Möglichkeit paßt schlecht zu meiner Weltanschauung, und zu den Hoffnungen, welche sich daran knüpfen, nicht für das Vaterland allein, sondern auch für die Menschheit. Ich lasse sie fallen und trete zu unserm Bilde.

Der Wormser Dom, die Krone und Zierde der Stadt, behauptet unter den Denkmälern byzantinischer Bauart in Deutschland eine der ersten Stellen. Der Charakter dieses Tempels ist Großartigkeit und jene ernste, ruhige Beschlossenheit und Einfachheit der Form, die dem Baustyle eigenthümlich ist, in dem er aufgeführt wurde. Vier runde, colossale Thürme begrenzen die beiden Chöre und machen den 500 Fuß langen und 120 Fuß breiten Riesenbau zu einer wahren Burgveste Gottes. Die Bauzeit derselben umfaßt die Periode von 996–1115, und sie steht auf der Stelle, wo schon im sechsten Jahrhundert eine Basilika des heiligen Petrus stand. Der späteren Veränderungen waren zu wenige am Dome, um seinen architektonischen Charakter zu beeinträchtigen, und die Festigkeit des Baus, welcher die fürchterlichsten Wetter des Kriegs, denen die übrige Stadt erlag, bestand, läßt noch eine Dauer von vielen Jahrhunderten hoffen. Im Innern des Doms herrscht die nämliche Einfachheit, Würde und Festigkeit, wie im Aeußern. Die aus leichtem Tufstein gewölbte Decke wird von eilf Säulen getragen, und die Thürme an den Ecken der Chöre wölben sich zu hohen Kuppeln. Die Schätze der altdeutschen Kunst, welche der Dom ehemals an Grabmonumenten u. s. w. hatte, sind durch den Vandalismus der Franzosen zernichtet worden; die Wände sind kahl: aber dieser Mangel an statuarischem Schmuck läßt die Herrlichkeit des Baus selbst um so imposanter und ungestörter hervortreten, und der Eindruck wird gehoben, nicht vermindert. Nothdürftig erhalten sind nur noch einige Fresken und Skulpturen in den Seitenkapellen etc.; sodann ein paar für die Kunstgeschichte sehr interessante Gemälde auf Holz mit Goldgrund. Es sind Darstellungen der beiden Schutzheiligen der Kirche.