Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band | |
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Denn die ehemals so gefeierte, so große Reichsstadt ist, weniger unter der Last der Jahre, als vielmehr unter dem Drucke und der Geißel der Kriege, zusammengeschrumpft zu einer mittelmäßigen Landstadt des Großherzogthums Hessen, die kaum 8500 Einwohner zählt. Keine der alten, deutschen, großen Rheinstädte ist so tief gesunken, keine auch hat das Schicksal so hart verfolgt, für keine endlich ist zur Wiedererhebung so wenig geschehen. Seine großartigen Denkmale – Zeugen der Zeiten seines Glanzes und seiner Herrlichkeit – sein edler Dom, die Martins-, die Andreas-, die Dreifaltigkeitskirche, die Trümmer seiner Thore, seiner Pfalz, seiner gewaltigen Mauern und Thürme, Trümmer, auf die der wiedererwachte deutsche Volksgeist erröthend sieht, sind gleichsam Riesennoten einer Nationalelegie. Sie konnten auch wohl zur Melodie deutschen Schlachtgesangs dienen, wenn einmal die Buchstaben in den Friedenspakten unleserlich würden, oder eine kecke Hand sie verwischte. Doch diese Möglichkeit paßt schlecht zu meiner Weltanschauung, und zu den Hoffnungen, welche sich daran knüpfen, nicht für das Vaterland allein, sondern auch für die Menschheit. Ich lasse sie fallen und trete zu unserm Bilde.
Der Wormser Dom, die Krone und Zierde der Stadt, behauptet unter den Denkmälern byzantinischer Bauart in Deutschland eine der ersten Stellen. Der Charakter dieses Tempels ist Großartigkeit und jene ernste, ruhige Beschlossenheit und Einfachheit der Form, die dem Baustyle eigenthümlich ist, in dem er aufgeführt wurde. Vier runde, colossale Thürme begrenzen die beiden Chöre und machen den 500 Fuß langen und 120 Fuß breiten Riesenbau zu einer wahren Burgveste Gottes. Die Bauzeit derselben umfaßt die Periode von 996–1115, und sie steht auf der Stelle, wo schon im sechsten Jahrhundert eine Basilika des heiligen Petrus stand. Der späteren Veränderungen waren zu wenige am Dome, um seinen architektonischen Charakter zu beeinträchtigen, und die Festigkeit des Baus, welcher die fürchterlichsten Wetter des Kriegs, denen die übrige Stadt erlag, bestand, läßt noch eine Dauer von vielen Jahrhunderten hoffen. Im Innern des Doms herrscht die nämliche Einfachheit, Würde und Festigkeit, wie im Aeußern. Die aus leichtem Tufstein gewölbte Decke wird von eilf Säulen getragen, und die Thürme an den Ecken der Chöre wölben sich zu hohen Kuppeln. Die Schätze der altdeutschen Kunst, welche der Dom ehemals an Grabmonumenten u. s. w. hatte, sind durch den Vandalismus der Franzosen zernichtet worden; die Wände sind kahl: aber dieser Mangel an statuarischem Schmuck läßt die Herrlichkeit des Baus selbst um so imposanter und ungestörter hervortreten, und der Eindruck wird gehoben, nicht vermindert. Nothdürftig erhalten sind nur noch einige Fresken und Skulpturen in den Seitenkapellen etc.; sodann ein paar für die Kunstgeschichte sehr interessante Gemälde auf Holz mit Goldgrund. Es sind Darstellungen der beiden Schutzheiligen der Kirche.
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1842, Seite 124. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_9._Band_1842.djvu/132&oldid=- (Version vom 1.1.2025)