Wohin? (Gartenlaube 1886)

Textdaten
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Autor: Hermann Heiberg
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Titel: Wohin?
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aus: Die Gartenlaube, Heft 26, S. 466–467
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Wohin?

Eindrücke vom Nord- und Ostseestrand.0 Von Hermann Heiberg.


Immer ist noch das Räthsel zu lösen, weßhalb der Blick auf das Meer niemals ermüdet, die schönste Landschaft aber zuletzt einen einförmigen Charakter annimmt.

Vielleicht liegt das Räthsel in dem Räthsel selbst!

Wie das Antlitz eines Menschen nur einen Theil verräth von dem, was in seinem Innern vorgeht, und immer von Neuem zum Nachdenken anzuregen vermag, so hat auch die Welle ihr verborgenes Leben, und ihre Erscheinung hat etwas Majestätisches, dem der Beschauer sich unwillkürlich unterordnet.

Freier, vornehmer ist das Antlitz des Meeres, als das der Landschaft; selbstbewußter erscheint die See, und Größeres, Gewaltigeres pulsirt in ihr schon durch das ruhelose Wesen. – Aber auch ihr Athem ist ein reinerer, reiner selbst, als der des Waldes, welcher durch seine schweigsame Würde etwas Verwandtes aufweist.

Alle Berichte aus den frühesten Zeiten der Erdentwickelung sprechen von dem großen Wasser, aus dem erst das Land sich schied.

Die Woge trennte sich von dem Lande. Einst waren sie vermählt. Nun umspült das Meer die Küsten, wie man sich einem guten Freunde liebkosend naht, und nur, wenn einmal der Zorn die Welle peitscht, stürmt sie mit gierigem Anlauf gegen die feste Erde auf und erinnert diese an die frühere Herrschaft, – an ihre immer noch bestehende Macht.

[467] Die Wasser des Nordens, die Ost- und die Nordsee, haben ein so verschiedenartiges Gepräge, daß das angrenzende Land, die dort wohnenden Menschen und selbst die Vegetation im Osten und Westen ihre besondere Physiognomie aufweisen. Und nirgend scheint mir dieser besondere Charakter schärfer und eigenartiger ausgeprägt an der Nordseeküste, als auf der Insel Sylt. So zornig rauschte seit undenklichen Zeiten die Welle gegen die Ufer, so beeinflußten die Niederschlüge das Land, daß Laubholz, wie z. B. in Westerland, nur an einer einzigen Stelle zu finden ist.

Sylt gleicht einem meerumspülten Eiland aus der Sagenzeit, während manche Gegend an der Ostsee, wie beispielsweise Heiligendamm, als ein lachender Zaubergarten erscheint.

Wie die Heide mit ihrer träumerischen Einförmigkeit uns unerklärlich anzieht, so übt auch die Insel Sylt mit ihrer an wechselnder Scenerie armen Fläche einen seltsamen Zauber aus.

Ich war im heißen Sommer dort und ließ die märchenhafte Ruhe des Landes und die imposante Bewegung der See jeden Tag auf mich einwirken. Eben lag ich noch im Sonnenschein, umgeben von Heide- und Thymianduft auf einem einsamen Fleck Erde. Ein heiliges Schweigen ward durch keinen Laut unterbrochen. Der Friese singt nicht. Niemals hörte ich das Bellen eines Hundes – und der Wind schien schlafen gegangen zu sein einen ewigen Schlaf.

Aber wenn ich mich dem Hohlweg der Dünen näherte, schlug ein dumpfer Donner an mein Ohr, der zunahm, je weiter ich schritt. Und nun plötzlich – lag das große, blaue Meer mit seinem schneesilbernen Lächeln auf jeder Welle vor mir, in Gold gebadet das unruhige, rauschende, grollende, tobende Element. Nirgend ein ähnlicher Gegensatz, eine gleiche Ueberraschung! Denn die Dünen des Insellandes sind hoch, und ihre weißsandigen Berge stehen als Wächter da, nicht nur gegen die überfluthenden Launen der See, sondern sie verzehren mit ihren riesigen Leibern auch die grollenden Töne und den Donner, die den Ruhesuchenden und still in sich Gekehrten auf dem Festlande verwirren könnten.

Durch diese eigenartigen Gegensätze ist Westerland auf Sylt vor allen Punkten an der Nordsee so überaus anziehend und kann nicht genug allen Denen empfohlen werden, die einen reinen Athem brauchen und in dem sanften Weben der Natur so gut, wie in dem erhabenen Bilde, das die See ausbreitet, dem Geiste Ruhe, Erfrischung und Stärkung, dem Körper Abhärtung und Kraft zurückgeben möchten.

Es ist ein Irrthum, zu glauben, als sei Sylt, weil es sich vor sämmtlichen anderen Nordseebädern dnrch den stärksten Wellenschlag auszeichnet, in seinen klimatischen Verhältnissen auch am rauhesten und der Aufenthalt daselbst nur kräftigen Naturen zuträglich.

Das Gegentheil ist der Fall. Die Insel hat als Vollinsel vollständiges Seeklima und besitzt durch die salzfeuchten, ozonreichen Niederschläge stets abgemilderte Temperatur, so daß man auch bei stürmischer Witterung Tag und Nacht, nur mit einem Rocke bekleidet, einherschreiten kann und dabei niemals von Erkältung heimgesucht wird.

Die übrigen gesundheitlichen Vorzüge eines Aufenthalts gerade am Meer – sei es an der Nord- oder Ostsee, mit der stehenden Unterscheidung zwischen den stärkeren und schwächeren Bädern, für deren Wahl immer der Rath eines erfahrenen Arztes eingeholt werden muß, – sind zu bekannt, um hier des Nähern erörtert zu werden.

Aber einige andere Bemerkungen über die Insel als Badeort mögen noch Platz finden. Ein wesentliches Hemmniß für den rascheren Aufschwung – Sylt begann einst mit 150 Badegästen und zählte in letzter Saison gegen 3000 – bildeten bisher die Verkehrsverhältnisse. Allein man kann jetzt beispielsweise von Berlin bequem in einem Tage Westerland erreichen und die Ueberfahrt durch das Wattenmeer von Munkmarsch bei der Route über die schleswigsche Stadt Tondern geht durch ein so ruhiges Fahrwasser, daß Seekrankheiten wohl kaum vorkommen, während unter anderen die Ueberfahrten von Hamburg oder Cuxhaven nach Helgoland bei der meist unruhigen See häufig Uebelbefinden hervorrufen.

In Westerland-Bad befinden sich jetzt acht sehr wohnlich eingerichtete Hôtels mit guten Zimmern und Betten und einer trefflichen Hamburger Küche. Ueberdies giebt es zahlreiche Bauernhäuser – alle musterhaft sauber – in denen man bequeme und sehr billige Wohnungen erhalten kann.

Wer in stiller Beschaulichkeit leben will, kann sich auf Sylt, namentlich in Wenningstadt, ganz zurückziehen und vermag stunden-, ja tagelange Spaziergänge landeinwärts oder an dem langgestreckten meilenweiten Strande zu unternehmen. Diejenigen aber, welche auch die äußeren Vorzüge eines modernen Bades genießen wollen, finden jetzt für alles Nothwendige und den heutigen Ansprüchen Angepaßte durch Koncerte, Reunions, Theatervorstellungen etc. gesorgt.

Am Strande befinden sich vier große Restaurationshallen, Wartepavillons, zahlreiche Strandzelte, Strandkörbe und Strandstühle. Ferner sind Turn-, Croquet- und Kegelspiele vorhanden und Eselfuhrwerke etc. zur Verfügung des Publikums gestellt. Zu Fuß, Pferde und Wagen werden außerordentlich lohnende Ausflüge nach zahlreichen sehenswerthen Punkten der Insel (auch unter Aufsicht der Direktion veranstaltete Pickenicks) unternommen. Bei allen Zerstreuungen wird aber eifrig dafür Sorge getragen, dem Badeleben seinen einfachen, ursprünglichen Charakter mit Vermeidung jedes Toilettenzwanges und sonstigen Luxus zu belassen.

Es empfiehlt sich, Sylt im Juni oder im September zu besuchen, da in diesen Monaten die Preise geringer, die Luft und die Bäder am kräftigsten sind.

Das Gleiche, was man von der Nordsee-Insel Sylt sagen könnte: „wer einmal diesen Fleck Erde kennen gelernt hat, wird ihn nicht wieder vergessen“ – läßt sich von Heiligendamm an der Ostsee behaupten.

Heiligendamm ist ein kleiner Zaubergarten, in dem man vergißt, daß es draußen noch eine geschäftige, athemlose, ansprucherhebende und sorgenvolle Welt giebt.

Es war im Juli des vorigen Jahres, als ich auf einem rasch dahineilenden Wagen das reizend belegene Doberan als Zwischenstation verließ und hart au dem prächtigen Walde, der die beiden Ortschaften verbindet, dem Orte meiner Bestimmung zufuhr.

Die immer das Auge gleich anmuthenden Bilder – grüne saftige Wiesen mit bunten Kühen, wogende Kornfelder und Aecker, hier und dort ein blühender Baum, über Allem ein lichter, blauer Himmel – machten mich noch empfänglicher für den Gegensatz zwischen Land und Stadt, die ich eben, arbeitsmüde und ruhebedürftig, verlassen hatte.

Nach einer halbstündigen Fahrt bog der Wagen in das waldumkränzte „Eden“ ein. Ein Portier in heller, blauer Livrée mit rothen Aufschlägen, der sich nach herkömmlichem Brauche zunächst jedem Ankommenden präsentirt, geleitete mich mitsammt meinem Koffer in meine Villa, und nun überflog mein Auge mit einem Blick den grünen Wald, das blaue Meer und – das ganze vornehme, saubere Antlitz des Bades.

In der That, ein entzückender Anblick! Keine Kunst könnte bilden, was die Natur hier in zärtlich besorgter Laune jür das Schöne schuf! Man denke sich einen langgestreckten, diesen Fleck Erde einrahmenden wundervollen Wald mit großen freien Wegen und hundert versteckten Plätzen, sonnig und kühl zugleich, angefüllt von Vogelgezwitscher und gehalten wie der Park eines englischen Lords. Und zwischen diesem und dem rauschenden, schwatzenden und kosenden Meere, über das die Sonne ihre Goldströme herabsendet, ein etwa halbstündiger, kiesbestreuter, zum Theil sich im Walde verlierender Weg, der mit kleinen Schlössern, Villen und Hôtels besetzt ist. Und jedes sauber, wie aus einer Nürnberger Schachtel geholt: schneeweiße Wände, ein dunkles Dach, blühende Bäume und Schlinggewächse, Veranden und Balkone! Und am Strande an der Landungsbrücke unzählige flatternde rothe, blaue, weiße, grüne und gelbe Fahnen in allen Farben, wundervoll sich abzeichnend gegen die blaue Luft und die sonstige Umgebung, als sei ein großes Fest zu feiern in den Gärten, in dem Walde und in den Häusern!

Aber es wird auch jeden Tag hier ein Festtag gefeiert: Sorgloses Genießen! Heiligendamm hat nun einmal ein immer lachendes Gesicht im vornehmsten Gewande!

Sämmtliche Logirzimmer in diesen Villen, Hôtels und kleinen Schlössern sind hell, luftig und durchweg elegant. Das Essen im Kurhause ist durchaus preiswürdig und von ausgezeichneter Güte, die Bedienung aufmerksam und bescheiden, wie ich sie – auf vielen Reisen – fast nirgend wiedergefunden habe.

Hübsch gekleidete Mädchen mit weißen Häubchen, Jacken mit kurzen Aermeln, und bunten Röcken, sauber wie Schneeflocken, bedienen in den Villen, in welchen man bereits Morgens sechs Uhr seinen Kaffee erhalten kann.

Im Kurhaus befinden sich Lesebibliothek, Apotheke mit sämmtlichen Mineralwässern und Zimmer des Arztes. Hier werden auch die warmen Bäder verabreicht – die Bäder in der offenen See liegen für die Herren am Ausgangspunkte des Villenterrains, für die Damen im großherzoglichen Viertel –, auch ein Römisches Bad ist vorhanden, und in den Geschäftszimmern der Verwaltung erhält man stets höflichen Nachweis über Alles bis auf die jetzt auch eingerichtete Massage.

Post- und Telegraphenbureau ist vorhanden. Segelboote laden zu Ausfahrten auf dem Wasser ein. Dampfschiffe vermitteln auf gemeinsames Verlangen den Besuch nahegelegener Bade-Orte, wie z. B. Warnemünde. Eisenbahn und treffliches Fuhrwerk führen uns unter Anderem nach dem interessanten Rostock und dem gleichsam in einem großen Park belegenen Stahlbad Doberan, das ein Theater besitzt, manche Sehenswürdigkeiten aufzuweisen hat und namentlich durch eine der schönsten Kirchen des Nordens berühmt ist. – Stundenlange Spaziergänge leiten in Heiligendamm durch den großen Wald. Wir gelangen an den Spiegelsee, der wie ein schwermüthiges, stillfunkelndes Frauenauge im Gehölz versteckt liegt und dessen Ufer umkränzt sind von goldgelben Blumen und nickendem Schilf.

Spiel-, Billard-, Klub- und Lesezimmer, Tanzsäle, Speisesalons, Frühstückveranden, der große table d’hôte-Raum befinden sich im Mittelbau und im Flügel des Kurhauses.

Gleich zur Linken aus dem Walde erschallt das „Alle Negen!“ von den Kegelbahnen des am Abend in bengalischer Beleuchtung blitzenden „Waldrestaurants“, das Jauchzen der Kinder zwischen den Orgeltönen vom Karrousel, von den Spielplätzen und den Schaukeln. Und – nun ertönt auch der kurze Knall von den Schießplätzen aus weiterer Ferne.

Manchmal erdröhnen auch Böllerschüsse; sie verkünden die Ankunft eines Kriegsschiffes, welches einen hohen Gast, wie im vergangenen Jahre die Prinzessin Wilhelm von Preußen, von einem Ausfluge zurückführt; ein flinker kleiner Wagen mit der rothlivréeten Dienerschaft der verwittweten Großherzogin von Mecklenburg-Schwerin, der Schwester unseres Kaisers – (die verwittwete Gemahlin des früheren Großherzogs und die Genannte haben Beide dort eigene Villen) – durcheilt das Parkgehölz. Fröhlich spielende Kinder im Gehölz und am Strande! Weißbesegelte, schlanke Fahrzeuge auf der blauen See, die murmelt oder braust, ihre Schaumwellen auftauchen und verschwinden läßt und ihren wunderbaren Athem ausströmt! Ein Kranz von Kurgästen auf der großen Kurhausveranda – Jeder in dem Gewande, das ihm behagt! Ankommende und abfahrende Equipagen, eine Reiterkavalkade, die von einem Ausfluge heimkehrt, Bärenführer, durchziehende Musikanten und von Spaziergängen wieder eintreffende Badegäste. Rasches, buntes Leben hier – einsame Stille dort! Das sind die Tageseindrücke von Heiligendamm!

Auch wer Heiligendamm mit seinen übrigens neuerdings ermäßigten Preisen besuchen will, gehe im Frühjahr oder später im angehenden Herbst dorthin. Er findet dasselbe und – zahlt weniger. Wenn das harmlosere Leben, die himmlische Ruhe, die noch kräftigendere Luft ohnedies mehr einladen, dann breche man dahin auf, und man wird’s nicht bereuen. Von Berlin ist Heiligendamm jetzt in reichlich 5 Stunden zu erreichen.