Textdaten
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Autor: Alfred Brehm
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Titel: Wildschafe in der Steppe
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 45, S. 753–757
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[754]
Wildschafe der Steppe.
Von Brehm.
(Mit Abbildung.)

Unter den unseren Hausthieren zunächst verwandten Wildarten Asiens stehen hinsichtlich ihrer Artenzahl die Wildschafe obenan. Wollten wir alle von verschiedenen Forschern aufgestellten Arten als solche anerkennen, so würden wir weit über ein Dutzend dieser beachtenswerthen Thiere zu verzeichnen und anzunehmen haben, daß fast jeder Gebirgszug eine besondere Art beherberge. Dies ist nun jedenfalls nicht der Fall, ebenso wie die beschriebenen Arten großentheils nichts anderes als Abarten sein mögen, immerhin aber bleiben mindestens sieben unbedingt verschiedene Wildschafe übrig, wenn wir, vergleichend und sichtend, alle zweifelhaften Arten als mit anderen zusammenfallend streichen.

Je nach ihrer Größe kann man drei Gruppen asiatischer Wildschafe annehmen: die riesenhaften Archare, welche waldlose Hoch- und Mittelgebirge bewohnen, die mittelgroßen Bergschafe, welche auf solchen Gebirgen und pflanzenarmen Hochebenen gefunden werden, und die kleinen Hochgebirgsschafe endlich, welche auf die höchsten Gebirge des Südens und Südostens beschränkt zu sein scheinen. Man hat diese Gruppen auch wohl als Sippen aufgefaßt; ihre Merkmale sind jedoch so übereinstimmende, daß eine derartige Trennung wissenschaftlich nicht aufrecht erhalten werden kann.

So viel vorläufig zum Verständniß des stolzen Thieres, welches ich in den Arkâtbergen sah und erlegte.

Der „Archar“ der Kirgisen ist meiner Ansicht nach dasselbe Wildschaf, welches die Mongolen Ostsibiriens „Argali“ oder „Ugoldse“, die Chinesen aber „Pan-jan“ nennen, Ovis Argali der Naturforscher. Seine Höhe erreicht, seine Stärke übertrifft die unseres Edelhirsches; sein Gewicht mag dem dreier Schafböcke ungefähr gleichkommen, falls nicht dasselbe überbieten. Die Länge eines von mir gemessenen und noch keineswegs vollkommen ausgewachsenen Bockes betrug 1,8, die Schulterhöhe 1,2, die Kreuzhöhe 1,25 Meter, die Länge des von mir erlegten Mutterschafes 1,55, die Schulterhöhe 1,05, die Kreuzhöhe 1,1 Meter. Das schlichthaarige, also nicht wollige, am Halse und der Brust verlängerte, jedoch nicht mähnige Fell hat im allgemeinen die Färbung der Felsen, auf denen das Thier den größten Theil seines Lebens verbringt. Abgesehen von Lippenrand und Nasenspitze, welche schwarz sind, ist das Gesicht des Bockes röthlich fahlgrau, der Hinterkopf wie der Nacken deutlich rothfahl, der Hals lichter, fahlgelblichgrau, der Leib auf Schultern und Vorderrücken, wie die Außenseite der Vorderbeine röthlich fahlgrau, ein bis zum ersten Drittel der Rückenlänge reichender Streifen lichter, die ganze übrige Oberseite, bis auf den ziemlich deutlich abgesetzten weißlich grauen Spiegel, einschließlich der Außenseite der Hinterbeine, dunkel röthlichgrau, das verlängerte Haar an Kehle und Vorderbrust lichtgrau, der Unterhals etwas dunkler, die Brust dunkelgrau, der Bauch wie die Innenseite der Beine wiederum lichter, der Augenstern endlich erzgelb. Die Färbung des Schafes stimmt zwar nicht in allen Einzelheiten, jedoch im Großen und Ganzen mit der des Bockes überein, und auch das junge, glatthaarige Lamm ähnelt bereits seinen Eltern in allen wesentlichen Stücken.

Das Verbreitungsgebiet des Archar erstreckt sich über den größeren Theil Mittelasiens. Erweislich kommt er bereits im Bezirke von Akmolinsk, also auf der östlichen Abdachung des südlichen Ural vor, und ebenso kennt man in der hohen Gobi, dem Altai, den Quellgebirgen des Irtisch und Jenisei sowie in Turkestan mehrere Standorte von ihm.

Bei dieser Aufzählung der verschiedenen Oertlichkeiten nehme ich allerdings an, daß Argali und Archar höchstens Abarten eines und desselben Wildschafes, nicht aber verschiedene Arten sind. Hierzu berechtigt, meiner Ansicht nach, die Eigenthümlichkeit des Thieres, seinen Standort nicht zu verlassen, mit anderen [755] Worten, nicht zu wandern. Innerhalb des von ihm bevölkerten Gebietes, welches unser kleines Europa mindestens zweimal in sich faßt, bewohnt der Argali keineswegs alle Gebirge oder Bergstöcke, sondern nur gewisse Theile von jenen und einzelne, oft weit von einander getrennte, von diesen, die eine Oertlichkeit wie die andere jedoch Jahr aus, Jahr ein. Solches Verharren begünstigt nun aber die Ausbildung von Stämmen im hohen Grade, und es erscheint daher richtiger, solche anzunehmen, als in jeglicher Abänderung eine besondere Art erblicken zu wollen. Vergleicht man viele Archargehörne, so machen sich zwischen ihnen freilich Unterschiede geltend, und diese können wohl auch ständige und erbliche sein; ich bezweifle indessen, daß man berechtigt ist auf sie Arten zu begründen. Jeder Gebirgstheil beherbergt offenbar die Nachkommenschaft eines einzigen oder doch höchstens einiger wenigen Paare, unter dieser Nachkommenschaft aber müssen sich, da sie zur Inzucht verurtheilt ist, Familieneigenheiten und Aehnlichkeiten herausbilden, und so werden sich mit der Zeit Stammeseigenthümlichkeiten entwickelt haben, welche zu falscher Auffassung verleiten können.

Solche Stämme erkennen wir auch bei anderen freilebenden Thieren, welche weit weniger als Wildschafe an ihrem Wohngebiete hangen. Jeder Geweihsammler weiß, daß Hirsche aus verschiedenen Gegenden auch bis zu einem gewissen Grade verschiedene Geweihe tragen. daß die Geweihe der Gebirgshirsche von denen der Auenhirsche sich merklich unterscheiden. Schafe aber sind Veränderungen in weit höherem Maße ausgesetzt als Edelhirsche, welche zwar auch nicht wandern, aber doch gelegentlich ein Wohngebiet mit dem anderen vertauschen. Wie nun in jeder Stammschäferei allmählich ein bestimmter Schlag sich ausbildet, so wird auch unter Wildschafen Aehnliches vorkommen, und nur, wenn wir dies berücksichtigen, kann es uns möglich sein, über die wirklichen Arten ein klares Bild zu gewinnen.

Bedingung, welche der Archar an seinen Wohnsitz stellt, ist, daß das von ihm besiedelte Gebirge wenigstens an einzelnen Stellen felsige Wände mit schwer zu erklimmenden Steilungen und gesicherten Felsenplatten aufweist; im Uebrigen scheinen seine Ansprüche gering zu sein. Auf die Ausdehnung des Wohnsitzes kommt es ihm nicht an. Die Arkâtberge sind nicht allein verhältnißmäßig unbedeutende Erhebungen, sondern erstrecken sich auch über ein so kleines Gebiet der Steppe, daß sie von einem Reiter wohl in drei bis vier Stunden Zeit umzogen werden dürften. Gleichwohl lebt auf ihnen der Archar seit Menschengedenken als ständiges Wild und findet sich weit und breit rings umher auf keinem anderen Bergzuge. So soll es überall sein. Unter Umständen genügt ein einziger Berg einer nicht ganz unbeträchtlichen Heerde. Breitsohlige Thäler zwischen den einzelnen Gipfeln des Berges oder Gebirgszuges und unbewaldete Matten, wenigstens auf einzelnen Gehängen oder Abdachungen, endlich auch eine gefahrlos zu erreichende, im heißen Sommer nicht versiechende Quelle sind anderweitige Bedürfnisse des Thieres.

Auf solchen Höhen verläuft dessen Leben in merkwürdig geregelter Weise. Als ausgesprochenes Tagthier verbringt der Archar die ganze Nacht schlafend oder doch ruhend auf einer und derselben Stelle, einer gesicherten, freie Umschau gewährenden Felsenplatte nämlich. Ob ihm hier im Winter der eisige Schneesturm um die Ohren pfeift, oder ob ihn im heißen Sommer der kühle Nachtwind erquicklich frischt, scheint ihm ziemlich gleichgültig zu sein. Tobt winterliches Unwetter, so verharrt er, auf seine Felsenburg und sein schützendes Fell vertrauend, auf seinem Schlafplatze und läßt sich einschneien, wie bei uns zu Lande der Hase im Lager; blaut freundlich der Himmel über der Steppe, so erhebt er sich am frühen Morgen, steigt gemächlich an den Bergen herab, weidet auf den Matten der Gehänge, in den Einsattelungen zwischen den Gipfeln, am Fuße der Berge und selbst in der freien Stelle, geht dann zur Tränke und kehrt, sobald die Sonne höher sich hebt, zu der luftigen Höhe zurück, um hier, das Gesicht dem Winde zugekehrt, behaglich zu ruhen und träumerisch wiederzukäuen. Wenn die Sonne sinkt, tritt er einen zweiten Weidegang an, um sich für die Nacht zu versorgen; noch ehe sie zu Rüste gegangen, liegt er jedoch wiederum auf seiner gewohnten Felsenplatte. In dieser Weise gestaltet sich der Tageslauf des Thieres jahraus, jahrein. Seine Wünsche reichen nicht weiter als der Fuß seines Wohnberges, und seine Behaglichkeit wird nur dann gestört, wenn die beiden schlimmsten Feinde, Mensch und Wolf, sein Leben bedrohen.

Im Vergleiche mit anderen Wiederkäuern darf man den Archar als vertrauensselig bezeichnen. Er ist weit weniger scheu als irgend eine Wildziege oder Antilope, jedoch keineswegs so unvorsichtig, daß er sich jede Gefahr über den Hals kommen ließe. Oberst Przewalski, der muthige Erforscher der Mongolei, fand ihn im Sumachadagebirge so auffallend an den Wanderhirten und sein Thun und Treiben gewöhnt, daß er nicht selten neben und zwischen dem Vieh der Mongolen weidete und einen Menschen bis auf fünfhundert Schritte an sich herankommen ließ, ohne Beunruhigung zu bekunden, wogegen die Kirgisen uns dringend anriethen, alle Jagdregeln zu befolgen, um seiner Vorsicht zu begegnen. Der scheinbare Widerspruch löst sich, wenn man erfährt, daß nur wenige Mongolen des Sumachadagebirges Feuerwaffen besitzen, die Kirgisen aber mit guten Büchsen ausgerüstet sind. Im Sumachadagebirge dachten die von Przewalski beobachteten Archare so wenig an ihre Sicherung oder an die Möglichkeit einer Gefahr, daß sie nicht einmal Wachen ausstellten, wogegen dieselben Wildschafe in anderen Gegenden solches nie versäumen. Jedes einzeln gehende Thier unterbricht da, wo es Verfolgung befürchtet, seine Tagesgeschäfte von Zeit zu Zeit, nur zu sichern, und alle Glieder einer einmal mißtrauisch gewordenen Heerde verbinden sich, für die Sicherheit des Verbandes zu sorgen.

Während die Heerde sich äßt, erklimmt ein oder das andere Stück den nächsten besten Felsen, blickt anscheinend gedankenvoll in die Runde, prüft mit weit geöffneten Nüstern den ihm entgegen wehenden Luftzug, verweilt zuweilen nur Minuten, zuweilen eine halbe Stunde auf seiner Warte und steigt, wenn es von seiner und seiner Genossen Sicherheit sich überzeugt hat, wiederum zu diesen herab, um weiter zu äßen. Solches Gebahren deutet auf Bedachtsamkeit und Urtheilsvermögen, Eigenschaften, welche dem Thiere sicherlich zur Ehre gereichen. Ein Schaf bleibt der Argali aber trotz alledem, und das Selbstbewußtsein, welches er sich im Umgange mit Seinesgleichen erwirbt, artet nicht selten in Starrköpfigkeit aus, welche, oft sehr zu seinem Schaden, jene scheinbare Vertrauensseligkeit im Gefolge haben mag. Daß die schwächeren Schafe wachsamer sind als die stärkeren Böcke, bestätigt nur eine fast allgemein gültige Regel.

Im Frühlinge und Sommer leben Böcke und Schafe getrennt, erstere in kleineren Trupps von fünf bis zehn Stück, letztere mehr einzeln, nur der Erziehung ihrer Lämmer sich widmend. So lange die allmächtige Liebe im Herzen der Böcke schlummert, herrscht Friede und Eintracht auch unter diesen: ihre Trupps sind geschlossen, weiden gemeinschaftlich, und einer unterstellt sich willig der Führung des anderen, die Mehrzahl der Leitung des erfahrensten und stärksten. Auf die Dauer kann ein so schönes Verhältniß natürlich nicht bestehen. Der Herbst kommt heran, und die Brunft macht sich geltend.

Während des Frühlings und Sommers haben sich Böcke und Mutterschafe von den Entbehrungen des Winters erholt und gefeistet. Alle Pflanzen, welche auch dem Hausschafe behagen, bildeten ihre Nahrung, und da die Steppe an würzigem, kräftigem Futter reich ist, hat sich nach und nach unter den Böcken ein Gefühl der Voll- oder Ueberkraft eingestellt, welches nach Ausdruck ringt. Schon Ende Septembers trennen sich die Trupps der Böcke. Die ältesten Recken scheiden zuerst aus dem Verbände, welcher ältere und jüngere, jedoch nur mannbare vereinigte, gehen ihre eigenen Wege und nehmen feste Stände ein, welche sie fortan gegen jeden gleich ihnen denkenden und handelnden Nebenbuhler vertheidigen. Jüngere und schwächere ihres Gleichen lassen sie überhaupt nicht zu. Wie Widder insgemein stellen sich zwei gleich starke Argaliböcke trotzig und kampflustig einander gegenüber, schreiten herausfordernd in Absätzen vor, erheben sich auf die stämmigen Hinterbeine und prallen mit den gewaltigen Hörnern derartig zusammen, daß man das hierdurch verursachte Getöse auf weithin im Gebirge vernimmt, daß beide zuweilen unlösbar sich verfangen, daß einer den anderen in den Abgrund stößt und in dessen Tiefe zerschellen sieht. So berichteten mich die Kirgisen durch den Mund General von Poltoratsky’s, welcher zum freundlichem Dolmetsch der ausdrucksvollen Erzählungen der Steppenleute wurde, so erfuhr Sewerzoff, welcher zwar nicht den Argali, aber doch den ihm nah verwandten [756] Katschgar im Thianschangebirge beobachtete. Diesen Kämpfen, nicht aber den Wölfen schreibt letztgenannter Forscher die auffallende Menge von Schädeln zu, welche man am Fuße steil abfallender Felsen findet, woselbst sie in Sonne und Regen bleichen und allgemach vermorschen und verwittern. Wären es die Wölfe, welche sinnbethörenden Schrecken unter den Archaren verursachten und sie veranlaßten, in die Tiefe zu springen, so würde man, was nicht der Fall, viel öfter als die Schädel von alten Böcken solche von Schafen und Jungböcken am Fuße der Felsen auflesen können; denn beide würden sicherlich weit eher als jene das Opfer jenes Schreckens und mittelbar der Wölfe werden. Aber man stößt fast nur auf die Ueberbleibsel alter Böcke und wiederum öfter auf die Reste mittelalter, also schwächerer, als auf solche ganz alter, gewaltiger Recken. Ueber der Stelle, wo man die Schädel regelmäßig, zuweilen in Haufen antrifft, befinden sich stets flache, ebene, mit Gras bewachsene Stellen, wie sie von den Archaren ausgesucht werden, um dort sich zu äßen: diese Stellen sind die Kampfplätze, auf denen gerungen und gestritten wird um Leib und Leben, Sieg oder Tod. Zuweilen mag es geschehen, daß der anprallende und seinen Gegner abdrängende Sieger ebenfalls mit in den Abgrund gerissen wird; denn man findet zuweilen zwei Schädel neben einander, während die übrigen meist einzeln liegen.

Erst nachdem die Brunftzeit vorüber, enden diese nebenbuhlerischen Kämpfe, und derjenige Widder, welcher aus allem Streite als Sieger hervorgegangen ist, führt von jetzt an bis zur Satzzeit die nunmehr vereinigte Heerde der Böcke und Schafe, von jenen vielleicht beneidet, aber doch fernerhin unangefochten, von diesen mit vollstem Vertrauen belohnt. Sobald er zu laufen beginnt, stürzt die Heerde ihm blindlings nach. Er geht beim Wechseln dem Zuge voran, bleibt von Zeit zu Zeit stehen, ersteigt, um eine weitere Uebersicht zu gewinnen, höhere Aussichtspunkte, und sorgt in jeder Beziehung für das Wohlergehen seiner Unterthanen. Gemeinsame Ziele, Gefahren und nothgedrungene Entbehrungen halten solche Heerde bis zum nächsten Frühling zusammen. So gleichmüthig der Archar den Winter erträgt: ohne hart von ihm mitgenommen zu werden, übersteht er denselben nicht. Mag auch die rasende Windsbraut, welche Schnee vom Himmel zur Erde und von der Erde zum Himmel schleudert, über ihn wegbrausen, ohne ihn zu schädigen: der Schnee, welchen sie mit sich und zu seinem Stande führt, wird ihm lästig und gefährlich, oft verderblich. Nur ausnahmsweise zwar deckt derselbe ihm alle Nahrung zu und zwingt ihn zu fasten, zu darben, zu hungern, nicht allzu selten aber ebnet er dem gierigen Wolfe Wege und Stege bis zu seiner Felsenburg herauf, wird, wenn Thauwetter und Frost mit einander wechseln, dem leichteren Räuber zur Brücke, auf welcher dieser ungehemmt dahinschreitet, wogegen er bei jedem Schritte die schwache Kruste eindrückt oder schon durch deren Glätte in vollem Laufe sich behindert sieht, und bringt so seinen schlimmsten, weil unablässigsten Feind über ihn. Solche Gefahren überwinden gesellte Thiere leichter als einzeln lebende, deren Wachsamkeit endlich doch einmal erlahmen kann, wenn Uebermüdung oder Ermattung infolge des Mangels ihre Rechte fordern, und dies mag der hauptsächlichste Grund sein, daß jene Verbände während des ganzen Winters nicht sich trennen.

Ungefähr sieben Monate nach der Paarung, durchschnittlich im Anfange des Mai, lammt das Argalischaf, und zwar bringt es zuerst regelmäßig nur ein Junges, später deren zwei zur Welt. So behaupten die Kirgisen, und unsere eigenen Beobachtungen stehen hiermit wenigstens nicht im Widerspruche; denn ich sah Schafe mit einem Lamme und andere, welche deren zwei führten. Schon vor der Geburt haben die trächtigen Mutterschafe von den Böcken oder den Heerden überhaupt sich getrennt, und so lange ihre Lämmer klein sind, vielleicht so lange sie noch saugen, gesellen sie sich jenen nicht. Die Lämmer sind merklich größer als Hauslämmer, nach meinem Bedünken mindestens ebenso groß, wie ein Hirschkalb, und vorherrschend graufahl, auf dem Vorderkopfe und Schnauzenrücken dunkelgrau, auf dem Spiegel graulich-isabell, auf der Unterseite lichtgelb gefärbt. Noch am Tage ihrer Geburt laufen sie mit der Mutter davon, und einige Tage später thun sie es ihr im Springen und Klettern fast gleich. Werden Mutter und Kind in den ersten Tagen nach der Geburt des letzteren durch Menschen oder Raubthiere beunruhigt, vielleicht durch einen spürenden Wolf erschreckt, so übernimmt das Mutterschaf die Deckung des Lammes, indem es sich dem bösen Feinde scheinbar preisgiebt, langsam vor ihm herläuft, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, ihn so von dem Lamme ablenkt, durch längere Jagd warm macht und in die Irre führt, worauf es zu dem Lamme zurückkehrt. Dieses hat sich beim Erscheinen des Feindes niedergelegt und dicht an den Boden geschmiegt, sodaß selbst Kopf und Hals letzterem aufliegen. In dieser Lage verharrt es unbeweglich bis zur Rückkehr der Alten, bleibt auch, wenn ein zweiter Feind es bedroht, sehr festliegen und springt erst auf, wenn die Gefahr in seine unmittelbare Nähe, gekommen ist.

Es vertraut offenbar auf die Gleichfarbigkeit seines Felles und des Bodens und thut wohl daran; denn es wird in dieser Lage, wie ich oben mich ausgedrückt habe, zu einem lebendigen Steine, welcher im bunten, verwirrenden Durcheinander wirklicher Steine und größerer und kleinerer Felsbrocken manches Raubthierauge täuschen mag. Daß ihm die Täuschung nicht immer gelingt, daß das Auge eines Steinadlers sich nicht beirren läßt, haben wir oben gesehen; daß die feine Nase eines Wolfes oder Fuchses ebenso sicher den lebenden Stein unter den todten herausfinden wird, läßt sich annehmen: die Gebirge müßten, wäre beides nicht der Fall, weit stärker von Archaren bevölkert sein, als sie in Wahrheit sind. Wie alle jungen Schafe sind auch die Argalilämmer allerliebste, muntere, spiellustige, bewegungsfrohe Geschöpfe, von Hauslämmern überhaupt nur durch Größe und Fell, nicht aber durch Sein und Wesen unterschieden. Sie wachsen rasch heran und sind bereits im nächsten Jahre fast ebenso groß wie die Alten, jedenfalls vollkommen befähigt, ohne deren Mithülfe ihre Wege durch’s Leben zu wandeln. Doch beenden sie ihr Wachsthum nicht vor dem vierten Jahre, und die Gehörne der Böcke nehmen auch dann noch immer etwas zu.

Der ausgewachsene Argali ist ein Bild urwüchsiger Kraft und Stärke. Seine Bewegungen sind wundervoll. Niemals bemerkt man, daß sich das gewaltige Thier übereilt, ebenso wenig, daß es in Verlegenheit geräth. Es wetteifert im Laufen mit einem Hirsche, im Klettern mit einer Gemse, vielleicht mit dem Steinbocke. Ueber die Ebenen und Hügel zieht der Archar in scharfem, stätigem Trabe, ohne befürchten zu müssen, daß ihn das unter dem Reiter schnaufende Pferd einhole, an den Felsen hinauf oder hinab klimmt er mit unvergleichlicher Bedachtsamkeit, Sicherheit und Gewandtheit. Er sucht sich nicht erst einen bequemen Pfad, sondern findet solchen überall. Das Schaf, welches ich erlegte, stieg langsam über felsige Steilungen herab, obgleich letztere aussahen, als ob sich kaum ein leichter Klettervogel, nicht aber ein so gewichtiges Säugethier an ihnen zu erhalten vermöge, und sprang von einem Steine oder Felsblocke zum andern mit so leichten, federnden Sätzen, als ob es auf der Ebene dahinschritte. Der gewaltige Hornschmuck des Bockes hat auch in der Steppe der allverbreiteten Fabel Boden gegeben, daß der Argali bei Gefahr aus bedeutenden Höhen hinab auf das Gehörn sich stürze; die Fabel ist jedoch eben nur eine solche, nicht aber Wiedergabe bestimmter Beobachtung. Przewalski sah Argaliböcke ohne Bedenken und Schaden zehn Meter tief hinabspringen und immer auf die Füße fallen, beobachtete auch, daß sie, wie Steinböcke und Gemsen zu thun pflegen, an etwas geneigten Felsen hinabglitten, um ihren Fall zu hemmen. Ein derartig befähigtes und geübtes Thier findet auch in den schwierigsten Lagen noch Wege und Stege, um ungefährdet in die Tiefe hinabzugelangen. Stürzt ein Argali wirklich über Felsen hinab, wird er von einem Nebenbuhler in den Abgrund geschleudert, so rettet ihn auch sein gewaltiges Gehörn nicht vor dem Tode: er würde oder müßte das Genick brechen, wenn er mit demselben die Wucht des Falles seines schweren Leibes aufhalten wollte.

Mich wundert, daß Kirgisen und andere Wanderhirten der Steppe noch nicht daran gedacht haben, Archare zu zähmen und sie zu Hausthieren zu gewinnen. Absichtlich brauche ich den Ausdruck „gewinnen“; denn ein Gewinn würde es sein, gelänge es, dieses Geschöpf unter die Botmäßigkeit des Menschen zu beugen. Die Möglichkeit des Gelingens darf von vornherein zugestanden werden. Jene Argalllämmer, welche die uns gleitenden Kirgisen gefangen halten, versprachen viel, weit mehr als ich erwartet hatte. Auf unseren Wunsch befahl General von Poltoratsky, ihnen in Gestalt von Hausschafen und Hausziegen Ammen zu geben. Dem Befehle wurde selbstverständlich [757] Folge gegeben, jedoch nicht ohne Klagen seitens der Kirgisinnen, deren Hausthiere zu der hohen Ehre berufen worden waren, den Wildlämmern Dienste zu leisten, auch nicht, wie ich hinzufügen muß, ohne Widerstreben der Ammen selbst. Um so williger zeigten sich die Argalilämmer. Ohne Zögern nahmen sie das Euter der ihnen zugewiesenen Ammenthiere, saugten kräftig, unter den üblichen Stößen, und schienen nach genossener Erquickung vollständig befriedigt zu sein. Während die Ammenthiere die ihnen aufgezwungenen Pfleglinge mit schelen Augen betrachteten und – ich darf wohl sagen – mit gerümpfter Nase beschnupperten, auch unverkennbar böswillige Gelüste auszuführen trachteten und daher festgehalten werden mußten, konnten die hungerigen und durstigen Lämmer angesichts der nahrungsspendenden Verwandten ohne Weiteres ihrer Fesseln entledigt werden, gestatteten, daß man sie berührte, streichelte, während des Saugens festhielt, und legten sich, nachdem sie ihre Bedürfnisse gestillt, aller Fesseln ledig so vertrauensvoll und zufrieden zur Ruhe nieder, daß Jedermann überzeugt sein mußte, sie würden für den Verlust ihrer Mutter Ersatz finden und gedeihen. Letzteres war, wie wir später erfuhren, leider nicht der Fall, aber wohl nur deshalb, weil die Kirgisen, um die Nachkommenschaft ihrer Hausthiere besorgt, ihnen die erforderliche Pflege nicht angedeihen ließen. Jedenfalls ist der mißglückte Versuch nicht maßgebend. Denn alle Wildschafe lassen sich leicht erziehen, und alle dauern, vorausgesetzt, daß sie in einem ihrem heimathlichen entsprechenden Klima gepflegt werden, auch in engerer Haft recht gut aus. Der wettergestählte Argali, welcher eisiger Kälte und glühender Hitze in gleicher Weise zu trotzen vermag, keine andere Nahrung beansprucht als das Hausschaf, hinsichtlich seiner Begabungen von diesem kaum sich unterscheidet, also auch nicht dummtrotziger und furchtsamer ist, wahrscheinlich aber selbstständiger sein dürfte als dieses, würde allen Anforderungen entsprechen, welche man an ein zu zähmendes und einzubürgerndes Thier vernünftiger Weise stellen kann.

[753]

Argalischafe im Altai.
Nach Vorlagen des Dr. Brehm auf Holz gezeichnet von G. Mützel.