Wieder allein
Wieder allein.
Nun hat auch der letzte Hochzeitsgast Abschied genommen; im Fortgehen wendet er sich noch einmal um und schwingt
grüßend den hohen, glänzenden Cylinder. Er ist ein alter Junggeselle und längst hinaus über sentimentale Anwandlungen, aber
das Bild der beiden einsamen Alten, wie sie in der Hausthür stehen und ihm nachwinken, stimmt ihn melancholisch.
„Jetzt können sie wieder von vorn anfangen!“ murmelt er vor sich hin und macht große Schritte, um zum Stammskat nicht zu spät zu kommen. Die Straße ist ganz menschenleer, der Abendsonnenschein fällt auf die vergoldeten Spitzen der eisernen Gartenstakete, die grünen, kugelrund gestutzten Akazien tasten mit den Blättern leise im Abendwind auf und ab, und auf den Treppenstufen vor dem Hochzeitshause liegen noch einige Rosenknospen.
Papa Bünau stieg langsam die wenigen Stufen hinab und suchte aus den halbverwelkten noch eine leidlich frische heraus.
„Da, Mutting,“ sagte er und reichte ihr die Knospe hinauf.
„Danke, Fritz,“ antwortete sie kurz und drehte die Blume am Stiel in der Hand. Noch glitzerten einige Thränenspuren auf den runzeligen Wangen der würdigen alten Dame.
„Komm, Christine! es wird zugig hier in der Thür.“
Damit ging ihr Mann an ihr vorbei ins Haus, um den Frack auszuziehen und den weißen Schlips mit einer schwarzen [501] Krawatte zu vertauschen. Das Schlingen des Knotens machte ihm Mühe, denn bis jetzt hatte Anni dies fast immer besorgt mit den flinken, behenden Fingern.
„Jetzt sind sie nun schon in Hamburg, der Zug kommt fünf Uhr fünfunddreißig Minuten an!“
Plötzlich fiel ihm etwas ein, und er rief durch die Thür: „Du, Mutting, ob Anni wohl daran denkt, daß du die neue Boa in die Reisetasche gelegt hast? Das Kind wird sich sicher erkälten.“
„Ich habe es ihr noch einmal gesagt vor der Abreise.“
Frau Christine stand noch immer auf der Schwelle und blickte die Straße entlang bis zur nächsten Ecke, von wo aus Anni zum letztenmal mit dem Taschentuch gewinkt und der junge Ehemann den hellgrauen Reisehut geschwenkt hatte. Wie konnte dieser Mensch nur so vergnügt aussehen!
„Ja, diese Männer!“ seufzte Frau Bünau und machte die Thür zu. „Er wird natürlich nicht daran denken, wie leicht sich Anni einen Schnupfen holt!“
Das Treppensteigen wurde der alten Dame heute recht sauer. Es schien ihr, als sei sie noch nie so mühsam bis zum ersten Stock in ihr Schlafzimmer hinauf gelangt. So, nun war sie wieder ganz allein! Vor zwei Jahren heiratete die Aelteste, Frida! Das ging noch, obgleich es schwer genug zu verwinden war; Anni blieb ja zurück im Elternhause – jetzt war die auch fort. Was für einen Sinn hatte denn nun noch das ganze weitere Leben? Erst plagt man sich durch Impfpocken, Keuchhusten, Masern und Scharlach mit den Kindern durch, bis sie groß sind, und nachher kommt ein beliebiger Mensch und geht mit ihnen auf und davon, als ob das gar nichts wäre, noch dazu gleich nach Wien, so daß man eine ganze große Reise braucht zu einem Besuche. Es ist eine undankbare Welt, das ist gewiß!
Lange stand sie in der Kammer, in der bisher Anni geschlafen hatte. Nachdenklich schaute sie das Bett an mit den hübschen roten Rosen auf der Decke, aus dem der Morgengruß der Tochter ihr durch die offene Thür so oft in der Frühe entgegengeklungen war. Das Bett sollte morgen fort – es war ja zu traurig! Vorderhand setzte sich die Mutter auf den Rand und weinte leise vor sich hin. „Anni! kleine, liebe, treue Anni!“
Unten wanderte Herr Bünau durch die Zimmer; er setzte die halb ausgetrunkenen Flaschen auf dem Büffett zusammen und half dem Lohndiener und dem Dienstmädchen die Einlegebretter aus der Eßtafel nehmen.
Bis jetzt hatten sie mit Rücksicht auf Annis Freundinnen für den täglichen Gebrauch immer eines darin liegen lassen. Das war nun nicht mehr nötig, denn für zwei Personen schien ihm der Tisch ohne Einlage groß genug.
Der alte Herr seufzte leise und schob aus Leibeskräften, bis die Tischhälften, die seit zwanzig Jahren sich nicht gefunden hatten, endlich wieder mit Fugen und Zapfen sich zusammenschlossen.
Nachher stand der Alte allein im Zimmer, sah den Tisch an und nickte mit dem grauen Kopf. Es schlug gerade sechs Uhr. Er war nahe daran, laut „Anni“ zu rufen, denn um diese Zeit pflegte er mit ihr im Stadtpark spazieren zu gehen.
Was sollte er nur anfangen? Ratlos schlich er in sein Zimmer; dort sah es häßlich und unordentlich aus. Nach dem Diner hatten hier die Herren geraucht; auf dem Teppich sah man Spuren von Asche, und übelriechende Cigarrenreste lagen auf den Rändern der Untertassen; hier und da stand ein Liqueurglas, die Stühle waren durcheinander geschoben, und doch – hier war sie zu ihm gekommen, war ihm weinend um den Hals gefallen, als er sie gefragt, ob sie Herrn Doktor Hellwig lieb hätte; hier hatte sie vor zwei Stunden an seiner Brust geschluchzt und [502] gesagt: „Ach Väterchen, wenn ihr doch mitkommen könntet.“ Und er hatte, während ihm die Thränen über die runden, roten Backen liefen, lachend erwidert: „Na, Anni! Das würde wohl deinem Manne nicht passen! Er hat schon schlechte Witze gemacht über das viele Gepäck, das du mitnähmest. Also vergiß nicht, die Boa ist in der Reisetasche – in Hamburg ist immer Wind, und wenn ihr nach dem Hotel fahrt, nimmt er sicher eine offene Droschke! Ich kenne ihn! Er schläft ja bei offenem Fenster, und gestern wurde es schon um fünf Uhr recht kalt.“
Ob sie wohl an die Boa denken würde?
Was hatte er nun davon, daß er sich dreißig Jahre im Geschäft abgerackert und sich vor fünf Jahren als Rentier hatte zurückziehen können? Was sollte er mit den langen Tagen anfangen? Und nun gar erst abends?
Zuweilen sang Anni am Klavier einige hübsche Lieder, doch meistens las sie den Eltern vor mit ihrer weichen reinen Altstimme, und er saß gemächlich mit der Cigarre im Lehnstuhl und nickte so gegen zehn Uhr etwas ein.
Wie lang und einsam würden die Abende jetzt werden! Vielleicht war es besser, wenn er eine kleine Reise machte, möglichst bald, ehe das Wetter schlecht wurde!
Ruhelos wanderte er weiter, steckte in jedes Zimmer den Kopf, nur in Annis kleinen Wohnraum nicht, obgleich er schon die Klinke in der Hand hatte. Nein, er wollte doch lieber spazieren gehn – man mußte sich gleich daran gewöhnen, allein zu sein! Bald schritt er die Straße hinab, bis er den Stadtpark erreichte. Nur vereinzelte Spaziergänger begegneten ihm. Er setzte sich auf eine Bank und blickte über den grünen Rasen zum fernen Walde hinüber, der in rotgoldenem Herbstschmuck vor den dunklen Tannen im Hintergrunde stand. Ueber ihm zippte ein Zeisig im Geäst der Birke, von der hellgelbe Herbstblätter müde herabflatterten. Sie fielen dem alten Herrn auf die Hutkrempe und auf die Kniee; er zerrieb einige zwischen Daumen und Zeigefinger und weinte dabei leise vor sich hin.
Langsam kam die Dämmerung herangezogen. Ein junges Menschenpaar schritt an ihm vorüber und flüsterte zärtliche Worte miteinander, ohne den einsamen Alten zu bemerken; hinter ihnen raschelte das gefallene Laub.
Er schaute ihnen nach und sah, wie sie sich an der nächsten Wegbiegung küßten. Da stand er rasch auf und ging nach Hause.
Mutter Christine mußte seit Jahren zum erstenmal den Thee wieder selbst bereiten und fragte ganz geistesabwesend: „Nimmst du Zucker oder nicht?“
Er schüttelte nur den Kopf, und sie gab ihm keinen Zucker. Anni hatte nie danach gefragt, sie wußte es ganz genau – anderthalb Stück in jede Tasse!
Und als er die erste Tasse geleert hatte, die sehr bitter schmeckte, stand er stumm auf und goß sich eine zweite voll, und seine Frau bemerkte es gar nicht, sondern schnitt das kalte Fleisch auf ihrem Teller immer feiner und feiner, ohne davon zu essen.
Nach der Abendmahlzeit setzte sie sich nicht mit dem gewohnten Strickstrumpf in den gewohnten Stuhl, sondern kauerte sich im Sorgenstuhl neben dem Ofen zusammen und fror, fror ganz unbewußt in sich hinein, ohne zu wissen, weshalb, und er zündele sich eine Cigarre an und schritt im Zimmer auf und ab, auch völlig geistesabwesend.
Sie folgte ihm mit den Blicken. Ob er wohl daran denken Würde, ihr die warmen Pantoffeln zu holen? Anni that es immer des Abends, weil Mütterchen an kalten Füßen litt. Früher – ja, als die Kinder noch klein waren, wenn endlich Ruhe im Hause eintrat und die rosigen Dinger nach dem Abendgebet still in ihren Bettchen schliefen, dann brachte er ihr selbst die Pantoffeln und machte Witze dabei: es sei nur gut, daß sie die Pantoffeln erst bekäme, wenn es Abend würde – und ganz, ganz früher kniete er wohl nieder und zog ihr die hübschen blaugefütterten Pantoffeln an und blickte lachend zu ihr auf.
Sie schaute ihn an. War das derselbe Mann, der so ruhelos auf und ab ging, als sei er allein in der Stube? War das derselbe Mann dort mit den grauen Haaren und dem tief gesenkten Kopfe?
Dann stand sie rasch auf, um die Pantoffeln selbst zu holen. Man muß sich eben daran gewöhnen, wenn niemand mehr an eine alte Frau denkt!
Er ging weiter rastlos auf und ab. Weshalb war sie nur so ungemütlich? Sie that auch gar nichts, um es ihm behaglich zu machen. Warum strickte sie denn nicht wie sonst jeden Abend oder bat ihn, ihr vorzulesen? Was drückte sie sich denn in der dunklen Ecke am Ofen herum? Es wäre ja zum Verzweifeln, wenn das so fortgehen sollte!
Natürlich! um ihn kümmerte sich keine Menschenseele. Immer wieder mußte er zu ihr hinüber sehen. Er wollte ihr gern etwas Freundliches sagen, sie trösten! Aber er fand keine Worte.
„Hast du Kopfschmerzen, Christel?“ fragte er schließlich.
„Nein, nein, mir fehlt nichts! Mich friert nur,“ sagte sie, ohne den Blick zu heben.
Er sah sie an. Vor seiner Erinnerung stieg ein Bild auf, ein Bild, ganz deutlich und doch so fern. Blondes, junges Haar schmiegte sich an das dunkle Lederpolster des Sessels; zwei feine schlanke Hände auf einem hellen freundlichen Kleide! Ein junger Mann kam, zog eine Fußbank herbei, ganz dicht an ihre Füße und – – war es denn möglich? war das dieselbe dort?
Es überlief ihn, und er versuchte auszurechnen, wie lange das her sei. Sie saß da so stumm und wortlos, als sei sie fremd hier im Hause, fremd in dieser Umgebung, als säße sie in einem Wartesaale und harrte, bis der Zug abginge. Das durfte so nicht bleiben. Er mußte sie aus dieser Stimmung herausreißen. „Komm, Christel, Alte! Wir beide haben uns ja noch!“ wollte er sagen, aber er brachte es nicht über die Lippen. Es hätte ihm zu pathetisch geklungen.
Die Köchin kam herein und fragte, was am nächsten Tage gegessen werden solle, und die Hausfrau mußte sich lange besinnen.
„Was sollen wir essen, Fritz?“ fragte sie, während es ihr zu ihrem eigenen Erstaunen einfiel, daß sie seit Jahren keinen Küchenzettel gemacht hatte.
„Maccaroni mit Schinken,“ antwortete er ganz ernsthaft, ohne seine Zimmerwanderung zu unterbrechen.
Sie sah ihn so merkwürdig an, mit einem Blick, wie graue Leute ihn haben, wenn ein Zufall ihnen eine alte Jugenderinnerung wieder vorzaubert. Er pflegte früher oft unerwartet ein oder zwei Freunde plötzlich zum Essen mit ins Haus zu bringen, und wenn seine junge Frau händeringend ihm zuflüsterte: „Um Gottes willen, was soll ich ihnen nur vorsetzen?“ antwortete er: „Ganz einfach, Christel, Maccaroni mit Schinken.“
So hatte er es jetzt auch gesagt, mechanisch, ohne seine eigenen Gedanken zu unterbrechen.
Nun vergaß sie ganz, daß die Köchin in der Thür stand, bis der Hausherr etwas unwirsch äußerte: „Wir essen die Reste von heute! Das ist doch ganz einfach!“
Damit schritt er hinaus in sein Zimmer. Es dauerte nicht lange, dann kam sie, ihm „Gute Nacht“ zu sagen. Er sah ihr noch immer feines, hübsch geformtes Antlitz im Lichtkreis seiner Schreibtischlampe auftauchen.
„Gute Nacht, Christine! Halte nur den Kopf hoch! Wir – na – wir werden uns schon daran gewöhnen.“
Dabei versuchte er den Arm um sie zu legen, aber sie schüttelte resigniert den Kopf.
„Ja, ja, Fritz! Wenn es nur nicht so einsam wäre! Ich dachte schon, ob es nicht besser sei, ich ginge zu meiner Schwester nach Kiel auf einige Wochen, und du könntest nach Berlin fahren zu deinem alten Jugendfreund.“
„Mal sehen!“ antwortete er leise und ließ den Arm sinken.
An der Thür wandte sie sich noch einmal um.
„Du, Fritz, vergiß nicht! wenn morgen der Dienstmann kommt, du weißt schon, wegen Annis Frachtsachen, dann kann er gleich ihre Bettstelle auf den Boden schaffen; es ist zu traurig, immer das leere Bett vor Augen zu haben.“
„Ja, ja, ich will daran denken! Gute Nacht!“ Er ließ sich wieder im Lehnstuhl nieder und nahm die Zeitung zur Hand.
Mutter Christine kleidete sich langsam aus, und als sie den Frisiermantel anzog und sich vor den Toilettentisch setzte, blickte sie zaghaft in das Glas, aus dem ihr so oft Annis zartes, gutes Gesicht entgegengelacht hatte, wenn sie der Mutter half, die silbergrauen Haare für die Nacht zu ordnen. Sie schluckte die Thränen jedoch tapfer hinunter und legte sich mit einem leisen Seufzer zur Ruhe. Immerfort mußte sie in die Dunkelheit hinaushorchen, ob nicht eine frische Stimme ihr zurief: „Gute Nacht, Mütterchen!“ und ob nicht das Geräusch zu hören [503] wäre, wie sich ein schlafmüdes, junges Menschenkind in Kissen und Decken einhuschelt, um dann sogleich sanft einzuschlummern. Die Alten liegen meist ruhig und warten, bis es dem säumigen Schlaf beliebt, sich bei ihnen einzustellen. Aber nichts rührte sich; nur gegen die Fensterscheiben schlug leise draußen ein Epheuzweig, der sich im Herbstwind wiegte. Sie horchte und horchte, ob ihr Mann nicht in sein Schlafzimmer gehe; aber es blieb still, ganz still, lautlos still, und ebenso still schien draußen der Vollmond auf die Dächer, hier so gut wie in Hamburg. Und wieder dachte sie des Kindes, das heute fortgezogen war mit dem geliebten Mann aus dem Vaterhaus, wie sie es einst gethan an ihrem eigenen Hochzeitstage.
Auch der alte Mann, der unten allein geblieben ist, spürt den Zauber des Mondes, der längst Vergangenes wachruft. Ueber die Zeitung hinweg schaut er durch das Fenster zum Vollmond hinauf. Gerade solch ein Abend war es, als sie hier zum erstenmal ins Haus traten, der junge Fritz Bünau mit seiner noch jüngeren Frau Christel. Damals bezogen sie es nur zur Miete; erst später konnte er das Haus kaufen, als die Kornpreise so mächtig in die Höhe gingen. Ja, in dieses Zimmer hatte er sie geführt und leise gesagt: „Christel, wir sind jetzt allein und müssen aneinander genug haben fürs ganze Leben!“
Da hatte sie die weichen Arme um seinen Hals geschlungen und gebeten: „Hab’ mich nur lieb, Fritz, mehr will ich nicht in der Welt! Du bist mir genug fürs Leben.“
Nach einem Jahr kam ein kleiner Junge an, doch starb er bald, und die Eltern trösteten sich mit ihrer jungen Liebe, bis die Mädels sich einstellten, die sie mit Jubel begrüßten. Papa Bünau legte die Hand über die Augen.
Me kam’s denn nur, daß alles so anders wurde? Nun, die Kinder nahmen die Mutter in Anspruch; um die beiden Mädchen begann sich ihr Leben zu drehen. An ihn stellte dafür das Geschäft immer größere Anforderungen, und die Erziehung der beiden lieben Gören mußte er der Mutter überlassen; er verstand sich ja auch wenig darauf. Und als vor sechs Jahren Christine krank wurde, mußte Frida, die Aelteste, sie pflegen, und er richtete sich das kleine ehemalige Kinderzimmer ein und schlief dort. So war es geblieben, als dann Anni die Genesene ins Bad begleitet hatte und die große Schwester ihm inzwischen den Haushalt führte. So war es geblieben, als Frida dem Gatten in die Fremde gefolgt war und Anni das gemütliche Stübchen neben dem Schlafzimmer der Mutter allein für sich behielt, das sie in der Zwischenzeit mit der älteren Schwester bewohnt hatte.
Der alte Mann wurde unruhig und trat ans Fenster.
Wie wenig hatte er von seiner Frau all die letzten Jahre gehabt! Gewiß, sie hatten nebeneinander auch weiter in Eintracht gelebt, aber die alte Vertraulichkeit war ihnen verloren gegangen. Wie war das nur so gekommen; mußte denn das so sein im Leben? Er ging zur Thür, öffnete sie und horchte gespannt auf den Korridor hinaus; dann schritt er ihn hinab, stieg zum oberen Stock empor und blieb vor dem Schlafzimmer seiner Frau stehen. Ihm war es, als müsse er zu ihr gehen, ihr etwas sagen; aber als er keinen Laut vernahm hinter der Thür, nicht einmal ein tiefes Atemholen, schlich er langsam in sein Schlafzimmer. Nein, er wollte sie nicht stören, sie bedurfte der Ruhe.
Sie aber schlief noch nicht, sondern lag nur reglos da und horchte auf das Rascheln des Epheus am Fenster.
In diesem Zimmer kamen die beiden Mädchen zur Welt; diese jetzt so stillen Wände hatten den ersten Schrei gehört, mit dem sie das Leben begrüßten, hier neben ihr hatte er, der Vater, auf den Knieen gelegen und ihr den Dank für die zappelnden Schreihälse ins Ohr geflüstert. Was für ein gemütvoller Mann er doch früher war! Die Nächte waren oft unruhig, denn die Mutter wollte stets das Jüngste neben sich haben, so daß sie ihrem Mann den Vorschlag machte, doch in einem anderen Zimmer zu schlafen.
Da hatte er sie so sonderbar angesehen und ganz leise gefragt: „Willst du mich los sein, Christine?“
Hatte sie denn später den Mann verloren? Nein, er war da gewesen, aber die Kinder waren auch da und wurden immer größer, nahmen immer mehr Raum ein im Hause und vielleicht auch im Mutterherzen!
Sie schrak ordentlich zusammen, und es wurde ihr plötzlich sonnenklar, ganz sonnenklar, daß sie aus der Liebe zu ihrem Mann eine Gewohnheit hatte werden lassen, daß sie damit gewaltet hatte wie mit etwas Selbstverständlichem, das keiner besonderen Hut und Pflege bedarf. Der Kinder wegen, um sie zu erziehen, hatte sie die kleinen Aufmerksamketten und Hilfsleistungen, mit denen sie früher ihrem Mann ihre Liebe im Alltagsleben bekundet, von diesen verrichten lassen. Frida, dann Anni, hatten sie im Hauswesen ersetzt – nun waren die Kinder fort, und sie, die Alten, saßen da mit ihrer darbenden Elternliebe im Herzen, sich selbst entfremdet.
Sie weinte still vor sich hin, weinte, weinte, bis sie einschlief.
Herr Bünau wachte am nächsten Morgen früher auf als gewöhnlich, und als er hinunterging, sagte er der Köchin, er wolle mit dem Frühstück warten, bis seine Frau käme.
Herbstsonnenschein lag über dem kleinen Gärtchen; hier und da gab es noch verspätete Rosen und die Astern standen in voller Blüte. Der alte Herr ging langsam auf und ab; er freute sich über das schöne Wetter und dachte an Anni. Der Schwiegersohn würde ihr seine Vaterstadt zeigen; vielleicht frühstückten sie eben im Alsterpavillon und machten dann eine Fahrt nach Uhlenhorst.
Dabei betrachtete er nachdenklich eine Rosenknospe, während ein frohes Lächeln seine Züge verjüngte. Rasch lief er ins Haus, um eine Blumenschere zu holen.
Christine hatte ihn, durch die Jalousien blickend, beobachtet und beeilte sich mit der Morgentoilette.
Für wen nur schnitt ihr Mann all die Blumen ab? Es kam eine Unruhe über sie, die sie selbst nicht verstand; sie mußte sich sogar einigemal auf einen Stuhl setzen, weil sie Herzklopfen bekam. Gewiß wollte er ein Bouquet an Anni schicken als Gruß aus dem Vaterhause. Fast so behende, als sei sie wieder eine junge Frau, eilte sie die Treppen hinunter in das Eßzimmer, wo der Frühstückstisch, der Tisch ohne Einlage, gedeckt war. Sie überflog ihn mit den Augen.
Richtig! Anni pflegte dem Vater die Zeitung neben die Tasse zu legen und Feuerzeug nebst Aschenbecher auf den Tisch zu stellen, damit er sich seine Morgencigarre mit Behagen anzünden konnte.
Rasch ordnete Frau Bünau alles so, wie er es gewohnt war, und weil ihr einfiel, wie gern er früher Honig zum Frühstück gegessen, eine Liebhaberei, die er später aus Sparsamkeit aufgegeben hatte, schickte sie die Köchin fort, um Scheibenhonig zu kaufen.
Schon klangen seine Schritte auf dem Flur, und dann kam er herein, einen taufrischen Strauß Blumen in der Hand tragend. Offenbar hatte er nicht erwartet, seine Frau schon hier zu finden, denn er blieb ganz verwirrt an der Thür stehen mit einem etwas enttäuschten Gesicht, und seine Verlegenheit wurde noch größer, als sie rasch mit einem „Guten Morgen, Fritz!“ auf ihn zukam und ihm einen herzhaften Kuß gab; während er, in der einen Hand die Blumen, in der anderen die Rosenschere, ganz steif dastand.
Papa Bünau suchte nach Worten, die jungen Ehemännern so leicht über die Lippen kommen und die alten Lippen so schwer werden können.
„Weshalb bist du denn so sonderbar, Alter?“
„O nichts! Gar nichts! Setz’ dich nur, Mutter!“
Dabei fiel sein Blick auf die Zeitung und auf die Glasschale mit goldgelbem Honig.
„Wie es Anni wohl geht?“ sagte er ganz mechanisch.
„Sie wird sich über das schöne Wetter freuen, Fritz!“
„Ja, ja, gewiß, das glaube ich auch.“
Mutter Christine tunkte ein Hörnchen in den Kaffee und beobachtete ihn heimlich. Er räusperte sich einigemal, gab sich dann einen Ruck, marschierte gerade auf sie zu und streckte den Arm mit den Blumen aus, gerade über ihre Kaffeetasse.
„Da, Christel! ’s ist besser, man schneidet sie ab, ehe Nachtfröste kommen!“
„Fritz, lieber Fritz! wie lieb von dir!“
„Ja, ja, schon gut!“
Und ganz verschämt machte er den Weg um den Tisch herum nach seinem Platz.
Sie nahmen stumm das Frühstück ein; er vertiefte sich in die Zeitung, und sie holte eine Handarbeit und setzte sich damit ans Fenster, wo sie den Sonnenschein sehen konnte, bis der Dienstmann kam, der Annis Bettstelle auf den Boden bringen sollte.
Im ersten Stock dröhnten dann schwere Männerstiefel, hier und da wurden einige Worte gewechselt und Möbel gerückt.
[504] Mutter Christine bekam wieder Herzklopfen; sie nahm die Brille dreimal von der Nase und setzte sie zweimal wieder auf, um dann hinaus und in den oberen Stock zu gehen. Dort war ernste Beratung, wie man die große Bettstelle durch die kleine Bodenthür bringen sollte.
„Wäre es nicht einfacher, Fritz, man stellte Annis Bett in deine Kammer und das deinige in mein Schlafzimmer? Dann machten wir aus deiner Stube ein Fremdenzimmer, und Anni oder Frida könnten in ihren alten Betten schlafen, wenn sie uns einmal besuchen.“
Der Dienstmann stand daneben, und Vater Bünau mußte sich deswegen zusammennehmen.
„Gut, wie du willst,“ sagte er daher nur; aber als die Bettstelle und der Dienstmann verschwanden, drehte sich der alte Herr kurz um und gab seiner Frau einen Kuß.
Am Nachmittag nahmen sie einen Wagen und ließen sich im Walde spazieren fahren.
Es war derselbe Wagen, in welchem Anni gestern fortgefahren war, ein Wagen mit rot und schwarzen Rädern und blauen Plüschpolstern. Auch derselbe Kutscher saß auf dem Bock; aber es war fraglich, ob die alten Herrschaften, die heute Hand in Hand auf dem Rücksitz saßen, nicht ebenso vergnügt waren in ihrem Herbstglück wie das junge Paar gestern mit dem Maienglück im Herzen.
Ja, es war ein schöner Tag, und abends langte mit der letzten Post eine Karte von Anni an mit tausend, tausend glückstrahlenden Grüßen. Voll Zuversicht schrieb die Kleine, die Eltern würden, nun sie wieder allein wären, sich das Leben nicht weniger behaglich zu machen wissen als im Beisein der Haustochter. Die beiden Alten schmunzelten und sahen sich an.
Ein Jahr war beinahe vergangen, und der Herr Doktor Hellwig hatte einen langen Brief geschrieben aus Wien, in welchem er die Mutter aufforderte, dorthin zu kommen, weil Anni es so sehr wünsche.
„Selbstverständlich gehst du hin,“ sagte der Vater und verließ das Zimmer, um das Kursbuch zu holen.
„Gieb dir keine Mühe, Fritz!“ meinte seine Frau ganz ruhig, als er damit zurückkam. „Die Reise ist mir zu weit, um sie allein zu machen. Vielleicht fahren wir beide nächsten Sommer hin, wenn du keinen Rheumatismus hast!“
„Ach, um meinetwillen,“ wehrte er ab.
„Willst du mich gern los sein, Fritz?“
Noch an demselben Abend ging ein lustiger Brief ab nach Wien, den Vater und Mutter zusammen geschrieben hatten, und über den der Schwiegersohn herzlich lachte, wenngleich Anni etwas enttäuscht war.
„Ich sehe gar nicht ein,“ schmollte sie, „weshalb solch alte Leute sich nicht auf ein paar Wochen trennen wollen.“
Da nahm ihr Mann sie beim Kopf und sah ihr ernst in die Augen.
„Anni, ich wollte, wir beide, du und ich, fänden in dreißig Jahren es ebenso schwer, uns zu trennen, wie die Eltern!“