Aberglaube und Verbrechen

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Autor: Dr. Hanns Groß
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Titel: Aberglaube und Verbrechen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 16, S. 495–500
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1898
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Aberglaube und Verbrechen.
Von Dr. Hanns Groß.

Ich war ein ganz junger österreichischer Justizbeamter, als mir der Untersuchungsrichter, dem ich zur Ausbildung überantwortet war, einen „Fall“ zur ersten selbständigen Vernehmung der Zeugen übergab. In keinem großen Prozesse wegen Raubmords, Hochverrats oder sonst was Wichtigen habe ich später die Vorbereitungen zur Vernehmung so umständlich und genau gepflogen: zehnmal änderte ich die Reihenfolge, wie ich die Leute verhören wollte, alle Fragen waren vorbereitet, alle Zwischenfälle überdacht, kurz alles war in ein sorgfältig ausgehecktes System gebracht, obwohl es sich nur um einen ganz unbedeutenden Diebstahl handelte. Das Wichtigste schien mir die Reihenfolge der Zeugen: erst wollte ich die Dame vernehmen, in deren Haus der Diebstahl vorgefallen war, um über alle in Betracht kommenden Leute unterrichtet zu werden, dann den Beschädigten, hierauf dessen Zimmerkameraden u. s. w. Es war ein herrlicher Plan; aber als der Tag der Vernehmung kam, erschien die bewußte Dame nicht, und ich mußte meinen Plan eiligst aufgeben und die Sache anders machen, mehr schlecht als recht.

Ich hatte einen Mißerfolg, und als am nächsten Tage die so schwer Vermißte zur Thür hereinrauschte, empfing ich sie recht unartig: allein ein erstickender Redeschwall ergoß sich über mich, und endlich konnte ich in fast weinerlichem Tone nur noch fragen, [498] warum sie denn gestern nicht gekommen sei. In beweglichen Worten belehrte ich sie über die Autorität der Gerichte, Verpflichtung der Staatsbürger und ähnliche Ideale, an die ein ganz junger Kriminalist noch zu glauben pflegt. „Aber ich bitte Sie, wie konnten Sie denn verlangen, daß ich gestern kommen solle; es war doch Freitag, und ich konnte doch zum erstenmal in meinem Leben zu Gericht nicht an einem Freitag kommen!“ Das war die ganze Entschuldigung der Dame.

Als ich meine Fassung halbwegs wieder gefunden hatte, hielt ich ihr trotz ihrer Schönheit doch anerkennenswert barsch vor, daß die anderen Leute, denen sie an Bildung „himmelhoch“ überlegen sei, ganz brav erschienen seien, obwohl es für sie doch auch Freitag war.

„Aber ich bitte Sie,“ war die erstaunliche Antwort, „diese Leute – das ist ja ganz etwas anderes, die empfinden doch nicht so fein.“

Daß man aber selbst in der Verbrecherwelt Leuten begegnen kann, die ähnlich „fein“ empfinden, sollte ich bald erfahren. Man hatte einen berüchtigten, oft abgestraften Einbrecher auf frischer That ertappt; sein Gehilfe wurde zwar gesehen, er entwischte aber. Aus früheren Raubzügen des Eingelieferten wußte man, daß er regelmäßig denselben Genossen hatte, dieser wurde daher ausgeforscht und verhaftet. Er beteuerte hoch und heilig, diesmal unschuldig zu sein. „Ich könnt’s fast beweisen, daß ich’s nicht war, aber Sie werden mir’s nicht glauben.“ Mehr war aus ihm nicht herauszubringen, doch als sich die Schlinge immer fester um seinen Hals schnürte, rückte er endlich mit einer Erzählung hervor: „Wir hätten unser drei von der Partie sein sollen,“ meinte der alte Gauner; „ich hätte wirklich damals mitgehen sollen; aber als ich aus dem Hause trat, um mich auf den Intippel (Rendezvousplatz) zu begeben, begegnete mir ein altes Weib. Ich bin gar nicht abergläubisch, aber zu später Nachtstunde, wo sonst kein Mensch in der Straße war, einem alten Weib zu begegnen – das kann nichts Gutes bedeuten, und so kehrte ich um und ließ die zwei andern allein arbeiten.“

Mir war es damals noch neu, daß ausgepichte Verbrecherseelen an dem harmlosen Jägeraberglauben mit dem alten Weibe festhalten, aber mein Mann hatte so sicher gesprochen, daß es ja sein konnte.

In der That gelang es der Polizei, in der fraglichen Straße die alte Frau auszuforschen, die in jener Nacht ausgegangen war, um für ihre Nachbarin den Arzt zu holen; sie erinnerte sich, daß ihr ein Mann begegnet war, der sofort wieder umkehrte. Dies war ihr auffallend; sie sah sich um und konnte wahrnehmen, daß der Mann in ein Haus trat, welches allerdings das vom Genannten bewohnte war. Etwas von der Erzählung war also richtig und spätere Erhebungen konnten feststellen, daß der Mann diesmal wirklich „nicht von der Partie war“. Ausnahmsweise hatte also hier der Aberglaube einmal Gutes bewirkt.

Aehnliche Beobachtungen haben übrigens alle Kriminalisten gemacht: niemand hält auf Vorbedeutungen, gute und böse Zeichen, Ahnungen, glückliche und unglückliche Tage und ähnliches mehr als der richtige Gauner, und viele Verbrechen sind lediglich deshalb unterblieben, weil irgend ein Zeichen „dagegenstand“. Ich glaube übrigens, daß „große“ Gauner, namentlich solche, die in einer kleineren oder größeren Bande eine leitende Stellung einnehmen, mitunter Aberglauben vorschieben, um ein anderes Motiv damit zu decken; dies wird besonders dann vorkommen, wenn irgend ein Verbrechen geplant wurde, vor dessen Ausführung dem Leiter der Bande aus irgend einem Grunde angst wird. Dies gesteht er den anderen nicht gerne ein, da er durch ein solches Bangewerden, wenn es auch noch so berechtigt war, leicht um sein Ansehen kommen kann; viel bequemer und sicherer ist es, irgend ein böses Omen oder ähnliches vorzuschützen, denn dafür kann niemand und der Zweck wird erreicht, ohne sich erst gegen Einwendungen, Zureden etc. wehren zu müssen. –

Als ich später in eine kleine Landstadt, nicht weit von der ungarischen Grenze, versetzt wurde, hatte ich reichliche Gelegenheit, im Bereiche meiner Berufsthätigkeit Aberglauben über Aberglauben zu finden. Gleich in den ersten Tagen hatte ich in der Apotheke zu thun, als ein Mann eintrat und Krokodilfett verlangte. Der Apotheker verschwand und brachte dann ein winziges Klümpchen grünlichen Fettes, welches gut verwahrt und noch besser bezahlt wurde. Als der Mann fort war, sagte der Apotheker, ein gebildeter und höchst anständiger Mann, in entschuldigendem Tone: „Sehen Sie, als ich hierher kam, glaubte ich, die dummen Menschen gescheiter machen zu können, und wenn die einfältigen Käufer irgend welchen Unsinn von mir haben wollten, so belehrte ich sie und suchte sie zur Annahme des entsprechenden Mittels zu bewegen. Aber was war die Folge? Was sie bei mir nicht bekamen, holten sie in der nächsten Apotheke, beim Abdecker oder sonst wo; ja gewisse Substanzen verschafften sie sich in oft sehr bedenklicher Weise. Heute bekommen sie alles bei mir: Dachs-, Hunde-, Bären-, Krokodil-, Affen-, Schnecken-, Menschenfett, Skorpionöl, Regenwurmbalsam, Mithridat, Elephantenschweiß, Hexensalbe und Mitternachtstropfen.“

Der Mann hatte nicht so ganz unwahr gesprochen, und erst später wurde mir klar, was er mit den Worten „die Leute verschaffen sich manches in bedenklicher Weise“ gemeint hatte.

Gerade der finsterste Aberglaube verleitet die Menschen zu schweren Verbrechen. Wunderbare Wirkungen werden verschiedenen Dingen zugesprochen, die ohne Verbrechen schwerlich zu beschaffen sind. Menschenfett, das Blut unschuldiger Kinder, zu Neumond ausgegrabene Leichenteile u. dergl. sollen bald gegen Krankheiten helfen, bald die Entdeckung begangener Unthaten verhüten, bald zum Auffinden verborgener Schätze dienen. Bei Verblendeten und Wahnwitzigen, die sich in den Besitz solcher Dinge setzen wollen, wird der Aberglaube zur Triebfeder unbegreiflicher verbrecherischer Thaten. Noch im Jahre 1894 hat ein Prozeß das größte Aufsehen erregt, weil in ihm festgestellt wurde, daß man damals in Sizilien nicht weniger als zwanzig Kinder gemordet hatte, um mit deren Blute einen großen Schatz aus der Sarazenenzeit heben zu können.

In noch größerem Maße bestimmt der Glaube an böse Geister und Hexen unaufgeklärte Menschen zu verbrecherischen Handlungen.

Der ausgezeichnete russische Kriminalist August Löwenstimm hat hierüber ebenso mühsame wie belehrende Zusammenstellungen gemacht; er weist z. B. nach, daß Menschenopfer, namentlich zur Zeit großer Bedrängnisse, wie Hungersnot, Epidemien, Wetterschäden etc., in Rußland bis in die neueste Zeit zu verfolgen sind, so daß man mit Recht befürchten muß, daß sich auch jetzt noch solch’ entsetzliche Vorgänge wiederholen können, sobald einer der genannten Anlässe eintritt. So wurden im Gouvernement Archangelsk bis in die zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts dem Wassergeist regelmäßige Menschenopfer gebracht; 1855 begrub man im Nowgorodschen Kreise eine alte Frau lebendig, um die Cholera zu bannen, und dasselbe geschah 1861 mit einem jungen Mädchen anläßlich einer anderen Epidemie im Turuchanschen Gebiete. Als 1871 die Cholera sich um Torkatschi ausbreitete, war es nur einem Zufall zu danken, daß dort eine Bäuerin nicht geopfert wurde, aber noch später, 1881, hat man, allerdings bei den fernen Jakuten am Weißen Meere, ein Mädchen umgebracht, um einer fürchterlichen Hungersnot ein Ende zu machen.

Mit solchem Opferglauben stehen die Hexenprozesse im engsten Zusammenhange. Welcher unselige Wahn die Menschheit durch Jahrhunderte befangen hielt, welche entsetzliche Menge von Schmerzen, Qualen, Todesangst, Martern und Hinrichtungen der Hexenglaube gekostet hat, ist bekannt genug – man meint, daß man die Zahl der verbrannten und zu Tode gemarterten Hexen auf eine Million veranschlagen dürfe. Die letzten Hexenhinrichtungen in Europa fanden im vorigen Jahrhundert statt, aber in Mexiko wurden in San Juan noch 1874 zwei und 1877 fünf Frauen als Hexen von Amts wegen verbrannt!

Wenn auch die Justiz in Europa seit etwa 100 Jahren so Entsetzliches nicht mehr unternimmt, so lebt doch der Glaube an Hexen und Zauberer in verschiedenen Gegenden fort, und unaufgeklärte Volksmassen lassen sich noch hinreißen, an den unschuldig Verdächtigten Lynchjustiz zu üben. Noch 1836 haben Fischer auf der Halbinsel Hela bei Danzig eine Hexe ertränkt; aber von da an finden wir in Westeuropa wenigstens keine Mordthaten an Hexen mehr, immer nur wurden dieselben schwer mißhandelt, wobei meistens das vergossene Blut aufgefangen [499] und zu abergläubischen Zwecken verwendet ward; so 1874 in Strasburg in Westpreußen, 1862 in London, 1873 in Christburg (Westpreußen), 1870 in Dirschau und 1866 in Schönsee bei Thorn; jedesmal handelte es sich um eine alte Frau, die im Verdachte stand, jemand behext zu haben, wofür sie unbarmherzig geschlagen wurde.

Merkwürdig zählebig ist auch der Glaube an den Wechselbalg (Kielkropf). So nennt man in manchen Gegenden mißgestaltete, kränkliche oder blödsinnige Kinder. Sie werden nach abergläubischen Ueberlieferungen von Zwergen, Unholden, Schratteln[1], auch wohl von Nixen, Hexen oder dem Teufel selber gebracht, wogegen sich der betreffende Uebelthäter ein wohlgestaltetes Menschenkind mitnimmt. Das Böse an der Sache liegt darin, daß man ferner glaubt, man müsse den Wechselbalg so lange schlagen oder sonst quälen, bis der Ueberbringer desselben ihn wieder holt und dafür das geraubte Kind zurückbringt. Wuttke, Schwartz, Mannhardt, Löwenstimm und zahlreiche andere Schriftsteller erzählen genug derartige Fälle, und die russischen Gesetzgeber fanden es notwendig, im Art. 1469 des russischen Strafgesetzbuches das Töten mißgestalteter Kinder ausdrücklich zu verbieten.

Ich selbst hatte einmal Gelegenheit, mich zu überzeugen, wie lebendig noch der Glaube an Wechselbälge im Volke ist. Die Sache passierte einem Kollegen am gleichen Amtsorte, an dem ich mich befand. Ein ganz kleines Kind hatte sich an den Wiegenbändern erhängt, weshalb die Erhebungen wegen fahrlässiger Tötung eingeleitet wurden. Ich weiß nicht, ob man dies anderwärts auch so macht, aber bei unserer Landbevölkerung pflegen die Leute, wenn sie zur Arbeit gehen und ihre Kinder unbeaufsichtigt zu Hause lassen müssen, die Kleinen in der Wiege „einzuschnüren“. Zu diesem Zweck tragen die Seitenwände der Wiege jederseits mehrere Holzknöpfe, über welche eine Schnur im Zickzack geschlungen wird, so daß das Kind hierdurch in der Wiege niedergehalten wird; es kann sich somit nicht aufrichten und nicht hinausstürzen.

Im gegebenen Falle hatte das Kind aber doch die Schnur gelockert und über einen Knopf gehoben, es stürzte aus der Wiege, blieb mit dem Kopf in dem Bande hängen und erstickte. Als nun die Mutter des Kindes wegen ihrer Sorglosigkeit zur Rechenschaft gezogen wurde, erklärte sie ganz ruhig, sie sei vollkommen schuldlos, denn „das hat der Schrattl gethan“. Sie erklärte dann, der Hergang sei offenbar so gewesen, daß der Schrattel das Kind habe rauben und dafür einen Wechselbalg habe einlegen wollen. Hierbei habe er mit dem Schnürband ungeschickt hantiert, das Kind sei mit dem Halse hängen geblieben, der Schrattel habe es nicht loslösen können und sei erschreckt geflohen. So mußte sich, freilich das Kind erhängen! Die Erklärung wurde von mehreren vernommenen Nachbarinnen als sicher richtig bestätigt.

Kurze Zeit darauf konnte ich wahrnehmen, daß der Glaube an den Schrattel in unserer Gebirgsbevölkerung noch sehr verbreitet ist. Ich besaß einen winzigen, zottigen und äußerst lebhaften Hund, der leider den unausrottbaren Hang bezeugte, seine Mitgeschöpfe zu ärgern, zu quälen und ihnen allen erdenklichen Tort anzuthun, so daß er infolge dieser üblen Eigenschaften „Schrattl“ genannt wurde. In Begleitung dieses Geschöpfes ging ich einmal eine längere Wegstrecke mit einem alten, sehr intelligenten Bauern, der mir im Verlaufe des Gespräches allen Ernstes riet, dem Tiere einen anderen Namen zu geben, denn „so oft den Schrattl zu rufen, heiße den Teufel an die Wand malen“.

Wohl hat M. Busch recht, wenn er in seinem Werke „Deutscher Volksglauben“ sagt: „Der deutsche Aberglaube ist das nachgedunkelte Bild des deutschen Heidentums – es liegt ein schönes Stück Poesie darin“, aber wir Kriminalisten sind diesem „nachgedunkelten Bilde“ nicht grün! Viel weniger gefährlich als die vorher erwähnten abergläubischen Ueberlieferungen, gleichwohl aber bedenklich sind alle Gespenster- und Spukgeschichten. Allerdings mögen die Gründe, warum es irgendwo „umgeht“, mitunter ganz zufällig und harmlos sein, in der Regel hat es aber doch einen ganz bestimmten Grund, warum jemand den Glauben entstehen ließ, es sei da und dort nicht recht geheuer: er will einfach verhindern, daß er bei irgend einem unlauteren Treiben gestört oder betreten wird, und dies ist mit dem Ausstreuen einer recht gruseligen Spukgeschichte am leichtesten erreicht. Freilich geht es da oft so zu wie mit der frischgestrichenen Gartenbank im Schloßpark zu Schönbrunn, zu der man einen Wachposten gestellt hatte, damit sich niemand darauf setze: der Grund der Aufstellung des Postens wurde vergessen, die Bank existierte überhaupt nicht mehr, und nach 60 Jahren stand der Posten immer noch dort und wurde alle zwei Stunden abgelöst. Ebenso hat auch vielfach derjenige, der den Spuk ins Leben rief, diesen vielleicht längst nicht mehr nötig, er ist vielleicht schon lange tot, aber der Glaube an das Gespenst ist nicht gestorben. – Wenn nun die Magd einen bestimmten Teil des Gartens von Geistern belebt sein läßt, um dort ungestört ihre Stelldicheins abhalten zu können, so ist der Vorgang genau derselbe, wie wenn Falschmünzer eine Ruine in Verruf bringen, um dort ihr verbrecherisches Treiben nicht entdecken zu lassen; ebenso bringen die Wilddiebe entsetzliche Spukgeschichten unter die Leute, um gewisse Reviere bei Nacht für sich zu haben, denn auch der beherzteste Jäger ist rechtschaffen abergläubisch, und der Fischdieb läßt Wassergeister und Nixen treiben, damit ihm niemand über seine Nachtangeln und Reusen gehe. So macht es alles lichtscheue Gesindel, und wenn wir unsere Gendarmen beauftragen, gerade dort ein wachsames Auge zu halten, wo es „umgeht“, so gelingt mancher überraschende Fang.

Ich habe durch meine ganze Jugend die Ferien auf einem Landbesitze meines Großvaters in schöner, einsamer Gegend zugebracht. Dort steht ein Berg, halb mit Feldern und Wiesen, halb mit Wald bedeckt, wo damals ein ganz besonders unheimliches Gespenst sein Unwesen trieb: ein borstiges Schwein mit einem Menschenkopf, in dessen Stirne eine Flintenkugel stak. Die Leute hatten heillosen Respekt vor dieser Gegend, niemand wollte zur Nachtzeit dort gehen, und wenn ich, selten genug, meinen Weg dort nehmen mußte, so ging es, selbst als ich schon ein fast erwachsener Bursche war, nie ohne Herzklopfen ab; man konnte doch nicht recht wissen! Erst nach Jahren wurde entdeckt, daß der einzige Bauer, der in jener unheimlichen Gegend wohnte, durch die längste Zeit die unverschämtesten Felddiebstähle begangen hatte. Er war vermögend geworden, da er durch Jahrzehnte die fremden Felder fast vollständig abgeräumt hatte; die Leute merkten wohl, wie sie bestohlen wurden, aber niemand wagte es, dort zur Nachtzeit aufzupassen, und so störte niemand den Dieb, der zweifellos das famose Gespenst selbst erfunden und die Kunde davon verbreitet hatte. Man wird nicht fehl gehen, wenn man den größten Teil der Gespenster als absichtlich erfundene Schutzgeister für verbrecherisches Treiben ansieht und danach handelt.

Ist einmal eine Spukgeschichte entstanden, so hat sie regelmäßig langes Leben, und wenn sie auch jenem Zweck, dem zuliebe sie geschaffen wurde, nicht mehr dient, so kann sie in anderer Weise Unheil stiften. Als ich noch in dem kleinen Städtchen, welches früher erwähnt wurde, diente, kam einmal, während ich bei Tisch saß, ein Gendarm hereingestürzt: „Ein Ermordeter wurde gefunden!“ meldete er. Mehr wußte er nicht, da ihm, der eben von einem Dienstgange heimging, ein anderer Gendarm begegnet war, der vom Fundorte in der Stadt (ich wohnte außerhalb derselben) gekommen war; dieser hatte den Heimkehrenden zu mir gesendet und war selbst an den grausigen Fundort zurückgeeilt, um ihn zu bewachen. Selbstverständlich unterbrach ich die Mahlzeit sofort und rannte mit dem Gendarmen davon. Es ergab sich nun eine eigenartige Geschichte.

An der Grenze des Städtchens lagen das Brauhaus und daneben das Wohnhaus und der Garten des Brauers. Diesem war sein großer Lieblingshund verendet, den er im Garten verscharren ließ, und als die Grube ausgehoben wurde, fand man einen „Ermordeten“, d. h. das Schädeldach eines Menschen, Wirbelknochen und sonstiges Gebein. Mir wurde bald die Aufklärung zu Teil, als der Gerichtsarzt erschien und die Knochen sorgfältig untersuchte. „Den Thäter erwischt ihr jedenfalls nicht mehr,“ war sein Gutachten, „denn dieser arme [500] Teufel ist seit Jahrhunderten tot; er war ein Hunne oder Chorruzze oder Tatar, kurz irgend einer der vielen mongolischen Leute, die sengend, brennend und raubend unzähligemal über die Grenze gebrochen sind und diese arme Gegend jahrhundertelang verwüstet haben. Solche kleinköpfige Skelette mit fliehender Stirne und krummen Beinen findet man hier überall, wo man tiefer in die Erde gräbt.“ Später sandte ich den Schädel an den berühmten Anatomen Hyrtl in Wien, dessen Schädelsammlung die größte der Erde war, und bat ihn von Amts wegen um sein Gutachten. Auch er bestätigte, daß der Schädel einem Manne mongolischer Abkunft gehört hätte und daß die Knochen jedenfalls mehrere hundert Jahre in der Erde gelegen haben müßten. Obwohl ich dafür sorgte, daß dieses autoritative Gutachten unter der Bevölkerung verbreitet wurde, ließ diese nicht von ihrer eigenen Ueberzeugung ab.

Schon damals, als ich an der Grube auf den Gerichtsarzt gewartet hatte, teilte man mir mit, daß wir hier die Ueberreste eines erschlagenen und beraubten Juden vor uns hätten. Derselbe sei ein wohlhabender Viehhändler gewesen, habe vor einigen Jahren in der Nähe übernachtet und sei von da an verschwunden. Man habe auch immer gewußt, daß der Jude hier verscharrt sein müsse, da gerade an dieser Stelle allemal zu Neumond, nachts von 12 bis 1 Uhr, eine blaue Flamme über der Erde tanze. „Das ist auf allen Judengräbern so,“ belehrten mich die Leute. Unglücklicherweise befand sich in der Nähe des Fundortes ein kleines Häuschen, in dem ein alter Mann lebte; er war einsam, verschlossen und mürrisch, verkehrte mit niemand, ernährte sich bescheiden, aber auskömmlich – wovon, wußte man nicht. Zudem war er nicht aus der Gegend, alles zusammen für die Nachbarn Grund genug, um in ihm einen „verdächtigen“ Menschen zu sehen. „Der Jude war verschwunden, nachdem er in der Nähe des verdächtigen Hauses übernachtet hatte, nicht weit von demselben tanzte die blaue Flamme, nun fand man dort Knochen – folglich hat der Bewohner des verdächtigen Hauses den Juden erschlagen“ – das war die zwingende Schlußfolgerung der Bevölkerung, und alles Reden und Beweisen half nichts. Der alte Mann, dem niemand das geringste Unrecht nachweisen konnte, blieb in der Volksmeinung bis zu seinem späten Tode der Mörder des erschlagenen Juden. Man hatte sogar in seiner Heimat Erhebungen gepflogen und erfahren, daß er früher ein wohlhabender Grundbesitzer gewesen war, der Frau und Kinder verloren hatte; dem angesehenen und geachteten Mann war durch dieses Unglück die Heimat verleidet, er verkaufte alles, zog in die Ferne und lebte da von dem Ertrage seines Geldes. Diese Nachricht half gar nichts: „wie verschlagen muß der Alte sein, daß er alle so zu täuschen wußte – die blaue Flamme beweist doch, daß er ein Mörder ist!“

Wie viel tausend Leidensgenossen mag nicht dieser arme Alte im Laufe der Jahrhunderte gehabt haben und noch haben, die verachtet, gemieden, ja oft auch angezeigt und vielleicht unschuldig verurteilt wurden, lediglich wegen eines grauenhaften Aberglaubens.

Gefährlicher als sie aussehen, sind die sogenannten „Segen“, Zaubersprüche, welche den, der sie braucht, schützen, seine Feinde verderben oder doch schädigen sollen. Unser Volk besitzt die ältesten derselben in Odins Runenliedern; das 21. Runenlied z. B. machte hieb- und stichfest. Im Laufe des Mittelalters mag man die Segen zu Tausenden und aber Tausenden gekannt und gesprochen haben, und in noch sehr großer Zahl leben sie auch heute noch. Ihre Gefährlichkeit beruht darin, daß eine Menge von Verbrechen nicht verübt worden wäre, wenn nicht irgend ein Segen dem Thäter zu seiner That Mut gemacht hätte. Der Wilderer stellt ungescheut den Tieren nach, wenn er einen sicheren Weidsegen gesprochen hat; ja er wagt es auch, mit dem Jäger anzubinden, vor dem er sonst geflohen wäre, bloß weil er sich durch einen verläßlichen Segen schußsicher gemacht hat, und weil er einen anderen Segen kennt, mit dem er den Jäger im gefährlichen Augenblick am Schießen hindern kann. Der Dieb wagt es, einzubrechen, weil er über einen Segen verfügt, der Schmuggler wagt seine gefährlichen Gänge nur unter dem Schutze seines Segens, und auch das tückische Gift wird mit den Worten eines Segens gebraut und gegeben. Alles wäre ausgeblieben, wenn der Segen nicht Courage gemacht hätte.

Wie häufig die Segen sind, zeigt jedes Buch, das sich mit Volksglauben und Verwandtem befaßt, überall sind sie in Unmenge zu finden, und jedesmal staunt man über den unermeßlichen Unsinn, den sie meistens enthalten.

In der Praxis findet man sie häufiger als man annehmen sollte. In der Haupt- und Residenzstadt Wien wurde noch 1894 anläßlich einer Untersuchung wegen eines großen Gelddiebstahles auf dem Reste des Gestohlenen ein Segen gefunden; er lautet sinnig:

„Ich trat in des Richters Haus
Da schaun drei tote Männer heraus.
Der erste ist stumm,
Der zweite winkt mir zu –
O hilf mir, heilige Muttergottes von Lanzendorf[2]!“

Wie der Dieb später gestand, durfte er das Gestohlene ungescheut und frei in seinem Kasten liegen lassen, da er sich durch den Segen vor jeder Entdeckung gesichert glaubte.

Einer der besten Kenner des Volkes unserer Berge, Jos. v. Franck, hat in einer trefflichen kleinen Schrift über „magisches Weidwerk“ zahlreiche Segen von Wildschützen gesammelt; will man sich z. B. gegen die Kugeln der Jäger und Wildhüter festmachen, so trägt man die Worte bei sich: „Hell, best! Klate mati! Atomay, klona Slott!“ Will man machen, daß die Büchse des Jägers versagt, so spricht man: „Afu, Afia, Nostra“. Schaut man dem Jäger aber unverwandt auf die Rohrmündung und sagt: „Pax, Sax, Syfax“, so kann dieser überhaupt nicht schießen. Wie mancher arme Teufel mag hinwieder diesen Glauben mit dem Leben bezahlt haben, welches er hätte retten können, wenn er geflohen wäre.

Alle diese Beispiele gewähren uns tiefe Einblicke in Verirrungen menschlichen Denkens und Empfindens. Sie lehren uns, wie weit verbreitet noch der Aberglaube ist und wieviel Unheil er in der Welt anrichtet. Darum darf man ihn nicht für eine längst überwundene Macht halten, sondern muß ihm unentwegt entgegentreten, bis Bildung und Aufklärung den finsteren Feind der Menschheit aus seinen letzten Schlupfwinkeln verdrängt haben.


  1. Schratt, Schrattel, Schraß, Schrettel, Schräzel (bei Goethe in „Wahrheit und Dichtung“: Räzel) ist ein rauher, zottiger kleiner Waldgeist, der dem Menschen mitunter wohl will, meistens aber ihm Unbill und Schabernack, oft auch schweres Unheil zufügt.
  2. Wallfahrtsort in der Nähe von Wien.