Wie ein Gänserich seine Hausehre vertheidigte

Textdaten
<<< >>>
Autor: Dr. Gergens
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Wie ein Gänserich seine Hausehre vertheidigte
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 19, S. 304
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[304] Wie ein Gänserich seine Hausehre vertheidigte. – In Nr. 11 des Jahrg. 1860 der Gartenlaube theilt Dr. Brehm eine Beobachtung mit, welche allerdings als eine Ehrenrettung der so oft der Dummheit anklagten Gans angesehen werden muß. Diese Erzählung hat mich an eine sehr ergötzliche Scene erinnert, welche ich vor mehreren Jahren auf einem reich bevölkerten Hühnerhofe erlebte, und die, weil dabei außer dem Haupthelden, einem wackeren Gänserich, die ganze Bevölkerung des Hofes mehr oder weniger betheiligt war, durch die Mannigfaltigkeit der handelnden Persönlichkeiten noch bedeutend an Interesse gewann.

Die Fenster meines Zimmers gingen auf einen großen Hof, in welchem sich Hühner verschiedener Racen, Enten, Tauben und Gänse, Hunde und Katzen, und zuweilen auch eine Ziege, jedes in seiner Weise, umhergetrieben. Der ihnen gegebene Raum war groß genug, um jeder Thierart die ihrer Natur entsprechende Thätigkeit zu erlauben, ohne die übrigen erheblich zu beeinträchtigen; und es waren bei reichlichem Futter selbst Streitigkeiten um des täglichen Brodes willen bei weitem nicht so häufig, als in den meisten Sphären der gebildeten Menschheit. So erfreute sich das bunte Völkchen schon Jahre lang des Lebens, und manches fette Stück Geflügel hatte durch Vermittelung der Küche seine Menschwerdung vollbringen müssen; da trat plötzlich eine traurige Wendung der Dinge ein. Großes Leid kam über die Bewohner des Hofes, und die bis dahin so friedliche Republik wurde zur absoluten Monarchie, in der die äußerste Beschränkung der persönlichen Freiheit nicht einmal mit „gloire“ übertüncht war.

An einem unglücklichen Tage fiel es dem Hausherrn ein, die Zahl seiner Hühnervögel durch einen Puter, bei uns Welscher[1] genannt, und seine zwei Gemahlinnen zu vermehren. Friedlich zog der Welsche ein in die Republik, er schien sich zuerst nur auf dem neuen Gebiete orientiren zu wollen und hielt sich fern von der übrigen Gesellschaft, scheinbar zufrieden mit dem Bewußtsein der Größte zu sein unter der Hühnerwelt. Stieg er auch stolz einher, mit hoch getragener Nase, erfüllt vom Gefühle seiner höchsteigenen Herrscherwürde, so beschränkte er sich doch auf solche friedliche Manifestationen und erlaubte sich vor der Hand keinerlei Eingriffe in die Rechte seiner Hofgenossen. Doch schon nach einigen Wochen fand er, daß die Freiheit allzu groß sei unter seinen Mitbürgern; das Bedürfniß einer kräftigen Handhabung der Polizeigewalt schien ihm so dringend, daß er wohl aus angeborener Vorliebe für dieses schöne Fach, das Fundament eines Musterstaates, diese allerhöchstselbst übernahm. Die Enten, welche bisher der sehr ungentilen Liebhaberei für schmutzige Pfützen gefröhnt hatten, wurden unbarmherzig verjagt, sobald sie sich den Abflüssen der Küche näherten, die Gänse durften nicht mehr in dem allgemeinen Wasserbehälter baden, den Tauben wurde das unnütze Umherlaufen aus dem Hofe verwehrt, und selbst die Hähne verschiedener Racen mußten, als nicht hoffähig, es sich gefallen lassen, das sonnige Revier zu meiden, in welchem Allerhöchstsie kollernd und die Flügel schleifend zu promeniren geruhten. Sowie auch anderwärts die Polizeiwillkür sich endlich mit dem Pietismus zu associiren pflegt, so bemächtigte sich zuletzt des großen Autokraten die Ueberzeugung von der Sündhaftigkeit dieser Welt, und er begann mit rühmlichem Eifer gegen die Verirrungen des Fleisches bei Andern anzukämpfen. Hatte bisher das Hofgeflügel ungestört der Liebe gepflegt, so war ihm nun plötzlich in dem neuen Dictator ein Sittenrichter erstanden, welcher ganz im Geiste des Muckerthums eben so streng gegen Andere, als nachsichtig gegen sich selbst, bei jeder verdächtigen Annäherung sich auf das zärtliche Paar stürzte und durch wüthende Bisse und Flügelschläge, verbunden mit lauten Aeußerungen seinen Unwillens, sich bemühte, bei ihnen den Regungen der Natur feindlich entgegenzutreten. So war denn das „Intravimus ut agni“ bereits in das „Regnavimus ut lupi“ übergegangen; ohne allerhöchste Erlaubniß war es den Bewohnern des Hühnerhofes nicht mehr erlaubt sich ungestört zu ernähren oder zu vermehren; da trat ganz unerwartet ein Ereigniß ein, welches den großen Imperator nicht allein in die gebührenden Schranken zurückwies, sondern sogar den bis dahin am meisten verfolgten Gänserich zur Herrschaft im Hühnerhofe erhob.

Eine der Gemahlinnen des Gänserichs hatte zu brüten angefangen und sich zu diesem Behufe in einen verborgenen Winkel eines Magazins zurückgezogen, wohin ihr der Hoftyrann nicht folgen konnte; um so größer aber war dessen Zorn, sobald die arme Gans hervorkam, um in möglichster Eile ihr Futter zu verzehren; sie war dann jedesmal seinen heftigsten Verfolgungen ausgesetzt, wurde zerzaust und gebissen, und mußte meistens noch ungesättigt zu ihrem Neste zurückeilen, um die Eier nicht erkalten zu lassen. Mehrmals hatte ich schon solche Scenen von meinem Fenster angesehen, ohne sie verhindern zu können; nicht immer war Jemand in der Nähe, der der armen Dulderin hätte beistehen können: da stürzte sich eines Tages der Gänserich mit solcher Wuth auf den Welschen und setzte ihm durch Bisse und Flügelschläge so sehr zu, daß der übermüthige Usurpator bald schmachvoll und blutend die Flucht ergriff und sich vor dem gerechten Zorne des beleidigten Gatten verkroch. Mit triumphirendem Geschrei und Flügelschlag verkündete der Gänserich männiglich seinen Sieg und das Morgenroth der erkämpften Freiheit, und seit dieser Lection wagte der Welsche nie wieder irgend ein Thier anzugreifen. Sein Muth war gebrochen, seit er ernsten Widerstand gefunden hatte, und das übrige Hofgeflügel, welches die Niederlage mit angesehen, nahm ferner keine Notiz von dem gestürzten Tyrannen. Der Friede war nun wieder hergestellt, und die Herrschaft offenbar auf den Gänserich übergegangen, der sich nicht um die Sittenpolizei kümmerte, sondern nur bei etwaigen Kämpfen der Hähne intervenirend einschritt. Hielt er sich auch gegen das Hofgeflügel in den Grenzen der Gleichberechtigung, so zeigte er doch bald eine so unerbittliche Feindschaft gegen die damals schon umfangreichen Damenkleider, daß er sich in dieser Hinsicht bald sehr mißliebig machte, und der Hausherr mußte ihn trotz seiner sonstigen ehrenwerthen Eigenschaften den Hausfriedens wegen dem heiligen Martinus opfern. Gleicht dieser in allen seinen Theilen ohne alle Zuthat erzählte Fall nicht einem Stück aus der Geschichte der Menschheit? Zeigt nun nicht der wackere Gänserich, wie auch wir fremder Anmaßung gegenüber verfahren sollten?
Dr. Gergens. 
  1. Mit dem Namen „Welscher“ bezeichnet man am ganzen Oberrhein, sogar im Elsaß, die Franzosen.