Wie der Molo die Rosenrot stahl
Zur Zeit der Tangdynastie gab es Schwertmeister verschiedener Art. Die ersten, das waren die Schwertheiligen. Sie konnten sich nach Belieben verwandeln, und ihr Schwert war wie der Blitzstrahl. Ehe sichs die Leute versahen, waren ihre Köpfe schon gefallen. Doch waren diese Männer [267] hohen Sinns und mischten sich nicht leicht in Weltgeschäfte ein. Die zweite Art, das waren die Schwerthelden. Sie pflegten die Ungerechten zu töten und den Bedrängten zu Hilfe zu kommen. Sie trugen einen Dolch an ihrer Seite verborgen und hatten eine Ledertasche um. Durch Zaubermittel vermochten sie Menschenköpfe in Wasser zu verwandeln. Sie flogen über die Dächer und gingen an den Wänden auf und ab. Spurlos kamen und gingen sie. Die unterste Art, das waren Mörder. Sie ließen sich dingen, wenn einer sich an seinen Feinden rächen wollte. Der Tod war ihnen etwas Alltägliches.
Der alte Drachenbart war wohl mitten inne zwischen der ersten und zweiten Art. Der Molo aber, von dem eine andere Geschichte erzählt, war einer der Schwerthelden.
Es lebte zu jener Zeit ein junger Mann namens Tsui. Sein Vater war ein hoher Beamter und Freund eines Fürsten. Der Vater sandte einst seinen Sohn, um seinen Freund, der krank war, zu besuchen. Der Sohn war jung und schön und wohlbegabt. Er ging hin, seines Vaters Befehle auszurichten. Als er in das Haus kam, da standen drei schöne Sklavinnen, die auf goldne Schalen rote Pfirsiche häuften, sie mit Zuckerwasser übergössen und ihm darreichten. Als er gegessen hatte, verabschiedete er sich, und der vornehme Gastfreund befahl einer Sklavin mit Namen Rosenrot, ihn zum Hofe hinauszugeleiten. Beim Gehen sah sich der junge Mann fortwährend nach ihr um. Sie blinzelte ihn lächelnd an und machte ihm mit der Hand Zeichen. Erst streckte sie drei Finger aus, dann drehte sie dreimal die Hand um, und endlich wies sie auf einen kleinen Spiegel, den sie vorn auf der Brust trug. Beim Abschied flüsterte sie ihm noch zu: „Vergiß mein nicht!“
Als er heim kam, da war all sein Sinnen und Denken in Verwirrung. Geistesabwesend saß er da wie ein hölzerner Hahn. Er hatte einen alten Knecht namens Molo, das war ein außergewöhnlicher Mensch.
„Was fehlt Euch, Herr,“ sprach er zu ihm, „daß Ihr so [268] traurig seid? Wollt Ihrs nicht Eurem alten Sklaven anvertrauen?“
Da erzählte ihm der Junge, was ihm begegnet war, und erwähnte auch die geheimen Zeichen, die das Mädchen ihm gemacht.
Molo sprach: „Daß sie drei Finger ausstreckte, das bedeutet, daß sie im dritten Hofe wohnt. Daß sie dreimal die Hand umdrehte, das deutet auf die Zahl von dreimal fünf Fingern. Das gibt zusammen fünfzehn. Daß sie auf ihren kleinen Spiegel zeigte, damit sagte sie, am fünfzehnten, wenn um Mitternacht der Mond rund ist wie ein Spiegel, sollet Ihr zu ihr kommen.“
Da erwachte der junge Mann aus seinen wirren Gedanken und konnte sich vor Freuden kaum fassen.
Bald aber wurde er wieder traurig und sprach: „Der Palast des Fürsten ist abgeschlossen wie durch ein Meer. Wie sollt es möglich sein, hineinzukommen?“
„Nichts leichter als das“, sagte Molo. „Am fünfzehnten nehmen wir zwei Stücke dunkler Seide und hüllen uns darein, und ich werde Euch so hintragen. Doch ist ein wilder Hund da, der das Hoftor der Sklavin bewacht, der ist stark wie ein Tiger und wachsam wie ein Gott. Niemand kommt an ihm vorbei. Den muß man erst töten.“
Als der bestimmte Tag gekommen war, da sprach der Diener: „Außer mir ist niemand auf der Welt imstande, diesen Hund zu töten.“
Der Jüngling gab ihm hocherfreut Wein und Fleisch. Dann nahm der Alte einen Kettenhammer und war im Augenblick damit verschwunden.
Und ehe die Dauer einer Mahlzeit vorüber war, war er schon wieder da und sprach: „Der Hund ist tot, es ist kein Hindernis mehr da.“
Um Mitternacht hüllten sich beide in dunkle Seide, und der Alte trug den Jüngling über die zehnfachen Mauern hinweg, die den Palast umgaben. Sie kamen an das dritte Tor; das war nur angelehnt. Ein Lämpchen sahen sie [269] schimmern und hörten Rosenrot tief seufzen. Der ganze Hof war einsam und still. Der Jüngling hob den Vorhang und trat ein. Rosenrot sah ihn lange prüfend an; dann sprang sie fröhlich von ihrem Ruhebett und faßte ihn bei der Hand.
„Ich wußte doch, daß Ihr klug seid und meine Fingersprache verstandet. Aber welche Zauberkräfte stehen Euch zu Gebote, daß Ihr hierher kamt?“
Der Jüngling erzählte ausführlich Molos Verdienste.
„Und wo ist Molo?“ fragte sie.
„Draußen vor dem Vorhang“, war die Antwort.
Dann rief sie ihn herein, gab ihm aus einer Jaspistasse Wein zu trinken und sprach: „Ich bin aus guter Familie fern von hier. Gezwungen nur bin ich Sklavin in diesem Haus. Ich sehne mich hinweg; denn wenn ich auch Jaspisstäbchen habe zum Essen und meinen Wein aus goldenen Kelchen trinke und Samt und Seide um mich schwellen und aller Schmuck mir zu Gebote steht: das alles sind für mich nur Fesseln und Bande. Guter Molo, du hast Zauberkräfte, ich bitte dich, rette mich aus dieser Not, dann will ich gerne deinem Herrn als Sklavin dienen und mein ganzes Leben diese Wohltat nicht vergessen.“
Der Jüngling blickte Molo an. Der war gerne bereit. Er bat um die Erlaubnis, erst in Taschen und Säcken die Aussteuer fortzuschaffen. Dreimal kam er und ging er, ehe es zu Ende war. Dann nahm er seinen Herrn und Rosenrot auf den Rücken und flog mit ihnen über die steilen Mauern hinweg. Keiner der Wächter im Schloß des Fürsten hatte irgend etwas gemerkt. Zu Hause verbarg der Jüngling Rosenrot im stillsten Gemach.
Als der Fürst entdeckte, daß ihm eine Sklavin fehlte und einer seiner wilden Hunde totgeschlagen war, da sagte er: „Das hat gewiß ein mächtiger Schwertheld getan.“ Dann gab er strengen Befehl, nichts verlauten zu lassen und im geheimen der Sache nachzuforschen.
Zwei Jahre waren vergangen, und der Jüngling dachte nicht mehr an irgendwelche Gefahr. Als daher im Frühling [270] die Blumen blühten, da fuhr Rosenrot auf einem kleinen Wagen vor die Stadt hinaus an den Fluß. Sie ward von einem Diener des Fürsten entdeckt. Der berichtete es seinem Herrn. Der Jüngling mußte zu ihm kommen. Da er die Sache nicht verbergen konnte, so erzählte er alles der Wahrheit gemäß.
Der Fürst sprach: „Rosenrot hat die ganze Schuld. Euch mach ich keinen Vorwurf. Aber da sie nun Eure Frau ist, so will ichs ihr auch hingehen lassen. Nur Molo soll mirs büßen.“
Dann befahl er hundert gewappneten Kriegern, mit Bogen und Schwertern das Haus des Jünglings zu umstellen und unter allen Umständen des Molo habhaft zu werden. Molo nahm seinen Dolch und flog die hohe Mauer empor. Er blickte um sich wie ein Falke. Die Pfeile kamen dicht wie Regen; aber keiner traf ihn. In einem Augenblick war er verschwunden, kein Mensch wußte wohin.
Nach mehr als zehn Jahren traf ihn einer der Leute seines Herrn im Süden, wie er Medizin verkaufte. Er sah noch immer aus wie früher.
Anmerkungen des Übersetzers
[402] 88. Wie der Molo die Rosenrot stahl. Vgl. Tang Dai Tsung Schu.
Das Märchen erinnert in manchen Zügen an indische Geschichten, man beachte z.B. die Zeichensprache, die von dem Helden selbst nicht verstanden wird, wohl aber von seinem Gefährten. Vgl. Indische Märchen von Harry Becher.