Wie der „Struwwelpeter“ entstand

Textdaten
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Autor: F. S.
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Titel: Wie der „Struwwelpeter“ entstand
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 46, S. 768–770
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Wie der „Struwwelpeter“ entstand.


Nach fast drei Jahrzehnten besuchte ich jüngst zum ersten Male wieder die altehrwürdige deutsche Krönungsstadt am Maine. Welche Veränderung war seitdem mit Frankfurt vorgegangen! Ich erkannte kaum die Stadt, kaum ihre Bewohner wieder – Frankfurt ist eine deutsche Weltstadt im vollen Sinne geworden! Freilich auch so manche interessante Eigenthümlichkeit der „guten alten Zeit“ ist dem modernen Geiste zum Opfer gefallen; vor Allem jene Frankfurter Original-Charaktere, die sonst in Deutschland, in Ernst und Scherz, einer weiten Berühmtheit sich erfreuten, sind in dem gewaltigen Strome der tausendfach bewegten Gegenwart verschwunden. Auch meine Frankfurter Freunde von ehemals waren mir, dem Norddeutschen, gerade durch dies echt Frankfurter und zugleich so echt deutsche Gepräge ihre äußeren und inneren Wesens so lieb und werth geblieben.

Ihrer und der vor vierzig Jahren mit ihnen verlebten Studienzeit gedenkend, wandelte ich am Nachmittage in den reizenden Anlagen umher, welche die – jetzt innere – Stadt umgeben. Plötzlich tritt einer der Vorübergehenden, mich forschend anblickend, freundlich an mich heran; ein Moment des Zweifels, und mit lauter fröhlicher Begrüßung reichen wir uns die Hände. Es war Dr. Heinrich Hoffmann, einst mein Heidelberger Universitätsfreund, jetzt hochgeachtet als Arzt der Frankfurter Irrenanstalt, und weit und breit berühmt als Verfasser des „Struwwelpeter“. Er schien mir, trotz der grauen Barthaare, in keiner Weise gealtert; frei und natürlich, heiter erregt und anregend, wie in der glücklichen Jugendzeit, so stand er auch jetzt vor mir. In munterem Austausche unserer Erlebnisse seit so vielen Jahren schritten wir zwischen den Blumenbeeten der Anlage dahin; plötzlich bog er mit mir in eine auf dieselbe einmündende Gartenstraße.

„Sie haben gesehen, daß ich lebe; sehen Sie nun auch, wie ich lebe!“ Mit diesen Worten führte er mich, auf angenehmem Feldwege weiterschreitend, seiner Wohnung zu. Wir traten bald in einen großen, einfach und geschmackvoll angelegten Garten, der ein weitläufiges, stattliches Gebäude in gotischem Stile umgab. Es war die vor zehn Jahren, hauptsächlich auf Hoffmann’s energischen Betrieb erbaute Irrenanstalt, deren reizende, gesunde Lage, auf einem Hügel nordwärts der Stadt, die geistige und leibliche Pflege der Unglücklichen, denen sie zum Asyle dient, so wirksam unterstützt. Die vortretende Mitte des großartigen Gebäudes enthält die Wohnung des Arztes; von ihren Fenstern und Balconen überblickt das Auge südwärts die in die reiche Main-Ebene sich ausbreitende prächtige Stadt, nordwärts das mit Städtchen, Dörfern, Burgen geschmückte landschaftliche Paradies der Taunus-Abhänge.

Unter der belehrenden Führung des Freundes lernte ich alle Räume der reichausgestatteten Anstalt kennen. Ergriffen von den Eindrücken des menschlichen Elendes, wie es in den Krankenzellen eines solchen Hauses sich darstellt, und doch wieder gehoben und getröstet bei dem Anblicke der sich überall kundgebenden musterhaften Ordnung und Sorgfalt, ließ ich mich nach einiger Zeit mit dem trefflichen Seelenarzte auf dem Balcon nieder, im Anblicke der vom Golde der Abendsonne übergossenen anmuthigen Gegend. Doch mehr noch als diese fesselten zwei holde Kinderchen meine Aufmerksamkeit, die vor uns im Garten voll lauter Jugendlust ihre Spiele trieben.

„Das sind meine Enkelchen,“ sagte der Freund, „denen ich, um sie der dumpfen Stadtluft zu entziehen, eine kräftige Sommerfrische hier bereitet habe.“

„Sie sorgen“, rief ich aus, „so väterlich für die gesammte Kinderwelt; was Wunder, daß Sie für Ihre eigenen Kinder und Enkel doppelt väterlich besorgt sind! Sie haben sich ja,“ fügte ich scherzend hinzu, „durch Ihre Kinderschriften die Eltern und Kinder der ganzen civilisirten Welt zu großem Danke verpflichtet!“

In behaglicher Stimmung ging Hoffmann auf diesen Gegenstand ein, und so kamen wir auf die Entstehungsgeschichte des Struwwelpeter, die mir interessant und besonders für Eltern lehrreich genug scheint, um sie hier ausführlicher und, soweit mein Gedächtniß mir treu ist, mit Dr. Hoffmann’s eigenen Worten mitzutheilen, diese charakterisiren den Freund besser, als ich es vermöchte.

„Gegen Weihnachten des Jahres 1844,“ begann er, „als mein ältester Sohn drei Jahre alt war, ging ich in die Stadt, um demselben zum Festgeschenke ein Bilderbuch zu kaufen, wie es der Fassungskraft des kleinen menschlichen Wesens in solchem Alter entsprechend schien. Aber was fand ich? Lange Erzählungen oder alberne Bildersammlungen, moralische Geschichten, die mit ermahnenden Vorschriften begannen und schlossen, wie: ‚Das brave Kind muß wahrhaft sein‘, oder: ‚Brave Kinder müssen sich reinlich halten‘ etc. – Als ich nun gar endlich ein Foliobuch fand, in welchem eine Bank, ein Stuhl, ein Topf und vieles Andere, was wächst oder gemacht wird, ein wahres Weltrepertorium, abgezeichnet war, und wo bei jedem Bild fein säuberlich zu lesen war: die Hälfte, ein Drittel, oder ein Zehntel der natürlichen Größe, – da war es mit meiner Geduld aus. Einem Kind, dem man eine Bank zeichnet, und das sich daran erfreuen soll, ist dies eine Bank, eine wirkliche Bank. Und von der wirklichen Lebensgröße der Bank hat und braucht das Kind gar keinen Begriff zu haben. Abstract denkt ja das Kind noch gar nicht, und die allgemeine Warnung: ‚Du sollst nicht lügen!‘ hat wenig ausgerichtet im Vergleich mit der Geschichte: ‚Fritz, Fritz, die Brücke kommt!‘

Als ich damals heimkam, hatte ich aber doch ein Buch mitgebracht; ich überreichte es meiner Frau mit den Worten: ‚Hier ist das gewünschte Buch für den Jungen!‘ Sie nahm es und rief verwundert: ‚Das ist ja ein Schreibheft mit leeren weißen Blättern!‘ ‚Nun ja, da wollen wir ein Buch daraus machen!‘

Damit ging es nun aber so zu. Ich war damals, neben meinem Amt als Arzt der Irrenanstalt, auch noch auf Praxis in der Stadt angewiesen. Nun ist es ein eigen Ding um den Verkehr [769] des Arztes mit Kindern von drei bis sechs Jahren. In gesunden Tagen wird der Arzt und der Schornsteinfeger gar oft als Erziehungsmittel gebraucht: ‚Kind, wenn Du nicht brav bist, kommt der Schornsteinfeger und holt Dich!‘ oder: ‚Kind, wenn Du zu viel davon issest, so kommt der Doctor und gibt Dir bittere Arznei, oder setzt Dir gar Blutegel an!‘ Die Folge ist, daß, wenn in schlimmen Zeiten der Doctor gerufen in das Zimmer tritt, der kleine kranke Engel zu heulen, sich zu wehren und um sich zu treten anfängt. Eine Untersuchung des Zustandes ist schlechterdings unmöglich; stundenlang aber kann der Arzt nicht den Beruhigenden, Besänftigenden machen. Da half mir gewöhnlich rasch ein Blättchen Papier und Bleistift; eine der Geschichten, wie sie in dem Buche stehen, wird rasch erfunden, mit drei Strichen gezeichnet, und dazu möglichst lebendig erzählt. Der wilde Oppositionsmann wird ruhig, die Thränen trocknen, und der Arzt kann spielend seine Pflicht thun.

So entstanden die meisten dieser tollen Scenen, und ich schöpfte sie aus vorhandenem Vorrathe; Einiges wurde später dazu erfunden, die Bilder wurden mit derselben Feder und Tinte gezeichnet, mit der ich erst die Reime geschrieben hatte, Alles unmittelbar und ohne schriftstellerische Absichtlichkeit. Das Heft wurde eingebunden und auf den Weihnachtstisch gelegt. Die Wirkung auf den beschenkten Knaben war die erwartete; aber unerwartet war die auf einige erwachsene Freunde, die das Büchlein zu Gesicht bekamen. Von allen Seiten wurde ich aufgefordert, es drucken zu lassen und es zu veröffentlichen. Ich lehnte es anfangs ab; ich hatte nicht im Entferntesten daran gedacht, als Kinderschriftsteller und Bilderbüchler aufzutreten. Fast wider Willen wurde ich dazu gebracht, als ich einst in einer literarischen Abendgesellschaft mit dem Einen meiner jetzigen Verleger gemüthlich bei der Flasche zusammensaß. Und so trat das bescheidene Hauskind plötzlich hinaus in die weite offene Welt und machte nun seine Reise, ich kann wohl sagen, um die Welt, und ist heute seit sechsundzwanzig Jahren bis zur neunundsechszigsten Auflage gelangt. Von Uebersetzungen ist mir bis jetzt eine englische, holländische, dänische, schwedische, russische, französische, spanische und eine portugiesische (für Brasilien) zu Gesicht gekommen.

Ich muß dabei auch des sonderbaren Erfolges erwähnen, den das Büchlein anfangs in Frankfurt selbst hatte. In den ersten Monaten des Jahres 1846, nachdem der Struwwelpeter am vergangenen Christfest zum ersten Male in die Kinderwelt getreten war, wurde ich oft von dankbaren Müttern oder entzückten Vätern auf der Straße angehalten, welche mich mit den Worten begrüßten: ‚Lieber Herr Doctor, was haben Sie uns eine Freude gemacht! Ich habe da zu Hause ein dreijähriges Kind, welches sich bis jetzt sehr langsam entwickelte und nun in ganz kurzer Zeit das ganze Buch auswendig weiß und ganz allerliebst hersagt. Ich versichere Sie, in dem Kinde steckt was!‘ – Damals waren [770] die Genies unter den Kindern ganz gemein geworden. Später sahen freilich die Leute ein, daß es nicht sowohl in den außergewöhnlichen Anlagen der Kleinen, als in der glücklich getroffenen plastischen Diction steckte.“

„Und trotzdem, lieber Freund,“ bemerkte ich, „hat man Ihre Bilderbücher herzhaft angegriffen, an denselben das gar zu Märchenhafte, in den Bildern das fast Fratzenhafte herb genug getadelt.“

„Ja,“ erwiderte der Freund, „man hat den Struwwelpeter großer Sünden beschuldigt. Da heißt es: ‚Das Buch verdirbt mit seinen Fratzen das ästhetische Gefühl des Kindes.‘ Nun gut, so erziehe man die Säuglinge in Gemäldegalerien oder in Cabineten mit antiken Gypsabdrücken! Aber man muß dann auch verhüten, daß das Kind sich selbst nicht kleine menschliche Figuren aus zwei Kreisen und vier geraden Linien in der bekannten Weise zeichne und glücklicher dabei ist, als wenn man ihm den Laokoon zeigt. – Das Buch soll ja märchenhafte, grausige, übertriebene Vorstellungen hervorrufen! Das germanische Kind ist aber nur das germanische Volk, und schwerlich werden diese National-Erzieher die Geschichte vom Rothkäppchen, das der Wolf verschluckte, vom Schneewittchen, das die böse Stiefmutter vergiftete, aus dem Volksbewußtsein und aus der Kinderstube vertilgen. Mit der absoluten Wahrheit, mit algebraischen oder geometrischen Sätzen rührt man aber keine Kinderseele, sondern läßt sie elend verkümmern. – Und wie viele Wunder umgeben denn nicht auch den Erwachsenen, selbst den nüchternsten Naturforscher! Dem Kinde ist ja Alles noch wunderbar, was es schaut und hört, und im Verhältniß zum immer noch unerklärten ist überhaupt die Masse des Erkannten doch auch nicht so gewaltig. Der Verstand wird sich sein Recht schon verschaffen, und der Mensch ist glücklich, der sich einen Theil des Kindersinnes aus seinen ersten Dämmerungsjahren in das Leben hinüber zu retten verstand.

Meine weiteren Bücher der Art, ‚König Nußknacker‘, ‚Im Himmel und auf der Erde‘, ‚Bastian der Faulpelz‘, entstanden in derselben Absicht und aus derselben Ansicht, und mein neuestes, demnächst erscheinendes, ‚Prinz Grünewald und Prinzessin Perlenfein‘, hat sich außerdem an kleine Persönlichkeiten selbst, diesmal an meine kleinen Enkelchen, gewendet. Immer aber ging ich von der Ueberzeugung aus: das Kind erfaßt und begreift nur, was es sieht.“

„Nehmen Sie,“ fuhr er fort, „als Erinnerung unseres heutigen frohen Wiedersehens dieses neueste Product meiner unvertilgbaren Kinderbeglückungslust. Von Text und Bildern kann ich auch hier sagen: ‚ipse fecit‘. Es wird in diesem Herbste ausgegeben werden; warten wir ab, was die unbestechliche Kritik der Kinderwelt dazu sagen wird!“

Mit Freude empfing ich das artige Gastgeschenk. Auf meinem Zimmer betrachtete ich noch spät in der Nacht die bunten Blätter des von Hoffmann’schem Geiste reichlich erfüllten Büchleins (über dessen Werth wir selbst kein Urtheil haben, da es uns bis jetzt noch nicht vorgelegen hat. D. Red.). Doch ich will vorerst nichts von seinem originellen Inhalte verrathen, als Probe will ich nur meinen freundlichen Lesern und Leserinnen jetzt schon die zartempfundenen Verse mittheilen, womit der Verfasser dies neueste Bilderbuch seinen beiden Enkelchen, deren Bildnisse das Widmungsblatt zieren, zugeeignet hat. Sie lauten:

Seinen lieben Enkeln Heiner und Karl
widmet dieses Buch der
 Großvater.

Die Tage flieh’n. Es war vor vielen Jahren,
Als eure Eltern selbst noch Kinder waren,
Da schrieb ich diesen manch ein buntes Buch.
Ich wurde alt, und all der Herrlichkeiten
Gedachte ich als längstvergang’ner Zeiten,
Die weit hinab der Strom des Lebens trug.

Da kamet ihr, und euer kindlich Treiben
Lehrt mich auf’s Neue, bunte Verse schreiben,
Und freudig nahm das Herz den alten Schwung.
Und mir gelang’s, so meine ich, nicht minder.
Nehmt diese Blätter, Kinder meiner Kinder!
Die alte Liebe wurde wieder jung.

Ihr dankt mir wohl? – Ich selbst hab’ euch zu danken!
Oft sah ich eure Kinderschritte wanken,
Und war zu führen euch dann treu bestrebt;
Jetzt aber wißt ihr mir den Weg zu sagen,
Den Weg zurück zu sonnig hellen Tagen: –
Der altert nicht, wer mit der Jugend lebt.

F. S.