Wie Mühlhausen Fabrikstadt geworden ist
[356] Wie Mühlhausen Fabrikstadt geworden ist. Einem Elsässer, Herrn D. Z., verdanken wir nachstehende Erzählung, die er uns als ein Seitenstück zu dem Artikel: „Wie Mühlhausen französisch wurde“ mittheilt.
Gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts lernte in Bar le Duc ein als Handlungsdiener dort lebender junger Mann aus Mühlhausen im Elsaß die gedruckten „Indiennes“ kennen. Er überzeugte sich bald von der Vortheilhaftigkeit dieses Fabrikats und beschloß, dasselbe als einen Erwerbszweig in seine Vaterstadt zu verpflanzen. So entstand im Jahre 1746 die erste Indiennes-Fabrik unter der Firma: „Köchlin, Schmalzer u. Comp.“
Auch hier zeigte sich’s, wie schwer oft der Anfang, namentlich von solchen industriellen Unternehmungen, ist. Trotz alles Aufwandes von Capital mißlang Versuch um Versuch in der Färbung, der Mißmuth stieg, der Muth sank, und endlich machte Schmalzer den Vorschlag, die aussichtslose Fabrik zu schließen. Frau Köchlin sollte dies ihrem abwesenden Manne brieflich mittheilen und sie war eben im Begriff an dieses traurige Geschäft zu gehen, als sie seltsam darin gestört wurde. Ihr Dienstmädchen meldete ihr, des Zunftmeisters Anna Maria stehe draußen mit einem armen Handwerksburschen, dessen Mutter todtkrank und hülflos in Riedisheim, nicht weit von Mühlhausen, darnieder liege.
Dieser Weg zu Frau Elisabeth Köchlin war aber nicht so schnurgerade eingeschlagen worden. Es war ein Weg der höchsten Noth, der indessen zum schönsten Glück führte. Der arme Handwerksbursche war ein junger Hamburger Färber. Nach seines Vaters Tod war seine Mutter nach Straßburg im Elsaß zu ihrer dort verheiratheten Tochter gezogen. Als aber auch diese bald nachher starb, fühlte die alte Frau sich bei ihrem Tochtermann nicht mehr wohl, zum Kummer kam Aerger und verleidete ihr das Leben dort so, daß sie ihren Sohn dringend bat, ihr einen anderen Aufenthaltsort zu verschaffen. Der treue Sohn eilte, ihren Wunsch zu erfüllen; er war eben mit ihr auf der Reise nach Neufchatel, wo er in einer Kattunfabrik Arbeit erhalten hatte.
Da geschah’s nun, daß die Hochbetagte den Aufregungen der letzten Zeit und den Anstrengungen der Reise erlag; ein Fieber ergriff sie, und zu allem Unglück weigerte der Gastwirth, bei dem sie Einkehr gesucht, sich mit harten Worten, sie länger bei sich zu behalten. Da stand nun der arme Sohn händeringend im Hofe und wußte seines Elends keinen Rath. Dies sah ein Mühlhäuser Mädchen, eben jene Anna Maria des Zunftmeisters, und erinnerte den Jüngling, nach Mühlhausen um Hülfe zu gehen. Sie führte ihn selbst erst zu ihrer Mutter, aber da kamen Beide sehr schlecht an. Die Tochter wurde gescholten wegen ihres Fortlaufens und dem Handwerksburschen wurde als einem Landstreicher des Zimmermanns Loch gewiesen. Aber das brave Mädchen mußte eine Zukunftsahnung haben; sie verließ den Armen nicht, sondern zeigte ihm den Weg zur Frau Köchlin, von der es allbekannt war, daß sie noch keinen Unglücklichen verstoßen habe.
Frau Elisabeth ließ sofort den Handwerksburschen vor sich kommen und sagte zu ihm mit dem herzgewinnenden Tone der Theilnahme:
„Woher und weß Handwerks, mein Freund?“
„Kattunfärber aus Hamburg,“ antwortete schüchtern der Jüngling.
Der Frau aber entfuhr’s fast wie freudige Verwunderung:
„Kattunfärber? Ei, da könnte ich Euch vielleicht selbst Arbeit verschaffen. Aber vor allen Dingen wünscht Ihr doch Hülfe für Eure kranke Mutter. Beruhigt Euch, sie soll ihr zu Theil werden. Ich werde sie hierher schaffen und pflegen lassen. Was war übrigens denn Euer Reiseziel?“
„Neufchatel,“ antwortete der Handwerksbursch. „Dort sollte ich Arbeit finden.“
Ein Hamburger, der nach Neufchatel kommen soll, so sagte sich Frau Elisabeth, der muß seine Sache verstehen. Sie holte einige Kattunmusterchen ihrer Fabrik und fragte, wie sie ihm gefielen und was wohl daran fehle.
Der Handwerksbursch lächelte erst, dann meinte er, das Rothe getraue er sich doch besser herzustellen.
„Das kommt auf einen Versuch an!“ erwiderte die entschlossene Frau und wandte sich offen und ehrlich an ihn mit der Frage, ob er für Geld und gute Worte ihr sein Geheimniß mittheilen wollte. Schon aus Dankbarkeit für die seiner Mutter zugesagte Hülfe willigte er ein und so kam der merkwürdige Augenblick, wo Frau Elisabeth eigenhändig in das geheime Notizenbuch ihres Gatten das neue Recept der Alaun- oder sogenannten rothen Beize einschrieb. Gleich die ersten Versuche gelangen ausgezeichnet, und so war nun natürlich keine Rede mehr von Abreisen: Sohn und Mutter hatten eine neue Heimath gefunden und der Brief, welcher Herrn Köchlin die Auflösung der Fabrik anzeigen sollte, blieb ungeschrieben.
Das erste nach dem neuen Recept von dem Hamburger roth gefärbte Tuch erhielt Frau Elisabeth als Andenken an ihre kluge That, und bald nachher konnte sie die Wiege ihres Erstgeborenen damit schmücken. Sie hielt es werth und erzählte in späteren Tagen den Ihrigen noch oftmals die Geschichte von dem Hamburger Handwerksburschen und dem harten Riedisheimer Wirth, die beide die Ursache waren, daß die kaum versuchte Kattunfabrikation in ihrer Vaterstadt nicht sofort wieder abstarb, sondern dort heimischen Boden fand und zur möglichsten Großartigkeit aufblühte.
Der Hamburger aber saß nach wenigen Jahren schon so warm in Mühlhausen, daß er seiner Mutter eine Schwiegertochter in’s Haus führte, und das war natürlich Niemand anders, als jenes Mädchen, das ihn nach Mühlhausen geführt, des Zunftmeisters Anna Maria.
Mühlhausen war bekanntlich damals und bis 1798 ein kleines Schweizerstädtchen von etwa fünftausend Einwohnern; dann kam es an Frankreich. Köchlin-Schmalzer’s Indiennes-Fabrik wurde die Wiege einer industriellen Thätigkeit, welche die Stadt mit amerikanischem Wachsthum erfüllte und zu einer der wichtigsten Industriestädte Frankreichs erhob. Mit demselben Rang tritt Mühlhausen in das deutsche Reich ein und der deutsche Name Köchlin wird nun eine der angesehensten Firmen Deutschlands zieren.