Weihnachtsepistel (Otto Ernst)
[23] Weihnachtsepistel.
Weihnacht kommt heran, das Fest der Kleinen,
Da die Großen wie die Kindlein werden,
Arme Hirten, Könige und Weise
Mit den Öchslein um die Krippe stehen
[24] Ja, die Großen werden wie die Kleinen.
Halbe Stunden lang sitz ich geduldig,
Ein Stück „Nachwuchs“ auf dem Arm, auf jedem
Knie noch eins, und eines steht dazwischen.
Platz noch: höchstens auf den Schultern könnten
Zwei noch sitzen. Los geht das Verhör nun!
„Hast du heut den Weihnachtsmann gesprochen?
Hat er wohl noch solche große Puppe,
Und die Arm’ und Beine biegen kann?
Und die richtig schreit?“ – „Ja, das ist wichtig!“
„Und ein Fläschchen auch dazu mit Lutscher?
Und ’nen Puppenwagen? Und ’ne Küche –“
All dergleichen, aber nur für Kinder,
Die nicht eigensinnig sind, wie etwa
Hier mein kleines Dirnchen (in Gedanken
Und in Klammer: „und wie ihr Herr Vater!“)
Un Terwine un Papoffelschüssel –“
„Kriegst du, selbstverständlich.“ „Und ich wünsch mir
Nur ’ne große, ganz ganz große Trommel!“
[25] „Ja, das möcht’st du wohl! Um mir die Nerven
Noch ein Glasklavier mit Blechtrompete?
Aber hört! wenn ihr hübsch artig seid
Und die Mutter mir nicht noch vor Weihnacht
In vier Stücke reißt, dann kriegt ihr jeder
Langes, breites, dickes, wunderschönes
Abgebranntes Zündholz –“. „Hahahaaaaa!“
Allgerechter! Diese Kehlen! Schrecklich
Dankbar ist dies Publikum für „Witze“!
Dein gedenk ich, großer Hagenbeck!
„Und was wünschest du dir denn, Papachen?“
„Ja – das muß ich reiflich überlegen. –
Denn die Sache ist mir doch zu wichtig. –
Handschuh irgendwo verloren. Schenkt mir
Einen linken Handschuh!“ „Ja, was kostet
Denn ein Handschuh?“ „Hunderttausend Taler!“
Neuer Sturm. Am Boden selbstverständlich
Wie ein Festungswall werd ich „genommen“,
[26] Tapfern Fußes jubelnd überschritten,
Wie ein Schneemann werd ich erst gerollt und
Dann geknetet. Ja, du liebe Weihnacht,
Immer weicher wird man, immer milder,
Schließlich kriegt der Kerl sie doch, die Trommel,
Und ich lasse gütigst auf mir trommeln.
Weihnacht kommt, das große Fest der Kleinen,
Um die Krippe stehn in frommer Demut.
Sonst – ich muß es grad heraus bekennen –
Ist zur Demut mein Talent im Grunde
Außerordentlich gering, und draußen
„Demut“ – eine böse Wurzel hat das
Wort, die schlimme Wurzel großen Übels:
Denn es kommt vom Schreckensworte „dienen.“
Unsre großen, freien, stolzen Vorfahr’n
Erst mit andren Schätzen aus dem Osten
Kam die Demut auch in deutsches Land.
Demut kriecht am Boden, und so ist sie
Immer nah bei Staub, Gewürm und Schmutze;
Achtlos tritt er Wurm und Staub mit Füßen.
Nein, die schönste biblische Geschichte
War und bleibt mir immer die vom Jakob,
Der den Engel frisch beim Kragen packte:
Seine ganze Schwindelei vergeb’ ich
Ihm für diese echte Menschentat.
Ja, ach ja: zur kleingesinnten Demut
Fehlt mir die Begabung. Nur zu Zeiten –
Tief und stumm mich in mein Innerstes.
Auf der Heimkehr von der Arbeit such’ ich
Stille, kaum betret’ne Wege dann,
Wo die Sonne, müde schon und rot,
Selten nur ein Vöglein sich davonhebt
Stummen Fluges durch die träge Luft,
Daß vom kaum gebognen Zweig der Schnee
Lautlos fällt auf Schnee. Auf fernem Wege –
Unter schweren Rädern kreischt der Schnee;
Über einer schwarzen Kate flimmert
Hoch und hell mein Stern von Bethlehem.
[28] Dann geschieht’s. Zwei weiche, warme Hände
Mir die Augen. Süß erschauernd steh ich,
Regungslos gebannt, doch nicht erschrocken.
Dann mich leise wendend, in die Augen,
Große dunkle, feuchte Augen blick’ ich
Weich in ihre Arme zieht sie mich,
Und mit warmen Hauch an meiner Wange
Flüstert sie mir zu in Heimlichkeit:
„Mach’s in diesem Jahre und in allen
Hör ich, wie in leisen, starken Strömen
Neue Kraft die Adern mir erfüllt;
Zitternd steh ich, dem Kristallgefäß gleich,
Das mit rotem Feuerwein gefüllt wird. –
Stummen Fluges durch die träge Luft
Und vom kaum gebognen Zweig der Schnee
Lautlos fällt auf Schnee. Mit leisem Frösteln
Fühl ich, daß sie längst gelöst die Arme,
Aufgerafft dann, mit gestrafften Sehnen
Schreit ich weiter, immer gradaus blickend;
Gradaus blickend tret ich in die Türe,
[29] Hut und Mantel leg ich ab; die Kinder
Schüttelt ungeduldig mich das Ältste!
„Vater! Vater! Was für Augen machst du!“
Und das Nächste ruft mit Händepatschen:
„Und was hast du heut für rote Backen!“
Schnurrig werdet ihr die Weisheit finden,
Die das Weib mir zugeraunt am Wege,
Schnurrig, daß ich mich vor diesem Weibe
Ohne Stolz in tiefster Andacht neige.
Jenes kurze Trostwort der Sibylle.
Aber ich verstehe sie vollkommen;
Auf der Heide schon in früher Kindheit
Lernt’ ich ihre Sprüche still begreifen.
Jungen Brüsten und erglühten Wangen,
Meine Ur-Ur-Urgroßmutter ist es,
Die Natur. Saht ihr sie nicht im Sturmtanz
Jüngst sich drehen, daß die Röcke flogen?
Welkes, Mürbes, Morsches und Verdorbnes
Und Gestorbenes zum Land hinaus. –
[30] Jetzo sind wir in den stillen Tagen,
Da sie schlummert oder unter Büschen
Sinnend schafft und in sich selbst versinkt.
Tief hinunter taucht sie in sich selbst,
Aus geheimsten Grund die Kraft zu holen.
Doch nur wen’ge Tage gönnt sie sich
Dunklen Tagen sich die Sonne wendet,
Neu beginnt sie schon den Werdekampf.
In Myriaden dunkler Kammern schlägt sie
Zarte, reizende Gewebe auf,
Webt sie grüne Blätter, bunte Blumen.
Klatscht sie in die Hände, springen lachend
Überall und überall die Knospen,
Und ans weiße Frühlingslicht hervor
Recht im Licht mit weidlichem Behagen
Spreitet sie ihr leuchtendes Gewand.
Aus den Ställen lockt sie Rind und Schäflein,
Und in Waldesnacht und Bergesgründen
Auch mit Donnern bricht sie wild herein,
Zornesblitze sprüht ihr dunkles Auge,
[31] Wenn zu träge schleicht das Blut der Welt
Und sich staut in kläglicher Ermattung.
Kocht an heißer Glut die Wundersäfte,
Starke, süß’ und bittre Lebenstränke,
Backt sie Brot an Millionen Herden,
Singt dazu aus starker, süßer Kehle.
Zipfeln, springt sie jauchzend durch das Land.
Aus der Schürze langt sie Birn’ und Apfel,
Wirft sie Bub und Dirnlein an den Kopf,
Während über Stirn und Ohr ihr nicken
Hat sie alles lächelnd hingegeben,
Dreht sie tanzend, jauchzend sich im Sturme,
Kreischend, wie nur Weiber kreischen können:
Welkes, Morsches und Verdorbnes fegt sie
Bis sie müde hinsinkt unter Büschen,
Schlummernd liegt mit einem Kinderantlitz,
Harmlos, ahnungslos, wie Kindlein sind.
Wen’ge stille Tage.
Träumt sie starren Auges, träumend sinnt sie
Sinnend schafft sie, in sich selbst versinkend.
[32] Tief hinunter taucht sie in sich selbst,
Aus geheimstem Grund die Kraft zu holen.
Geht am stillen Weg ein Freund vorüber,
Ein verzagter, kampfesmüder Wicht,
Schlingt sie hinterrücks um ihn die Arme,
Flüstert warm ins Ohr ihm: „So wie ich
Also laßt uns klein mit Kleinen werden,
Alle Süße der Beschränkung kosten,
Alle großen Wünsche still begraben,
Allen Zorn und Haß und allen Streit.
Wen’ge stille Tage. Wunderbarlich
Lockt des Herdes Flamme, liebe Freunde,
Wenn ihr Flackerschein auf rote Wangen
Süßer Kinder fällt und aus den Augen
Ach, im Sessel tief zurückgelehnt,
Seht im Christbaum ihr den Engel schweben
Mit der Himmelsbotschaft: „Frieden, Frieden!“
Laßt uns an den süßen Frieden glauben;
Tage, da dem Engel auf der Lippe
[33] Jäh der Psalm zerreißt und von den Höhen,
Aus den Tälern die Trompete schreit. – – –
Jetzo find wir in den stillen Tagen.
Aus geheimstem Grund die Kraft zu holen.
Brauchen, brauchen werdet ihr die Kraft;
Denn die Zeichen reden Sturm und Krieg.
Taugen wird euch schlecht dann die Ergebung
Demut und Ergebung! Eine Kette
Haben sie geschmiedet, die vom Anfang
Dieser Welt reicht bis zum heut’gen Tag.
Und wir schleppen an dem Erbe, das uns
Und die Demutvollen, die Ergebnen,
Schmieden Glied um Glied die Kette weiter
Für den eig’nen Leib. Doch kommt der Tag auch,
Da zu lang die Kette wird, zu schwer
Allgewaltig aufschwillt in der Brust
Und der Mensch, der zu den Sternen aufblickt,
Weiß und will, daß er zum Stolz geboren.
Weihnacht kommt, das milde Fest der Kerzen.
Tief mich in ihr reines Licht versenken
Und mit Kraft und hoher Hoffnung bitten:
„Liebe Brüder, werdet nicht wie Kindlein!“