Weihnachtsabend in den Alpen

Textdaten
<<< >>>
Autor: M. Haushofer
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Weihnachtsabend in den Alpen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 51, S. 861, 864
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[861]

Weihnachtsabend in den Alpen.
Nach dem Oelgemälde von A. Rieger.

[864] Weihnachtsabend in den Alpen. (Mit Illustration S. 861.) Zwischen den flimmernden Lichtern seiner Straßen, zwischen den strahlenden Schauläden des Gewerbfleißes, im Strom der Menschen und im Lärm der Wagen – was weiß der Städter um die Weihnachtszeit von der Natur und ihren Schrecken? Der wirbelnde Schnee zerschmilzt an den Schaufenstern und auf den Gasleuchtern, er vergeht unter Roßhuf und Wagenrad. Ja – in der Großstadt führt das Menschenthum die Herrschaft; nur hoch oben über den Dächern und um die Thürme, da orgelt die wilde Stimme der Natur, der winterliche Sturm.

Wie anders ist’s um diese Zeit im Hochgebirg! Der Winter ist in die Thäler gegangen, eisklirrenden Schritts. Wochenlang hat es geschneit; geschneit ohne Unterlaß, als solle die arme Erde erstickt und erdrückt werden; geschneit, daß die Wälder krachten und die Bäche still standen.

Und dem Schnee folgte der Frost, schneidender, grimmiger Frost, der die Wasser des Gebirgs in funkelnde steinharte Zaubergebilde verwandelt. Der Schnee und der Frost, der heulende Sturm und dazwischen wieder die thauende Mittagsonne schufen eine weiße Wunderwelt: neue Berge und neue Thäler, neue Bäume und neue Blumen, aber alles weiß und todeskalt. Je höher aufwärts im Thal, um so tiefer der Schnee, um so schmaler der Pfad, um so stiller und winterlicher die Welt.

Ganz hoch droben im Thale liegt noch ein Kirchdorf. Keine Straße mehr ist’s, was im Sommer da hinaufführt, nur ein steiniger Saumpfad. Und vom Dorfe weiter aufwärts führt nicht einmal der Saumpfad mehr, sondern nur ein Alpensteig znm letzten einsamen Gehöft und dann zu den Almen und zum schwindelnden Joch. Drei starke Stunden sind hinunter bis zum nächsten größeren Dorfe, wo die Straße beginnt. Drei Stunden zur Sommerszeit, wenn die Wege gut sind. Aber wenn einmal der Winter seine Schneemassen ins Thal geworfen hat, dann sind es sechs Stunden – oder eine Ewigkeit. So heißt es denn ausharren für die wenigen Menschen, die in diesem Hochthal ihr bescheidenes Leben führen: ausharren bis Weihnachten und dann wieder bis Ostern!

Zu schwer, zu gewaltig, zu mörderisch drückt der Winter in die Bergthäler hinein, als daß hier die Weihnachtszeit jenen Frohsinn wecken könnte, der in den Städten die Lichter des Weihnachtsbaums aufblitzen läßt und seine Gaben darunter streut. Die Weihnacht im Hochgebirge ist ernst und still. Aber ganz ohne Feier ist sie nicht. Denn wenn die Mitternachtsstunde herannaht, kommen von den benachbarten Höfen die Leute zum Kirchdorf; mit Laternen und flammender Kienspanleuchte suchen sie sich den Weg, tief vermummte schweigende Gestalten. Und die von den höchsten Höfen tragen Schneereifen an den Füßen und erzählen, wie droben neben ihrem Hause der Hirsch, der Sechszehnender, im Schnee vergraben sei.

Hell klingt die kleine Glocke aus dem Bergkirchlein in die frostklare Mondnacht hinaus. Drinnen feiern sie die Christmette: einen kurzen stillen Gottesdienst. Keines von ihnen weiß mehr davon, daß vor fünfzehnhundert Jahren an derselben Stelle, auf dem gewaltigen Schieferblocke, der jetzt als Kirchenschwelle dient, heidnisches Opferfeuer brannte, das Fest der Wintersonnenwende zu feiern. Der alte heidnische Brauch ist vergangen; aber im Volksgemüth lebt noch dieselbe Stimmung, wie damals: jene leise, unter der kalten Schneelast still athmende Hoffnung vom Wiedererwachen. Und mit dieser Hoffnung im Herzen suchen sie sich wieder den Weg heim durch den Frost und den Schnee.

Die Letzte aus dem Kirchlein ist eine alte Frau. Ihr Austragstübchen ist gleich im nächsten Hause, drum kann sie verweilen. Ihr Auge sucht unter den schlichten schwarzen Holzkreuzen des kleinen Friedhofes eins, das sie seit einem halben Jahrhundert kennt. Und wie sie das Kreuz gefunden hat, hört sie fernher durch die Mitternacht einen Jodler. Ja – so hatte vor fünfzig Jahren auch der gejauchzt, der da unter dem Kreuze liegt. Und es war das Letzte gewesen, das man von ihm gehört hatte, von dem verwegenen Menschen, der es in der Weihnacht wagen wollte, über das verschneite Joch hinüberzuklettern ins Nachbarthal. Manchmal schon war’s ihm geglückt zur Winterszeit; denn kein Gemspfad war ihm zu steil und keine Nacht zu wild. Aber damals hatte es ein schlimmes Ende genommen, und erst nach zwölf Wochen hatten sie den Verlorenen aus dem Schnee gegraben. Daran denkt die alte Frau, wie sie seit fünfzig Jahren daran denkt, sie murmelt noch ein Vaterunser an das Kreuz hin und schwankt heim in ihr Stübchen. Draußen aber funkelt und glitzert die Mitternacht fort, im Mondlicht schimmern die schneeschweren Dächer und der eisstarrende Bach, gespenstig starren die dunklen Fichten darüber hin, und zauberhaft erklingt noch einmal der jauchzende Ruf, langhinhallend, bis er in silbernem Duft sich verliert. M. Haushofer.