Wahrer Adel bedarf keinen Adelsbrief
Ein Graf hatte, durch verschiedene Vorfälle,
den größten Theil seines Vermögens
eingebüßt. Er sah, was so viele Menschen,
die sich in seinen Umständen befinden,
nicht sehen: daß es nöthig sey, seine Haushaltung
einzuschränken. Er eröffnete sein
Vorhaben seiner Gemahlin, die er zärtlich
liebte.
„Gräfin! (sagte er) unsere Umstände nöthigen uns, unserm bisherigen Aufwande Grenzen zu setzen. Es wird nicht zu ändern stehen, daß wir alle unsere Leute, bis auf eine Köchin und einen Bedienten, aus unserm Dienste entlassen. Ich weiß wohl, daß Sie ihre Kammerjungfer ungerne verlieren. Ich würde sie Ihnen lassen, wenn ich dieses möglich zu machen wüßte.“
Die gute Gräfin war von der Klugheit und Rechtschaffenheit ihres Gemahls überzeugt. So nahe es ihr nun auch gieng, sich von einer Person zu trennen, für welche sie viele Zuneigung hatte; so machte sie doch derselben, mit Thränen in den Augen, diese nothwendige Veränderung bekannt. Das arme Mädchen ward äußerst gerührt. „Gnädige Frau (sagte sie endlich), ich werde im Stande seyn, mit meiner Arbeit meinen Unterhalt zu verdienen, ohne daß ich Sie vernachlässigen darf. Erlauben Sie mir also, bey Ihnen zu bleiben. Ich werde Ihnen vielleicht jetzt am nützlichsten seyn.“ – Der Graf, welchen der Entschluß dieses guten Mädchens tief gerührt hatte, kam in den Speisesaal, wo, wie gewöhnlich, nur für ihn und seine Gemahlin gedeckt ward. Er verlangte noch ein drittes Gedeck. „Erwarten Sie einen Freund?“ fragte die Gräfin. „Nein, (antwortete dieser) aber lassen Sie Ihre bisherige Kammerjungfer rufen! Eine Person, die so edel denkt, ist von nun an uns gleich.“