Vorspruch (1875)
Von Johannes Scherr.
Aschenbrödel Wahrheit muß, schlechtgenährt und schlechtgekleidet, im Hause der Menschheit schwere Arbeit verrichten, während Lüge und Täuschung, in Sammet und Seide gehüllt, mit Schminke und Juwelen bedeckt, in der Welt die großen Damen spielen, beschmeichelt, umworben, geliebkost. In der Dichtung kommt zuweilen das arme Aschenbrödel schließlich zu Ehren, in der Wirklichkeit niemals. Denn wenn zu Zeiten das Feuer der Thatsachen den Menschen allzu fühlbar auf den Nägeln brennt, beeilen sie sich, die Kühlsalbe der Illusion darauf zu streichen um ja nicht zum vollen Bewußtsein der Wahrheit zu kommen. Sie wollen nicht belehrt, sie wollen nur belogen sein.
Daher die traurig geringe Wirksamkeit der strengen Lehrerin Geschichte und daher auch die große Volksbeliebtheit der Fabulirerin Legende, welche sich dem Täuschungsbedürfnisse der Menschen gemäß herauszuschminken und auszustaffiren versteht.
So hat denn auch die Geschichte der großen französischen Staatsumwälzung am Ende des achtzehnten Jahrhunderts nur geringe Lehrkraft entwickelt, während die Legende der Revolution ungeheure Wirkung that und bis zur Stunde noch thut.
Der erstgeborene Wechselbalg dieser Legende ist der französische Größenwahn.
Zwar hat, wie jedermann weiß, die Beeiferung, womit vom Mittelalter ab Europa den französischen Moden huldigte und nachlebte, die im keltisch-romanischen Wesen wurzelnde Nationaleitelkeit der Franzosen schon vordem sattsam gestärkt und gehätschelt. Seit der Zeit Ludwigs des Vierzehnten vollends war die gesammte vornehme Bildung in unserem Erdtheile zur mehr oder weniger tölpischen Aeffin der französischen geworden, so stupid, so niederträchtig sich gebarend, daß jeder beliebige französische Friseur oder Confiseur außerhalb Frankreichs als Culturträger und Civilisator sich fühlen konnte und durfte. Aber das volle Grande-Nation-Bewußtsein, der hoch- und höchstgradig-größenwahnsinnige Dünkel und Uebermuth überkam die Franzosen doch erst dann, als sie wahrnahmen, daß ihre Nachbarn einfältig genug waren, zu wähnen, sie, die Franzosen, brächten ihnen auf der Bajonnette Spitzen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, während die Bringer dieser schönen Sachen in Wahrheit die Nachbarbrüder brandschatzten, ausraubten und schließlich annectirten und tyrannisirten.
Ja – wundersam zu sagen! – sogar über diese brutale Thatsache trug es die gleißende Legende von der befreienden und civilisirenden Mission Frankreichs davon.
Also konnte es gar nicht fehlen, daß sich im französischen Nationalgehirne die Wahnidee fixirte, Frankreich sei der Mittelpunkt der Welt, Paris aber als Mittelpunkt Frankreichs sei die „heilige Stadt“, sei die „Weltleuchte“, sei „Kopf und Herz der Menschheit“. Demzufolge bezweifelte kein richtiger Franzose, daß das Universum eigentlich an der Seine läge und daß nur Frankreich das Genie und das Recht hätte, zu denken, zu wollen und zu befehlen.
Wissende werden bezeugen, daß dieser Satz keine Uebertreibung enthalte; Unwissende mögen die Bestätigung desselben in den Büchern nachsuchen, welche Legendariers wie Thiers, Blanc und Michelet über die französische Revolution verfaßt haben. Nicht das wirklich Heilsame, nicht das wahrhaft Große, was die Revolution gewollt und vollbracht hat, wird in diesen Büchern nach Gebühr betont und gefeiert, nein! wohl aber die größenwahnsinnige Einbildung vom Privilegium und Monopol Frankreichs, stets „an der Spitze der Civilisation zu marschiren“. Im übrigen ist es ja bloß gerecht, zu sagen, daß nicht etwa die Zeitgenossen, die Augen- und Ohrenzeugen, die Mithandelnden und Mitleidenden der Revolution die unheilvolle Legende derselben aufgebracht haben. Man lese nur die zeitgenössischen Berichte von Mercier, Beaulieu, Toulangeon, Lacretelle, Jullian, Prudhomme, Nodier und Anne Louise Germaine de Staël. Ursprung und Wachsthum der revolutionären Legende ging im Schooße der liberalen Opposition vor sich, welche dem restaurirten Bourbonenthrone den Krieg machte. Einer der publicistischen Leiter dieser Opposition, Mignet, hat in seiner Geschichte der Revolution der liberalen Mythenbildnerei den Stempel seiner Autorität aufgedrückt. Auf der von ihm eröffneten Bahn schritten die oben namhaft gemachten Mythenschreiber immer weiter und kecker vor. Die also groß gefütterte Legende der Revolution hat dann, verbunden mit der durch Ségur, Béranger, Thiers und andere aufgeschwindelten Legende des Napoleonismus, dem französischen Liberalismus jahrelang als ein vielgehandhabtes und vielwirksames Oppositionsmittel gedient.
Aber die Parteien, welche hinter der liberalen sich erhoben, zogen aus den Prämissen der Revolutionsmythe andere Schlußfolgerungen, als die parlamentarisch-konstitutionelle Opposition wollte und wünschte. Die Radikalen, die orthodoxen Republikaner schnitten sich aus dem Legendenbuch der Revolution das Kapitel vom Jahre 1793 als den Lieblingsgegenstand ihrer Verehrung und Nachahmungsbegierde heraus. Sie wähnten demzufolge, vom Mittelpunkte der Welt, von Paris aus, mittels des Evangeliums Sancti Jakobi ganz Europa revolutioniren und republikanisiren zu können, – das sei ihre Mission. Den verschiedenen Sekten der Socialisten und Communisten, welche Saint Simon, Fourier, Cabet und Blanc herangezogen hatten, genügte aber das bei weitem nicht. Sie lasen aus der revolutionären Legende noch ganz anderes heraus. Nämlich, daß alles Bestehende nur werth sei, vernichtet zu werden, daß demnach die europäische Gesellschaft zu einem ungeheuren Trümmerhaufen zusammengeworfen werden müsse, damit sodann aus dem mittels der absoluten Gleichheitwalze abgeplatteten Ruinenfeld ein socialer Neubau errichtet werden könne, in welchem es keinen Gott und keinen König, keinen Staat und keine Kirche, kein Eigenthum und keine Ehe, keine Familie und kein Erbrecht, keinen Reichthum und keine Armuth mehr gebe.
Noch auf einen weiteren Unterschied ist aufmerksam zu machen. Die radikalen Politiker hielten das Dogma des französischen Größenwahns stramm aufrecht, so stramm, daß Republikaner von der Sorte der Quinet und Gambetta noch unmittelbar vor 1870 der Ueberzeugung waren, vor Begründung der republikanischen Völkersolidarität müßte noch ein Krieg geführt werden, um das ganze linke Rheinufer für Frankreich zu erobern. Das sollte dann allerdings, meinten die Herren, der letzte Krieg sein. Die französischen Socialisten und Communisten dagegen gaben sich mitunter ernsthafte Mühe, mit allen übrigen „verfaulten“ Standpunkten auch den des größenwahnsinnigen Chauvinismus zu überwinden. Wenn man darauf ausgeht, die ganze Menschheit in einen Brei zusammenzurühren, muß man doch anstandshalber ein bißchen kosmopolitisch schillern. Sehr wahrscheinlich behielten sich die französischen Socialisten und Communisten im Geheimen das Privilegium vor, in diesem Menschheitsbrei das Gewürze vorzustellen, aber öffentlich thaten sie mehr und mehr weltbürgerlich, namentlich dann, als, von 1864 an, die socialistischen Sekten Frankreichs bewußt oder unbewußt den Losungen gehorchten, welche der „Generalrath“ oder vielmehr das „Dirigirende Comité“ des „Internationalen Arbeiterbundes“ von London ausgehen ließ.
Daß, warum und wie Napoleon der Dritte der Internationale und des Socialismus als Hilfemittel seiner Politik sich bediente, ist allbekannt. Ebenso, daß diese von seiten des zweiten Empire empfangene Gunst die socialistisch-internationale Propaganda in Paris außerordentlich erleichterte und erfolgreich machte. Bei dem Sturze des Kaiserreiches fühlten sich demzufolge die „Rothen“ – diese Farbebezeichnung will ich fürder der Wortkürze halber für die socialistisch-communistisch-internationale Partei gebrauchen – stark genug, handelnd auf den Plan zu treten, um sich der Herrschaft über Paris und damit selbstverständlich über Frankreich zu bemächtigen. Aber es war [835] doch noch etwas zu früh. Die Belagerung von Paris durch die Deutschen mußte erst noch vorangehen, um die blau-weiß-rothe Mehrheit der Pariser auf jene Stufe von Begriffeverwirrung und Stumpfsinn herabzudrücken, auf welcher angelangt sie die Tyrannei der rothen Minderheit sich aufhalsen ließ.
Für diese Minderheit lagen die Sachen nach dem Abschlusse des Waffenstillstandes und des Präliminarfriedens von Versailles außerordentlich günstig. Als wäre er ihr treufleißiger Mandatar gewesen hatte Jules Favre gegenüber den Wünschen und Warnungen der deutschen Unterhändler es durchgesetzt, daß die Pariser Nationalgarden ihre Waffen behalten durften. Die Mehrzahl dieser Bürgerwehr bestand aber im März von 1871 aus revolutionären Elementen, welche das während der Belagerung der Stadt durch die Deutschen mehr oder weniger ernst betriebene Soldatenspiel um so lieber weiterspielen wollten, als damit der Weiterbezug des seit dem September von 1870 gewohnt und liebgewordenen Tagessoldes von anderthalb Franken selbstverständlich verbunden sein müßte, während Weib und Kind ihren Lebensunterhalt aus den Staatsmagazinen bezögen. So verfügten denn die Rothen, nachdem sie der Gewalt sich bemächtigt hatten, über eine leidlich organisirte Streitmacht von zweihundertfünfzig mehr oder weniger starken Bataillonen, deren zuverlässigste aus den Wehrmännern der Faubourgs Montmartre, Villette, Belleville, Menilmontant, Montrouge, La Chapelle und Glacière zusammengesetzt waren.
Wenn diese seit Monaten aller Arbeit und Häuslichkeit entwöhnten, von allen Begehrlichkeiten, wie der Müssiggang sie ausbrütet, erfüllten, bildungslosen, leichtgläubigen, durch die Wahnorakel verrückter oder gaunerischer Clubredner bis zum Irrsinnn verhetzten Menschen sich zählten; wenn sie, wie sie ja thaten, im Gambetta-Bülletinsstil einander vorlogen, Frankreich und Paris seien nicht besiegt, sondern nur an die „Prussiens“ verraten und verkauft worden, verrathen und verkauft von den Imperialisten, Legitimisten, Orleanisten und Bourgeoisrepublikanern, von den Babinguet, Bazaine, Thiers und Favre, wenn sie phantasirten, die alte Gesellschaft habe augenscheinlich einen ehrlosen Bankerott gemacht, die große Liquidation sei demnach vorzunehmen, um eine neue, die rothe, die atheistische und die communistische Gesellschaftsfirma zu gründen, den Vierten-Stand-Staat, die proletarische Commune; wenn zu diesen heimischen Elementen und Motiven eines radikalen Umsturzes noch die „catilinarischen Existenzen“ hinzukamen, welche aus allen Ecken und Enden der Erde in der prächtigen Weltkloake Paris zusammenflossen, alle ihre Laster und Leiden, ihre Illusionen und Enttäuschungen, ihre Gewissensbisse und Rachegefühle, ihre Begierden und Hoffnungen in diese ohnehin schon von höllischem Schwefeldunst erfüllte Atmosphäre ausathmend: – ja, so war es kein Wunder, sondern nur die natürliche Wirkung natürlicher Ursachen, daß die Wetterwolke in das furchtbare Märzgewitter ausbarst, und entsprach es der Logik der Sachlage, daß der französische Größenwahn sich vermaß, Paris, Frankreich, Europa, die Welt umzuwandeln und die Menschheit unter der rothen Fahne marschiren zu machen.
Mit alledem ist das Register der Ursachen vom weltgeschichtlichen Märzkrach des Jahres 1871 noch nicht erschöpft. Man muß in dieses Register noch einstellen das Mißtrauen, den Zorn und Ingrimm, womit tausende, hunderttausende von Parisern, die keineswegs zu den Rothen gehörten, auf die in Versailles tagende Nationalversammlung blickten, welche „Bauern- und Krautjunkerversammlung“ nicht allein in ihrer entschiedenen Mehrheit royalistisch gesinnt war, sondern auch das „Verbrechen“, ja den „Wahnsinn“ verübt hatte, Paris, die „heilige Stadt“, das „Centrum des Weltalls“, die „Weltleuchte“ mit dem politischen Interdict zu belegen. Sodann ist mit Betonung auf das vom Reichskanzler Bismarck im deutschen Reichstage gesprochene Flügelwort zu verweisen: „In der Pariser Commune war ein Kern von Vernunft, nämlich das Verlangen nach einer Gemeinde-Ordnung, wie solche in Deutschland existirt.“ Monsieur de Mazade begeht einen absichtlichen oder unabsichtlichen Irrthum, wenn er in seinem Buche „La guerre de France“ (II, 461) dieses Wort als eine „plaisanterie teutonne“ (einen deutschen Scherz) bezeichnet. Der Reichskanzler meinte es ernst, und seine Aeußerung signalisirte nur eine geschichtliche Thatsache, diese nämlich, daß unter den Motiven der Insurrection vom März 1871 ganz unzweifelhaft auch das Verlangen sich befand, die unheilvollen Fesseln einer despotischen, aufsaugenden Centralisation, wie das Ancien Regime, der Convent und Napoleon sie Frankreich auferlegt hatten, endlich zu brechen und der erdrückenden Staatsallmacht gegenüber ein selbstständiges Gemeindeleben zu pflanzen und zu pflegen. Leider ist sofort beizufügen, daß aus diesem vernünftigen Gedankenkerne nur die brutale Unvernunft der Thatsache hervorwuchs, daß die „Bürger“-Communisten von 1871 es für selbstverständlich ansahen, die „Commune“ Paris müßte und würde Frankreich ebenso souverän und despotisch beherrschen, wie die Hauptstadt zur Zeit Ludwigs des Vierzehnten, zur Zeit des Convents, zur Zeit Napoleons des Ersten und des Dritten das Land beherrscht hatte. Wäre sie nicht dieser Meinung gewesen, wie hätte sie es wagen können, ihren Willen, den Willen einer Handvoll Abenteurer, dem Gesammtwillen der Nation, welcher sich mittels der Wahlen zur Nationalversammlung – der freiesten Wahlen, die jemals in Frankreich stattgefunden – soeben ganz deutlich und bestimmt ausgesprochen hatte, geradezu entgegenzusetzen? „Wir kümmern uns den Teufel um die Provinzen,“ gestand der Hauptkyniker der Commune, Citoyen Rigault.
Noch ist aber zur Wurzelursache von 1871 hinabzusteigen. Denn Albernheit wäre es, zu glauben, das Problem dieser Erscheinung könnte gelöst werden mittels des einfachen Satzes, eine durch das Zusammenwirken unerhörter Umstände begünstigte Bande von Narren und Gaunern habe das rothe Quartal gemacht. Allerdings ist es wahr, daß Narrheit und Gaunerei stets zu den Großmächten auf Erden gehört haben und stets dazu gehören werden. Und nicht weniger wahr ist, daß den ganzen Verlauf der sogenannten Weltgeschichte entlang Hunderttausende und Millionen von Menschen mit Begeisterung, mit Fanatismus für blanke Narrheiten, für handgreifliche Gaunereien in den Tod gegangen sind, als für Ideale und Idole. Warum? Weil sie daran glaubten. Nicht das Sein der Dinge bestimmt ihren Werth, sondern der Schein, und nicht die Wahrheit, sondern der Credit einer Idee regelt ihre Wirksamkeit. Nur die rückwärts gewandte Parteibornirtheit könnte bestreiten wollen, daß tausende der Communarden von 1871, indem sie ihr Leben für die Commune ließen, für die Sache ihres Volkes, für die Sache der Menschheit zu sterben glaubten.
Schon das muß in wissenden und ernstprüfenden Menschen das Gefühl erregen, daß es sich hier keineswegs nur um ein leichtfertig angehobenes und mit bestialer Wildheit durchgeführtes Abenteuer handelte, sondern um eine geschichtliche Nothwendigkeit. Natürlich soll damit nicht etwa bestritten werden, daß selbstsüchtige Berechnungen und wüste Leidenschaften dabei mitgespielt haben, wie das ja bei der Inscenirung geschichtlicher Nothwendigkeiten allezeit und überall so war, ist und sein wird. Denn der Mensch, wie er nun einmal ist, macht die Geschichte, und sie ist ja auch darnach.
Was für eine geschichtliche Nothwendigkeit stand nun im März von 1871 in Frage? Welche Entwickelungsidee rang nach Verwirklichung?
Die Idee der socialen Revolution.
Und diese wäre eine geschichtliche Nothwendigkeit?
Nicht minder gewiß, als die politische Revolution des achtzehnten Jahrhunderts eine geschichtliche Nothwendigkeit war. Das fünfzehnte Jahrhundert hatte den Samen derselben gestreut; im sechszehnten ging er auf, das siebenzehnte zeitigte die Saat, und am Ende des achtzehnten wurde „mit Eisen und Blut“, wie das herkömmlich bei solchen Geschäften, die reife Ernte eingethan: – die staatsbürgerliche Gleichberechtigung der verschiedenen Volksklassen. Noch während diese Arbeit im Gange, ist die Thränensaat der socialen Revolution dem Boden der Zeit anvertraut worden. Das neunzehnte Jahrhundert sodann hat diese Saat üppig aufschießen gemacht. Prozenthum und Pauperismus, der pralende Uebermuth des Geldsackes und der brutale Neid des Bettelsackes sind die treibenden Kräfte. Die riesenhafte Entwickelung der Großindustrie und die mit derselben naturnothwendig verbundene Züchtigung eines millionenzähligen Proletariats steigern von Jahr zu Jahr, von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde die sociale Krisis, und diese wird unausweichlich zur großen Katastrophe führen, zur größten der [836] sogenannten Weltgeschichte, zur Durch- und Ausfechtung des grimm- und wuthvollsten Kampfes, des Klassenkampfes.
Und der vernünftige Kern dieser entsetzlichen Frucht? Lassen wir, was man Vernunft zu nennen übereingekommen ist, beiseite. Der aus allen Phrasenhüllen herausgeschälte menschliche Kern der socialen Frage und demnach auch die Moral der socialen Revolution ist und wird sein: Steh’ du auf vom Tische des Lebens, damit ich niedersitzen und schmausen kann!
Wer sehende Augen hat und sie aufthun will, wird diesen Kern durch alle die Redensarten und Handlungen, Narrheiten und Ruchlosigkeiten der Pariser Commune von 1871 hindurch deutlich erkennen. Diese Commune war das lehrreiche Vorspiel zu der „in Vorbereitung befindlichen“ Kolossaltragödie der socialen Revolution.
„Schwarzseherei!“ brummt ihr. „Wir kennen ja die langweilige pessimistische Tonart.“
Ihr leugnet also das sociale Problem?
„Nicht doch! Aber erstens ist die Gefahr weder so groß noch so nahe, wie die Schwarzseherei uns glauben machen möchte, und zweitens kann der fernher drohende Sturm unschwer beschworen werden mittels Reformen, welche der Kathedersocialismus in Verbindung mit den Regierungen schon besorgen wird.“
Wirklich? Haben im vorigen Jahrhundert die politischen Reformen die politische Revolution verhindert? Was haben alle die ehrlich gemeinten reformistischen Wollungen und Vollbringungen der „erleuchteten“ Despoten und ihrer „aufgeklärten“ Minister gefruchtet? Nur soviel, daß sie den Ausbruch der Revolution beschleunigten. Heutzutage ist die Lawine der socialen Umwälzung im raschen Rollen. Reformen werden nur Staub auf ihrer Bahn sein. Das Riesentrauerspiel wird in Scene gehen auf der Weltgeschichtebühne.
Ihr wendet euch ab von dieser düstern Weissagung, ungläubig, unwillig, spottlachend sogar?
O, ihr habt recht! Denn Thorheit ist es, Tauben die Wahrheit zu sagen oder Blinde sehen machen zu wollen. Ueberall und alle Zeit haben die Menschen unangenehme Warnungen in den Wind geschlagen. Als in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts[WS 1] mit der traurigen Gabe der Zukunftschau ausgestattete Männer wie Voltaire und Rousseau das Kommen der Revolution vorhersahen, da hat ihnen die Gedankenlosigkeit, welche nicht über die eigene Nasenspitze hinaussieht, auch ins Gesicht gelacht, als Schwarzsehern, Hypochondern und Grillenfängern. Später freilich ist dann den Spottlachern das Lachen vergangen, gründlich.
Auch denen von heute wird es eines wüsten Tages vergehen, gründlichst. Denn die Logik der Geschichte will ihr Recht, und die Geschicke müssen sich erfüllen.
- ↑ Wir übergeben hiermit unseren Lesern den Prolog zu einer Reihe von Artikeln über die Pariser Commune, die unser geehrter Mitarbeiter, Professor Johannes Scherr in Zürich, unter dem Titel „Das rothe Quartal“ mit dem kommenden Jahrgange unseres Blattes beginnen wird. D. Red.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Jahrhunderes