Vor sechsunddreißig Jahren
[436] Vor sechsunddreißig Jahren. An einem heitern Sommertage des Jahres 1822 ritt ein junger Mann im blauen, weiten, blousenartigen Rock, eine rothe Mütze auf dem langen dunklen Haar, ein hellfarbiges Tuch schärpenartig umgegürtet, so daß der ganze Anzug ein etwas phantastisches Ansehen gewann, durch das Städtchen Neustadt an der Orla, den Weg nach Jena entlang.
Der sehr dunkle Teint des Jünglings zu dem Blau und Roth seiner Kleidung erhöhte das Fremdartige der Erscheinung. Nachlässig, mit etwas vorgebeugter kosakischer Haltung, saß er auf dem Jenaischen Klepper. So trabte er dahin, dem schönen Saalthale zu.
Seht dem Jünglinge nur einmal näher in das Auge, das dunkle, mit wie reinem, tiefem Glanze es um sich und vor sich hinschweift! Welche Bilder und Träume mögen das schwärmerische Gemüth bewegen, das aus diesem Auge, aus dieser ganzen Erscheinung spricht!
So viel ist gewiß, an Kirchen- oder Rechtsgeschichte so wenig, als an trockene Philosopheme denkt der blaue Reitersmann. Anderes bewegt seine Seele, was kein Katheder lehrt, was aus unbekannten Himmelsräumen sich herabsenkt in die warme, junge, offene Menschenbrust.
Zu Michaelis 1822 bezog auch ich die Universität Jena.
Kaum hatten die Vorlesungen seit einigen Wochen begonnen, und Professor Konopak mochte am ersten Viertelhundert Paragraphen seiner Institutionen dociren, da ward durch Verbot des Singens auf Markt und Straßen Jena’s jene Erregung veranlaßt, welche den hoffnungsvollen Auszug nach Kahla unter Sang und Klang zur Folge hatte, und mit dem trostlosen Wiedereinzug in Jena ohne Sang und Klang endete. Aber es waren immerhin prächtige, zügel- und fessellose, echt burschikose Tage, die zwischen dem fröhlichen Anfange und tristen Ende inne lagen.
Die Hauptepisode bildete der am 24. oder 25. October 1822 erfolgte Auszug der sämmtlichen Studenten nach dem drei Stunden entfernten altenburgischen Städtchen Kahla, dieser Auszug mit seinen Berathungen, Deputationen, seinem Singen, seinem Trinken und Lieben. Die Studentenallmacht träumte von Bedingungen, unter denen die Rückkehr nach Jena erfolgen solle. An der Spitze dieser Bedingungen stand die Aufhebung des Singverbotes. Daß diese Bedingung nicht in Erfüllung ging, das ganze Stück Revolutionsgeschichte vielmehr mit einem Nachspiel akademischer Strafen schloß, versteht sich gleichsam von selbst.
Das freiwillige Exilleben in Kahla war aber, namentlich in den ersten Tagen, ein höchst ergötzliches, und wird Allen unvergessen sein, die daran Theil hatten.
Auf der Saalbrücke bei Kahla, wo von der Stadt aus links die Leuchtenburg mit ihrer herrlichen Aussicht auf und ihrem Jammer und Verbrechen in ihren Mauern sich erhebt, traf ich mit demselben jungen Manne zusammen, den ich im Sommer vorher durch Neustadt hatte reiten sehen auf dem Jenaischen Klepper. Er war kaum mittelgroß, trug noch immer den weiten blauen Rock, die rothe Mütze, und aus dem dunkeln Antlitz leuchtete das Auge so innig, so freundlich und gutmüthig.
Wir kamen in’s Gespräch mit einander. Wir sprachen, was man als Jenaischer Student bei solchen ersten Bekanntschaften zu sprechen pflegte: „Woher? Wie der Name? Was studiren? Wie lange in Jena?“ u. s. w.
Der Blaue war schon Brandfuchs oder gar junger Bursch, ich noch grasser Fuchs, er achtzehn, ich siebenzehn Jahre alt. Nach ungefähr einer Viertelstunde schieden wir mit derbem Händedruck, wie das damals Sitte war.
Die Strömungen des Studentenlebens rissen uns auseinander, so daß ich mich nicht entsinne, mit dem jungen Manne, der einen eigenthümlich wohlthuenden Eindruck auf mich gemacht hatte, wieder in Berührung gekommen zu sein.
Jahre vergingen, da fand ich den Namen, den mir damals das herzige Menschenkind auf der Kahlaischen Saalbrücke genannt hatte, in der Dichterwelt genannt und gefeiert. Er hatte den Lebenslauf des Studenten Anselmus in Hoffmann’s Mährchen vom goldenen Topf richtig durchgemacht, war auf der glückseligen Insel Atlantis angelangt, und lebte dort das göttliche Leben über der Welt Alltäglichkeit, wie man es eben nur auf besagter Insel Atlantis leben kann.
Wieder sind Jahre auf Jahre vergangen, und auf dem Schmerzenslager ruht der Körper, der die reine, schöne Dichterseele umfesselt hält. Noch brechen ihre Strahlen durch die Schmerzensnacht, die sich um das edle Leben gelagert bat, noch schweift die Erinnerung aus der traurigen Gegenwart zurück in die glückliche Vergangenheit.
Wird bei der Kunde von dem Jenaischen Jubelfest, das aus weiten Kreisen die einstigen Musensöhne von Jena wieder dort versammelt, auch Deine Erinnerung wieder zurückschweifen in die versunkene Jugendwelt? Wirst Du der Zeit gedenken, wo Dir noch glücklich und sorglos das freie, frische Dichterherz unter dem schlichten blauen Rocke schlug, und die rothe Mütze noch statt des Lorbeerzweiges das Haupt Dir schmückte? Wirst Du der Zeit gedenken, Du edler, unglücklicher und doch glücklicher Julius Mosen? – am Ende.