Textdaten
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Autor: M. Steche
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Titel: Vor dreiundsechszig Jahren
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aus: Die Gartenlaube, Heft 39, S. 647–648
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Vor dreiundsechszig Jahren.


Nicht die geringste unter den Annehmlichkeiten der schönen Hauptstadt Sachsens ist es, daß ihre Bewohner in kürzester Zeit die rußige Stadtluft mit dem würzigen Odem der Berge vertauschen können. Zu den am schnellsten zu erreichenden Thalgründen in Dresdens Nähe gehört der Seidewitzgrund. Es giebt nicht leicht etwas Reizvolleres, als dieses liebliche, abwechselungsvolle stille Thal mit seinem birkendurchwirkten frischen Tannengewande und dem murmelnden Forellenwasser der Seidewitz, welches noch von Pirol- und Finkengesang übertönt wird.


Schloß Kukukstein.
Nach der Natur aufgenommen von M. Steche.


Kaum einem Menschen begegnet man im stillen Grunde, der, sich langsam verengend, in fortwährenden Windungen sich hinzieht; wir gehen an einer fleißigen Schneidemühle vorüber und erblicken bald nach zweistündigem Marsche auf dem Saume der linken Thalwand ein romantisches thurmgeschmücktes Schlößchen. Es ist Kukukstein. Fast in demselben Momente sind wir, links einbiegend, im alten Städtchen Liebstadt, welches sich in den engen Thalkessel einschmiegt, über sich das Schloß und gegenüber auf niedriger Anhöhe seine schmucke Kirche. Die ganze Zusammenwirkung von Städtchen, Schloß und Kirche erinnert an die gemüthlichen Zeichnungen unseres Ludwig Richter, und ich müßte mich sehr irren, wenn der Meister nicht den dicken Schloßthurm mit seinen vier kecken Eckthürmchen sollte verewigt haben, etwa auf dem Blatte, wo die Kinder nach dem bekannten Goethe’schen Spruche von der alten Obstfrau viele Aepfel für wenig Geld kaufen wollen.

Außer seiner anmuthigen Lage bietet das Städtchen nur ein geringes Interesse; seine Geschichte, seine Leiden und Freuden hat es mit anderen Orten gemeinsam; öftere Verheerungen durch Feuersbrünste, vernichtende Krankheiten, kriegerische Gräuelthaten der Schwedenzeit bieten wenig Sympathisches für uns. Erwähnenswerth bleibt aber die Cultur der Strohflechterei, welche in dem kaum tausend Einwohner zählenden Städtchen in Blüthe steht. Das Weizenstroh der umliegenden Felder eignet sich vorzüglich zum Flechtwerk; wenn der Weizen sorgfältig eingeerntet, trennt man die Aehren ab und zerschneidet die Halme so, daß die Knoten herausfallen; nun wird das Stroh geschwefelt und gewässert und, hierdurch mürbe gemacht, in schmale Streifen gespalten, um dann von Jung und Alt zu dem verschiedenartigsten Flechtwerke verarbeitet zu werden; gerade die geschmeidigen Fingerchen der Kleinen spielen bei der mühsamen Arbeit eine nicht unbedeutende Rolle. Gegen zwanzigtausend Menschen der Gegend von Altenberg bis hinab nach Dohna und in das Gottleubathal erwerben durch diese Strohflechtereien ihren Unterhalt.

Die stattliche massive Kirche erinnert durch schöne Grabmäler an die früheren Besitzer von Stadt und Schloß, an die von Bünau, ein im Mittelalter mächtiges sächsisches Adelsgeschlecht, dessen Kunstsinn sich in ihrer edel ausgeführten Begräbnißstätte zu Lauenstein ein herrliches Denkmal gesetzt hat. [648] Auch ein gutes Gemälde von einem Schüler Cranach’s schmückt die Kirche.

Das Thal der Seidewitz bildete oft den Schauplatz kriegerischer Scenen; es ist eine der drei Hauptstraßen über den Kamm des Erzgebirges in die fruchtbare Ebene Böhmens. Vom dreißigjährigen Kriege an bis zu den Kriegen des ersten Napoleon wurde das sonst so ruhige Thal viel zu Durchmärschen benutzt, zuletzt von der französischen Armee, im Jahre 1813. Nach zweitägigem hartem Kampfe hatte Napoleon die blutige Schlacht bei Dresden gewonnen. Noch einmal hatte ihm sein Glücksstern gestrahlt, um bei Leipzig wenige Wochen darauf zu verlöschen. Der Todfeind Napoleon’s, Moreau, war geblieben. „Er ist geblieben,“ sagte Napoleon, als man ihm die Nachricht brachte, „als ein Opfer seiner Verrätherei am Vaterlande. Das ist der Lohn, wenn man vergißt, was man seiner Ehre und seinem Vaterlande schuldig ist.“ Das große verbündete Heer der Preußen, Oesterreicher und Russen war im vollen Rückzuge nach Böhmen. General Wittgenstein war zurückgedrängt. Napoleon’s Truppen folgten dem Heere der Alliirten auf dem Fuße. Die Corps von Victor, von Lobau und von Marschall Saint Cyr rückten gegen Altenau, Berggießhübel und Breitenau.

Am 9. September Nachmittags fünf Uhr kam der gefürchtete Kaiser selbst in Begleitung von Murat und einem Heere von 40,000 Mann nach unserem Liebstadt. Napoleon nahm sein Hauptquartier im Schlößchen Kukukstein, und durch diesen seinen Aufenthalt hat dasselbe ein gewisses historisches Interesse erhalten, so wenig auch die Geschichte des Schlosses bekannt ist; einige Worte darüber werden sich wohl deshalb rechtfertigen.

Erbaut im frühen Mittelalter, bildete Schloß Kukukstein ein Lehen der böhmische Krone, sein Aeußeres wie Inneres unterlag aber so vielen Aenderungen, daß von dem „edlen Rost“ des Alters und der Geschichte nicht mehr viel erhalten ist. Im Jahre 1573 erwarb die Familie von Bünau die Besitzung, und aus dieser Zeit stammt wohl in der Hauptsache die jetzige Anlage des Schlosses mit seinem starken viereckigen Thurme. Im Jahre 1775 kam es an die Familie von Carlowitz, in welcher es bis jetzt verblieben ist. Abgesehen von einigen guten und interessanten Glasgemälden des sechszehnten Jahrhunderts, erinnern nur noch die Bezeichnungen „Mönchsgang“ und „Capellstube“ an die mittelalterlichen Zeiten. Die Räume sind alle modernisirt worden, und auch diejenigen, welche die reichhaltige Bibliothek bergen, machen einen nüchternen Eindruck; es sind weite, große Zimmer, welche Napoleon bewohnte, doch scheint der liebliche Blick, denn sie in das drunten liegende Thal bieten, ihn nicht lange gefesselt zu haben. Kaum hatte er von der Bibliothek des Schlosses gehört, so ließ er sich in dieselbe führen. Wenige Stufen führen in die zwei Bibliotheksräume, und der erste Gegenstand, welcher sich dem Blicke bietet, ist ein colorirter Kupferstich im einfachen Rahmen mit dem Portrait – Moreau’s. Er ist in jüngeren Jahren dargestellt als General der französischen Republik, mit der dreifarbigen Cocarde seines Vaterlandes am Dreimaster. Mit Ungestüm – so erzählt die Ueberlieferung – ging der leidenschaftliche Corse auf das Bild los, riß es von dem Bücherrepositorium, dessen Seitenfläche es schmückt, riß es aus dem Rahmen, schnitt die Cocarde aus dem Hute Moreau’s und schrieb in großen, von Erregung zeugenden Schriftzügen unter das verstümmelte Portrait; „Le traître en était indigne.“ („Der Verräther war ihrer unwürdig.“)

Am andern Morgen verließ Napoleon Schloß Kukukstein; das durch ihn zur historischen Reliquie gestempelte Bildniß Moreau’s aber hängt heute noch an derselben Stelle, trotz der hohen Summen, welche so oft schon begehrende Fremde geboten haben. Nach Napoleon machte sein Marschall Saint Cyr im letzten Drittel desselben Monats September das Schloß zu seinem Hauptquartier, bewohnte aber mit seinen Officieren nicht die große Suite der von seinem Herrn inne gehabten Zimmer, sondern kleinere Räume, aber auch diese stillen Gemächer bieten uns noch jetzt Erinnerungen an die französische Occupation. Mehrere von den Officieren Saint Cyr’s haben mit den Diamanten ihrer Ringe in die Fensterscheiben ihre Namen geritzt; wir lesen da die Namen „Louis de St. Belin Capitaine aide-de-camp du Mal. Gouvion St. Cyr“, ferner „de Gogendorp chef d’Escadron aide-de-camp de M. le Maréchal Gouvion St. Cyr“. Wie sehr sich die Herren trotz ihrer eben frisch erworbenen Lorbeeren auf dem Schlößchen gelangweilt und nach ihrem schönen Vaterland und dem üppigen Paris gesehnt, zeigen die gleichfalls in eine Fensterscheibe gegrabenen Verse, in welchen wir Deutschen höhnisch abgefunden werden:

Amateurs du veau,
ne quittez pas la Germanie!
Admirateurs du beau,
fixez-vous en Italie!
Mais pour trouver les plaisirs et le ris,
ne sortons jamais de Paris!

Zu deutsch also: Ihr Liebhaber von Kalbfleisch, verlaßt Deutschland nicht! Ihr Bewunderer des Schönen, setzt Euch fest in Italien; oder um Vergnügen und Scherz zu finden, laßt uns nie Paris verlassen!

Sympathischer aber als die eben aufgeführten französischen Verse berühren wohl jeden Leser die „Méyne“ unterschriebenen Worte „ah, que je sens d’impatience, mon cher pays, de te revoir!“ (Ach, wie ungeduldig ich bin, dich, mein geliebtes Vaterland, wiederzusehen!)

„Ob dem Schreiber wohl dieser Wunsch erfüllt wurde?“ fragen wir uns ernst gestimmt beim Verlassen des Schlosses, „oder blieben seine Gebeine im Lande der Kalbfleisch essenden Barbaren?“
M. Steche.