Textdaten
<<< >>>
Autor: Otto Ernst
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Vor dem Zuchthause
Untertitel:
aus: Siebzig Gedichte
S. 65–67
Herausgeber:
Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1907
Verlag: L. Staackmann
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Google-USA* und Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
[[index:|Indexseite]]


[65]
Vor dem Zuchthause.


Ein düst’rer Steinkoloß ragt in die Schatten
Der Nacht hinauf. Die grauen Wände starren
Gespensterhaft empor, und sie umflattert,
Aufzuckend hier und da, ein fahler Schimmer

5
Der Gaslaterne, die im Hofe brennt

Und deren Glas von Sturm und Regen klirrt.
Auf harten Steinen gellt der Tritt der Wache;
Von Eisengittern starren tote Fenster –
Ein Zuchthaus. –

10
Ein scheußlich Ungeheuer, brütet es

In dumpfer Finsternis und haucht Verdammnis.
In später, dunkler Nacht schreit’ ich vorüber
Einsam und stumm. Doch tief geheimes Grauen
Durchfröstelt mein Gehirn. – Ein öder Friedhof

15
Ist gegen diese stille Menschenwohnung

Ein lächelnd schöner Paradiesesgarten,
Ist eine Stätte süßer Lust, verglichen
Mit diesem Grabe der Lebendigen. –
Wir schreiten leichten Fußes dran vorüber,

20
Behaglich eingehüllt in unsre Mäntel

Und in den warmen Frieden unsrer Tugend.
Wir wandeln durch den hellen Sommertag
Und unterm Sternenglanz der Winternächte –
Und über unser Antlitz fliegt kein Schatten.

25
Wir drehen uns im kerzenhellen Saale

Zum lust’gen Schall der Geigen und Trompeten,

[66]
Wir schlürfen lachend aus kristall’nen Bechern

Den roten Wein, daß er das Hirn durchglute
Mit holden, wundersamen Phantasien –

30
Und über unser Antlitz fliegt kein Schatten.

Wir wärmen uns am stillen Herd des Hauses
Und ziehen an die Brust das schöne Haupt
Des friedlich-sanften Weibes und der Kinder
Vom Jugendsonnenglück umstrahlte Häupter –

35
Und über unser Antlitz zieht kein Schatten.

Wer aber diesem steinernen Gespenst
In sturmzerriss’ner Nacht vorüberschreitet,
Dem bohrt sich ein Gedanke tief ins Hirn,
Und in das Ohr raunt ihm ein Unsichtbarer:

40
„Sieh diese Stätte schuldbeladnen Elends

Und überschlag’ den Wert der eignen Tugend!
Wer fiel von diesen, deren Klageruf
An unbarmherzig kalte Mauern gellt –
Wer fiel in Schande, weil du mitleidlos

45
An seinem Jammer einst vorübergingst,

Als er noch gut war, doch vom Glück verlassen?
Wer fiel in Schande, weil du ihn verkannt?
Wer fiel in Schande, weil du seiner Jugend
In frevlem Leichtsinn eitle Lehren gabst,

50
Die abwärts führten, statt hinauf zum Lichte?

Wer fiel in Schande, weil du lässig warst,
Zum Guten ihn zu führen, seine Seele
Mit reinem Himmelslichte zu erfüllen,
Weil du in Faulheit deines eignen Wohlseins

55
Behaglich nur gewartet und sein Herz

Dalag, ein toter Acker, nur bedeckt

[67]
Vom Herbstesnebel eines öden Daseins?

O ihr, ihr Glücklich-Tugendsamen, Reinen!
Klebt euer Schuh, wenn er zum Tanze hüpft,

60
Nicht fest zuweilen an dem glatten Boden

Vom Blute eines Mords? – Dringt nicht zuweilen
Durch alle Wohlgerüche eurer Gärten,
Durch eurer Kammern liebliches Arom
Der scharfe Pesthauch einer eklen Sünde? – –

65
Die ihr das Haupt so frei zum Himmel hebt,

Vergeßt mir nicht in eurem guten Herzen,
Daß hinter diesen grauen Kerkermauern
Ein redlich Teil von eurer Sünde wohnt,
Und laßt in eurem Innern widerhallen

70
Den wilden Schmerzensschrei der hier Begrabnen,

An deren Fuß die schwere Kette klirrt
Und die verdammt sind – auch um eure Schuld!“ –