Von der Seelenwanderung
[676_d] Von der Seelenwanderung. Die Lehre von der Seelenwanderung ist nicht ein müßiges Beiwerk der indischen Religionen, sondern aus dem Kern derselben herausgewachsen, und als der große Reformator Buddha, der keinen Gott und keine Götter kennt, die Grundlagen der Brahmanenweisheit erschütterte, das Kastenwesen verwarf und seine Religion auf Menschenliebe und menschliche Verbrüderung gründete, da nahm er doch die Seelenwanderung in seine Lehre und zwar als eine wichtige Grundlage mit auf. Die Weisheit der Brahmanen verwischte die Unterschiede zwischen Pflanzen und Tieren, Menschen und Göttern; sie sah überall nur Seelen, welche sich in gleicher Weise aus größerer oder geringerer Unreinheit zur Reinheit, aus der Unvollkommenheit zur Vollkommenheit, zum Urquell des Daseins zurückzuarbeiten haben. Dazu bedarf es unzähliger Wiedergeburten. Zuerst wird der Sünder in der Hölle gemartert; dann beginnt er die Stufenleiter der Wanderung, und zwar von der untersten, der schlechtesten Existenz an, von neuem. Wer geringere Fehler begangen, wird je nach dem Maße derselben als Elefant oder Sudra (Mitglied der niedrigsten Kaste), als Vogel oder Tänzer wiedergeboren, wer grausame Thaten vollbracht hat, als Löwe oder Tiger. Wer einen Mordversuch auf einen Brahmanen machte, wird hundert oder tausend Jahre in der Hölle gepeinigt werden, dann aber in einundzwanzig Geburten das Licht der Welt als Abkömmling eines gemeinen Tieres wieder erblicken.
Wer einen Brahmanen getötet hat, wird als Hund, als Esel oder als Ziegenbock wiedergeboren werden, wer eine Kuh geraubt hat, als Krokodil oder Eidechse, wer Korn gestohlen, als Ratte; wer Früchte oder Wurzeln stiehlt, wird Affe. Die Zahl dieser Existenzen aber ist unbegrenzt. Die Buddhisten nahmen diese Lehre auf. Unter den tierischen Wiedergeburten gelten den Buddhisten die als Ameisen, Läuse, Wauzen und Würmer für die schlimmsten. Als Mensch wird man auf schlechten oder guten Wegen, in einer niedrigeren oder höheren Kaste, unter leichteren oder schwereren Verhältnissen, je nach früherer Schuld oder früherem Verdienst wiedergeboren. Dem Buddha selbst werden 550 frühere Lebensläufe zugeschrieben, bevor er als Sohn des Suddhodana das Licht der Welt erblickte. Er hat zuvor gelebt als Ratte und als Krähe, als Frosch und als Hase, als Hund und als Schwein, zweimal als Fisch, sechsmal als Schnepfe, fünfmal als Goldadler, viermal als Pfau und ebenso oft als Schlange, zehnmal als Gans, ebenso oft als Hirsch und Löwe, sechsmal als Elefant, viermal als Pferd und Stier, achtzehnmal als Affe, fünfmal als Seelöwe, dreimal als Töpfer, dreizehnmal als Kaufmann, neunundzwanzigmal als Brahmane, ebenso oft als Prinz, achtundfünfzigmal als König. Doch Buddha kannte seine früheren Existenzen, und als er unter dem Bo-Baum saß und die Offenbarung über ihn kam, da wußte er, welche Namen er früher geführt, welchen Kasten, welchen Familien er angehört, welches Glück und Unglück er erlebt hatte. Die Seelenwanderung ist eine Läuterung; wer die Begierden abgestreift, das Verlangen, den Willen zum Leben, der erlangt die Nirwana, den letzten endgültigen Tod, mit dem die Wanderung abschließt. Die Erlösung durch den Tod – das ist auch die Bedeutung der Sage von Ahasver, nur daß dieser nach einer einmaligen Menschwerdung die rastlose Dauer des Lebens als unerträgliche Last empfindet, während die Seele der Hindus sich durch tausend Gestalten mit ihrem qualvollen Leben hindurchwindet. †