Von Christiania nach Bergen

(Weitergeleitet von Von Christiana nach Bergen)
Textdaten
<<< >>>
Autor: Karl Konrad
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Von Christiania nach Bergen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 44, S. 734–738
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[734]

Von Christiania nach Bergen.

Bilder aus Norwegen von Karl Konrad.0 Mit Illustrationen nach den Aquarellen von Prof. C. Werner.

1. 0 Christiania.

Der den germanischen Stämmen von Alters inne wohnende Wandertrieb, welcher in früheren Zeiten so häufig in die Geschicke der europäischen Länder und Völker eingegriffen, scheint in unserem Jahrhundert der Dampfkraft mit erneuter Stärke erwacht zu sein. Freilich hat er heutzutage nichts mehr mit Eroberungssucht und Beutelust gemein, verleugnet aber im Uebrigen keineswegs seinen alten Charakter. Nicht einzig und allein der Freude am Naturgenusse – denn diese finden wir auch bei anderen Völkern – sondern eher einem gewissen Hange zur Romantik und vor allem der Lust am Wechsel entsprungen, Eigenthümlichkeiten, die dem germanischen Nationalcharakter schon seit den ältesten Zeiten ankleben und ihm von je den Spott der Nachbarvölker eingetragen haben, hat dieser Wandertrieb in der sogenannten Vergnügungs- oder Ferienreise seinen neuesten Ausdruck gefunden.

[735] Nachdem er im Süden bereits jeden romantischen Punkt, jedes idyllische Fleckchen ausgespäht, ist ihm vermöge der fortschreitenden Entwickelung der modernen Communicationsmittel neuerdings ein Gebiet erschlossen worden, das, bisher abseits und unbeachtet gelegen und daher noch mit dem vollen Reize des Geheimnißvollen umkleidet, neue und lohnende Entdeckungen in Fülle verspricht. Es ist der skandinavische Norden, die Ultima Thule unserer Vorfahren, für unsere nordpolforschende Zeit aber nicht länger das Ende der Welt.

Die vielgelesenen Schilderungen namhafter deutscher Schriftsteller wie Mügge, Laube, Rasch, Passarge haben die bis dahin festgewurzelten Vorurtheile, welche sich Skandinavien als eine sterile, vegetationslose Eis- und Felswüste unter einem ewig trüben Himmel und bevölkert von wilden Thieren vorstellten, so ziemlich beseitigt, und mehr und mehr hat sich seitdem der große, bis dahin fast ausschließlich Italien und die Alpenländer überfluthende Touristenstrom den skandinavischen Reichen und unter ihnen vornehmlich dem wildromantischen Norwegen zugewendet.

Die Mehrzahl der Reisenden, welche eine Rundtour durch die norwegischen Hochlande beabsichtigen, wird, da fast sämmtliche Zugangsrouten in der Landeshauptstadt Christiania münden, diese zum Ausgangs- oder Schlußpunkt ihrer Reise wählen müssen. Aber nur die wenigsten verweilen hier länger, als es zu einer flüchtigen Umschau nothwendig ist. Wer den Norden aufsucht, will meistens lediglich dessen großartige Natur bewundern, und nur selten hat man zudem Christiania unter den sehenswertheren Städten Europas nennen hören. Und dennoch ist, gänzlich abgesehen von den vortrefflichen Gasthöfen, welche diesen Ort mehr als einen anderen in ganz Norwegen zu einem Ruhepunkte geeignet erscheinen lassen, Christiania eine in mehr als einer Beziehung interessante Stadt, die hinsichtlich ihrer Lage selbst im Süden nur wenige Rivalinnen zu fürchten hat, im Norden aber gar keine. Wohl gewährt das alterthümliche Bergen, umgeben vom siebengezackten Felsenkranz, einen großartigeren Totaleindruck; wohl zeigt die fluthumrauschte Inselstadt Stockholm mit ihren stolzen Palästen und metallenen Heldenbildern, ihren kühnen Brücken und granitenen Quais ein vornehmeres und imposanteres Stadtbild, an Anmuth, Farbenfülle und Abwechselungsreichthum aber stehen Christianias Umgebungen einzig da.

Von welcher Seite man sich auch der Hauptstadt Norwegens nähert, ob zu Wasser oder zu Lande, stets wird man durch ihren ersten Anblick um so mehr überrascht und entzückt sein, als die Naturgenüsse, welche die lange Reise geboten, nur bescheidener Art waren. Die Fahrt auf dem zwölf deutsche Meilen langen, bald meerartig breiten, bald zum Strome verengten Fjord, an einsamen Klippenstränden, zerstreuten Felsinseln, dunklen Nadelholzungen und rothbemalten Fischerhütten vorbei, ist bei aller Anmuth auf die Dauer doch etwas monoton und ermüdend. Sobald aber der Dampfer die weit vorspringende Landzunge Nœsodtangen umfahren hat, entfaltet sich mit einem Schlage das ganze zauberhafte Panorama von Christiania vor den entzückten Augen, welche Mühe haben, es in allen seinen Einzelheiten zu fassen.

Kommt man aber mit der Eisenbahn von Gothenburg, so fühlt man sich, nachdem man den ganzen langen Tag durch eine unerfreuliche Wald- und Felswüste dahin geeilt, doppelt erfrischt, wenn man, am Rande des den Christiania-Fjord östlich begrenzenden Hochplateaus angelangt, tief unten den metallisch blitzenden Meeresarm mit seinen Hunderten von Inseln, vom Glanze der scheidenden Sonne übergossen, vor sich ausgebreitet sieht, ein Anblick, der uns so lange erfreut, bis der Zug langsam auf Gallerien und Dämmen in das weite, farbenreiche, mit menschlichen Wohnungen übersäete Thal hinabgestiegen ist.

Die Landschaft um Christiania hat nichts von dem herben, ernsten Charakter, der sonst dem Norden eigen, sondern ist von heiterem, fast südlich zu nennendem Liebreize. Auf Schritt und Tritt werden hier Erinnerungen an die apenninische Halbinsel wach. Schauen wir von dem steil aus dem Fjorde aufsteigenden, waldbekleideten Ekeberg landeinwärts auf das in satten Farben leuchtende Thal des Akerselv, in dem sich die ausgedehnte Stadt mit ihren langen, weiß schimmernden Häuserreihen, ihrem hochragenden Schlosse, ihren vielen Thürmen, die alle von der mächtigen Kuppel der Dreifaltigkeitskirche überragt werden, behaglich bettet, so fällt uns das ferne, schöne Florenz ein, wie wir es vom sonnigen Bello Squardo oder von Fiesole aus gegrüßt haben. Gleiten wir dann wieder im leichten Nachen über den blauen Wasserspiegel des Fjords und senden von hier den Blick nach der von einem weiten, aus sanften Hügeln, grünen Wäldern und blühenden Auen gebildeten Amphitheater umgebenen Stadt, so gedenken wir Comos und seines lieblichen myrthenumdufteten Sees, dessen stolzen Alpenhintergrund man hier freilich nicht suchen darf. Schweifen wir aber an der vielgewundenen Fjordküste umher, wo unzählige Villen aus dunklem Tannengrün hervorleuchten und sich mannigfach wechselnde Aussichten auf die malerischen Felseninseln und Vorgebirge eröffnen, so wähnen wir uns an den Golf von Neapel versetzt, nur daß hier die Formen weicher, die Farben matter sind und kein qualmender Bergriese dieses Paradies mit Tod und Vernichtung bedroht.

Aber nicht blos malerisch schön ist die Lage Christianias, sie ist vor allen Dingen höchst vortheilhaft für Handel und Verkehr. Der tiefe, gute und sichere Häfen gewährende Fjord, in welchem selbst in strengen Wintern das Fahrwasser durch einen Eisbrecher offen gehalten wird, ermöglicht eine directe Dampfschiffsverbindung mit allen größeren europäischen Hafenplätzen, während Schienenstränge nach verschiedenen Richtungen hin die norwegische Hauptstadt mit Drontheim, Stockholm und Gothenburg in Verbindung setzen. Vermöge dieser günstigen Verkehrsverhältnisse ist Christiania, das bereits gegen 200 eigene Schiffe besitzt, eine der bedeutendsten Handelsstädte in Nordeuropa geworden. Außerdem ist es auch der Hauptsitz der zwar noch geringfügigen, sich aber von Jahr zu Jahr mehr entwickelnden norwegischen Industrie. Wir finden hier eine beträchtliche Anzahl großer Maschinenfabriken und Sägemühlen, so wie mehrere Brauereien im größten Stile, welche jenes kräftige, stark alkoholhaltige, aber sehr wohlschmeckende Bier erzeugen, das neuerdings auch im Auslande verdiente Anerkennung gefunden hat und bis nach Brasilien exportirt wird. Weitere Ausfuhrartikel sind Holz, Fische, Felle; eingeführt werden dagegen hauptsächlich Colonialwaaren, Getreide und Wein.

Christiania ist eine verhältnißmäßig junge Stadt, die Nachfolgerin des alten, etwas weiter östlich am Fuße des Ekeberges gelegenen Olso, das, jetzt zu einem ärmlichen Vororte herabgesunken, zur Unionszeit Landeshauptstadt und eine nicht unbedeutende Niederlassung der Hansa war, bis es im Jahre 1624 durch eine furchtbare Feuersbrunst vollständig eingeäschert ward. Den dadurch obdachlosen Bewohnern befahl Christian der Vierte, Dänemarks gefeiertster Nationalheld und einer der wenigen dänischen Könige, die sich auch um Norwegen verdient gemacht haben, sich jenseits des Flüßchen Akerselv im Schutze der alten, schon unter König Hakon dem Siebenten erbauten Veste Akershus neu anzusiedeln. So entstand das nach seinem neuerdings durch eine Statue geehrten Gründer benannte Christiania. Noch heute bildet jene aus regelmäßigen Häuserquadraten bestehende älteste Anlage den Kern der norwegischen Hauptstadt, deren City, die jedoch einen architektonisch ziemlich dürftigen Charakter zeigt. Dafür herrscht hier in den Geschäftsstunden ein reges Leben, das sich namentlich an den beiden Häfen, welche durch eine vorspringende Felszunge von einander geschieden werden, entfaltet. Letztere trägt die erwähnte altersgraue, aber als Bauwerk wenig interessante Festung, von deren hohen Wällen sich dem Spaziergänger herrliche Blicke auf den inselreichen Fjord mit seinen lieblichen Hütten, sowie auf die beiden belebten Häfen und die thurmreiche, landeinwärts langsam ansteigende Hauptstadt darbieten.

Um die alte Stadt Christian’s des Vierten hat sich nun innerhalb der letzten Decennien das neue Christiania in weitem Halbkreise ausgebreitet, und zwar mit rapider, an amerikanische Verhältnisse erinnernder Schnelligkeit. Aus dem armseligen Landstädtchen, das noch zu Anfang dieses Jahrhunderts kaum 9000 und noch vor 25 Jahren erst 40,000 Einwohner zählte, hat sich allmählich eine große und wohlhabende Stadt entwickelt, welche jetzt 124,000 Menschen Obdach und Nahrung giebt und ihren Culminationspunkt noch lange nicht erreicht zu haben scheint. Leider hat man versäumt bei Zeiten einen rationellen Bebauungsplan aufzustellen. Die alljährlich entstehenden Häuserreihen ziehen sich immer weiter in’s Land hinein, während sich mitten in der Stadt noch viele wüste Plätze finden. So kommt es, daß Christiania einen unverhältnißmäßig großen Raum einnimmt, ohne den Eindruck einer modernen Großstadt zu hinterlassen. Neben stattlichen Neubauten gewahrt man noch häufig alte Holzbaracken, [736] welche freilich, da das Aufführen neuer untersagt ist, mehr und mehr verschwinden.

Von dem imposanten Centralbahnhofe führt die lange, elegante, laden- und verkehrsreiche Karl-Johann-Straße mitten durch das Herz der Stadt und an deren Hauptgebäuden vorbei, in ihrem letzten Theile zur linken Hand durch schattige Parkanlagen begrenzt, nach dem hochthronenden, die Aussicht stattlich abschließenden Schlosse, das seinerseits dominirend auf Stadt und Land herabschaut. Vor seiner kolossalen, aber etwas nüchternen Front erhebt sich das Meisterwerk Brynjulf Bergslien’s, die einfach edle Reiterstatue jenes genialen Emporkömmlings, der als Jean Baptiste Bernadotte in einem bescheidenen Advocatenhause zu Pau geboren ward und als König Karl der Vierzehnte im Stockholmer Residenzpalaste die Augen schloß.

Auf einem schmucklosen, aber mächtigen Unterbau, der als Inschrift nur den Wahlspruch des Königs zeigt: „Des Volkes Liebe mein Lohn“, steht das prächtige, lebendig vorwärts schreitende Pferd, auf dessen Rücken der Herrscher in leichter, ungezwungener und doch würdevoller Haltung sitzt, den Hut in der Hand, als ob er soeben aus dem Portal des Schlosses geritten käme, die Grüße des Volkes freundlich zu erwidern. So schickt er den Blick zur Stadt hinab, hinüber nach dem Hause des Storthings, mit dem er sich seine ganze Regierungszeit hindurch im Kampfe befand.

Noch imponirender in seinem Aeußeren als die Königsburg, wenngleich in einem seltsam gemischten bizarren Stil erbaut, aber breit und trotzig den Eingang zur innern Stadt bewachend, und somit den Charakter der in ihm herrschenden Gewalt trefflich zur Anschauung bringend, erscheint Norwegens Stolz, sein Parlamentshaus, dessen Auffahrt mit zwei prächtigen Löwen aus Granit geschmückt ist.

Inmitten der schattigen Anlagen, welche den Raum zwischen den Wohnstätten des Herrscherthums und der Volksvertretung ausfüllen, steht, wie ein Vermittler zwischen beiden feindlichen Gewalten, seit neuester Zeit das Standbild Henrik Wergeland’s, des größten lyrischen Dichters Norwegens, der zugleich einer der bedeutendsten Politiker des Nordens war. Wie er, der glühende Freiheitsschwärmer, den Heldenkönig Karl Johann in begeisterten Gesängen feierte, so hat auch hier seine Statue den rechten Platz gefunden.

Am Fuße des Schloßhügels gewahren wir ferner die Gebäude, welche den Zwecken der erst im Anfange dieses Jahrhunderts als erstes Zeichen der nationalen Erhebung gegründeten Hochschule dienen.

Die Zahl der Studenten in Christiania beträgt in der Regel 500 bis 600; sie tragen seltsame schwarze Baretts mit einer langen auf die Schulter herabhängenden Seidenquaste.

Vor vielen Städten ähnlicher Größe zeichnet sich Christiania durch gemeinnützige Anstalten aus. Von Pferdebahnen durchzogen und von einem ausgebreiteten Telephonnetz früher als manche deutsche Großstadt überspannt, ist es in jeder Hinsicht den Anforderungen der Zeit nachgekommen. Stattliche Schulen und Hospitale werden gebaut und eine prächtige Dampfküchenanstalt sorgt für die billige Verpflegung der ärmeren Classen. Auch an Kirchen – durchweg geschmackvolle, moderne Rohbauten – ist kein Mangel; denn es herrscht viel tiefe, oft sogar Auswüchse treibende Religiosität in Norwegen. Dahingegen kann eine so junge und zumeist durch den Handel emporgekommene Stadt nicht reich an Kunstschätzen sein. Was sich unter den Gemälden der kleinen Nationalgallerie an ausländischen Arbeiten findet, ist größtentheils werthlos, die norwegische Schule aber, die sich in diesem Jahrhundert nicht geringe Achtung erworben hat, ist auf das Stattlichste in mehreren Meisterwerken von Gude, Tidemand, Morton Müller, Arbo, Cappelen etc. vertreten. Höchst interessant sind ferner die verschiedenen Sammlungen der Universität, und unter diesen namentlich das altnordische Museum, welches, wenn auch nicht so reichhaltig wie die Sammlungen in Kopenhagen und Stockholm, manchen höchst seltenen Schatz besitzt. Eine solche Menge prächtiger, geschnitzter Thüren von alten Holzkirchen findet man nirgends wieder. Hier ist auch das berühmte Vikingerschiff zu sehen, dessen Auffindung vor einigen Jahren ein so allgemeines Interesse erregte. (Vergl. Jahrg. 1880, S. 472.) Das höchst merkwürdige, jetzt in geschickter Restauration befindliche Fahrzeug zaubert die romantischen Zeiten der nordischen Seekönige auf das Lebhafteste vor des Beschauers Auge.

Ein großer Schmuck Christianias sind die vielen öffentlichen Anlagen und Gärten, die sich in allen Stadttheilen finden. Im Frühling, wenn Syringen und Goldregen in unendlichen Mengen duften und blühen, rufen sie einen wahrhaft zauberhaften Eindruck hervor. Gleich hinter dem Schlosse dehnt sich der herrliche Schloßgarten aus, in dessen schattigen Laubgängen man den sechszigsten Grad nördlicher Breite vollständig vergißt. Schwäne gleiten auf einem kleinen See umher, ein hoher Springbrunnen verbreitet Kühle, wohlgepflegte Teppichbeete erfreuen durch ihren reichen Farbenschmuck das Auge. Hinter diesem Parke beginnt das eleganteste Viertel Christianias, die Homansby, in deren luftigen, mit geschmackvollen Villen besetzten Straßen vornehme Ruhe herrscht.

An Aussichtspunkten und interessanten Ausflugszielen ist Christianias Umgebung überreich und auch hierin mit der Neapels vergleichbar. Ein Uebelstand aber beeinträchtigt häufig den Genuß an den sonst so lohnenden Streifereien durch dieses Paradies. Nirgends nämlich, oder doch nur äußerst selten, finden sich Orte, wo sich der müde Wanderer erfrischen kann. Die norwegische Gesetzgebung will dem so trinklustigen Volke die Tugend der Mäßigkeit mit Gewalt anerziehen, und der unschuldige Fremde muß unter den strengen Maßregeln des Storthings mitleiden.

Ein elegantes Sommercafé aber befindet sich auf der Ladegaardsö, einer sich weit in den Fjord erstreckenden Halbinsel, die ebenso wohl deshalb, wie auch wegen ihrer Naturreize das Hauptausflugsziel aller Fremden und Einheimischen ist. Und dies mit Recht; denn ein so entzückend lieblicher Naturpark, wie die Ladegaardsinsel, wird in so unmittelbarer Nähe einer großen Stadt – kleine Dampfschaluppen vermitteln den Verkehr mit dieser – wohl schwerlich wieder gefunden. Zum besonderen Schmucke dient ihr das zierliche, im sogenannten Tudor-Stile erbaute Schlößchen Oscarshal, das sich nahe dem Strande auf einem terrassirten Hügel erhebt und, aus seiner dunklen Tannenumrahmung hell hervorleuchtend, von allen Aussichtspunkten in Christianias Umgebung gesehen wird. Ursprünglich von König Oscar dem Ersten erbaut, gehört es jetzt dem Staate, bleibt aber noch immer für die königliche Familie reservirt. Sein höchst sehenswerthes, die weit berühmten Gemäldecyklen von Gude, Irich und Tidemand enthaltendes Innere ist dem Publicum zugänglich; vom Thurme erschließt sich eine überwältigend herrliche Aussicht auf das dunkelgrüne, rings von leuchtendem Wasser umfluthete Laubmeer des Ladegaardsö bis zu den blauen Bergen des Askerlandes, die in lichten Wellenlinien den Horizont begrenzen.

Kein Fremder, der sich schon von hier aus einen Einblick in die eigentliche norwegische Gebirgsnatur verschaffen möchte, sollte es unterlassen, den circa 11 Kilometer nordwestlich gelegenen Frognersœter zu besuchen. Köstlich schattige Waldwege führen hinauf, und oben sieht man von der Gallerie eines im altnorwegischen Bauernstile erbauten Landhauses den ganzen Christiania-Fjord mit seiner interessanten Küstengliederung und seinem Inselarchipel wie eine Landkarte sich zu Füßen. Etwas höher auf der Tryvandshöhe, wo wir uns auf der Spitze eines hölzernen Aussichtsthurmes gegen 1800 Fuß über dem Meere befinden, öffnet sich die nach allen Seiten freie Aussicht auf ein Gebirgsbild voll düsterer Erhabenheit, das im Westen bis zu den fernen Hochgebirgen Thelemarkens reicht, aus welchen die etwa 17 deutsche Meilen entfernte und gegen 6000 Fuß hohe Schneekuppe des Gausta deutlich hervortritt.

Im Uebrigen aber ist es weniger die Großartigkeit der Formen, als vielmehr die innige Verschmelzung von Gebirg, Wald und Meer zu einem harmonischen Ganzen, was der Landschaft um Christiania ihren eigenthümlich bestrickenden Zauber verleiht. Eines ihrer anmuthigsten und eigenartigsten Elemente bilden die unzähligen, im Fjord gruppenweise verstreuten Eilande, jedes ein abgeschlossenes kleines Paradies für sich, jedes von individueller Physiognomie. Bald sind es winzig kleine nackte Felsklippen, bald große fruchtbare Gärten, hier mit einsamem herrlichem Hochwald bestanden, dort mit den reizendsten Villen besetzt. Die Vorliebe der Norweger für Landhäuser, in welchen sie ihre schönen, aber kurzen Sommer genießen, hat hier einen eigenen Villenstil geschaffen, der, wenn er sich auch in seinen Hauptelementen an das modernisirte Schweizerhaus anlehnt, vermittelst einer durch die leichte, luftige Holzconstruction begünstigten Fülle des reizendsten Schnitzwerkes, sowie zahlreicher Veranden, Gallerien und Balcons einen originellen Eindruck macht und neuerdings sogar im Auslande, z. B. in den Umgebungen Wiens, Nachahmung gefunden hat. Diese zahlreichen Landhäuser verleihen der Umgegend Christianias etwas ungemein Belebtes und Anmuthiges. Die besuchenswertheste unter allen Inseln ist nächst der Ladegaardsö

[737]

Ansicht von Christiania.
Nach dem Aquarell von Professor C. Werner.

[738] die Hovedö (Hauptinsel), welche das schönste unter allen Panoramen Christianias und außerdem noch die allerdings ziemlich unbedeutenden Ruinen eines von englischen Mönchen gegründeten Cisterzienserklosters aufweist. Die eigentlichen Villeninseln aber sind die im lieblichen Bunde-Fjord, einem Zweige des Haupt-Fjords, liegenden Malmö, Ormö und Sjursö.

Eine Villeggiatur am Christiania-Fjord hat ihre ganz besonderen Reize. Man segelt, badet, veranstaltet Landpartien und Picknicks im Grünen und freut sich der köstlich frischen Meer- und Bergluft. Der Geschäftsmann, welcher am Tage in der Stadt seinem Berufe nachgehen muß, genießt wenigstens die Abende draußen im Kreise der Seinen. Noch zur Mitternachtszeit, die ja hier im Hochsommer keine Dunkelheit bringt, steht man oft reichgeschmückte, mit vergnügten Menschen gefüllte Boote auf dem traumhaft stillen Wasserspiegel zwischen den Waldinseln dahingleiten und hört überall fröhliche Stimmen erschallen. Namentlich in der Johannisnacht, dem Mittsommerfeste, das zu Ehren des Sonnen- und Lichtgottes schon in vorhistorischen Zeiten im skandinavischen Norden gefeiert ward, bleibt Alles bis zur Morgenröthe wach. Da flammen Freudenfeuer von den Bergen und Inseln, ja selbst von Flößen die man auf dem Fjord schwimmen läßt; Raketen und Leuchtkugeln steigen in die fast tageshelle Luft, und überall wogen dichte Menschenmassen, die sich, wenn auch in merkwürdig stiller Weise, des Sommereinzuges freuen.

Aber auch der Winter in Christiania hat seine Vorzüge. Er ist zwar streng und andauernd, bringt aber meist windstilles, klares und sonnenhelles Wetter. Dann blüht auf der weiten glatten Fläche des Fjordes, oft bei Musik und bengalischer Beleuchtung, der Eissport.

Auch das gesellige Leben Christianias wird gerühmt. Die Gastfreundschaft der Nordländer und ihre liebenswürdige Zuvorkommenheit gegen Fremde sind ja in der ganzen Welt genugsam bekannt. Oeffentliche Vergnügungen giebt es hier allerdings nur in geringem Maße, und es ist auffallend, wie still und ehrbar in dieser Beziehung die norwegische Hauptstadt im Vergleich zu Stockholm und Kopenhagen erscheint. Für das Theater namentlich schaut hier weit geringeres Interesse zu herrschen, als in unseren deutschen Großstädten. Außer den dramatischen Arbeiten der nationalen Dichter, von welchen sich Björnson und Ibsen ja auch bei uns Eingang verschafft haben, führt man meist Uebersetzungen aus dem Französischen auf; denn gegen das von Deutschland Kommende hegt man, ganz vergessend, daß dort die Wiege der skandinavischen Cultur gestanden, noch mancherlei Vorurtheile, wenn sich auch[WS 1] der nach dem dänischen Kriege hier grassirende wüthende Deutschenhaß wesentlich gelegt und einer theilweisen Anerkennung unserer Verdienste Platz gemacht hat.

Die Zeit der skandinavischen Unionsbestrebungen scheint jetzt auch vorüber zu sein, während eine starke und von Jahr zu Jahr wachsende Partei Norwegen als selbstständige Republik von Schweden losgelöst sehen möchte, obgleich es ja schon jetzt mit letzterem Reiche wenig mehr als die Dynastie gemeinsam hat. Diese residirt fast ausschließlich in Stockholm. Der König, nach dem Gesetze verpflichtet, drei Monate des Jahres in Norwegen zuzubringen, kommt meist ohne seine Familie und mit geringem Gefolge in’s Land. Obwohl er beim Volke durchaus nicht unpopulär ist, mag ihm doch seine Stellung dem Storthing gegenüber, die ihm jegliche Autorität nimmt, den Aufenthalt in diesem seinem Königreiche nicht besonders angenehm erscheinen lassen.

Es war zwar die Rede davon, der Kronprinz werde als Vicekönig von Norwegen seine Residenz in Christiania aufschlagen, es scheint aber, als ob dieser Plan sich noch nicht so bald realisiren werde. Auch der jugendliche Kronprinz mag sich kaum nach der unmittelbaren Nähe des Storthings sehnen, der ihm erst kürzlich, bei Gelegenheit seiner Vermählung, eine geringe Erhöhung seiner sehr bescheidenen Apanage verweigert hat. Uebrigens war die deutschfeindliche und skandinavische Partei mit der Wahl des Thronerben wenig zufrieden. Man hätte lieber die älteste Tochter des Prinzen von Wales, die Enkelin der Königin Victoria und des Königs von Dänemark, als künftige Herrscherin begrüßt. Trotzdem wurde die Kronprinzessin bei ihrem am 11. Februar dieses Jahres erfolgten Einzuge in Christiania mit enthusiastischen Kundgebungen und einer Reihe so glänzender Feste empfangen, wie sie Norwegens Hauptstadt nie zuvor gesehen.

So steht denn zuversichtlich zu hoffen, daß es der liebenswürdigen Enkelin unseres Kaisers, welche die Herzen ihrer neuen Landsleute im Sturme errungen zu haben scheint, von der Höhe des Thrones aus gelingst werde, den skandinavischen Völkern Sympathie für deutsche Sitte und deutsches Wesen einzuflößen und die Bande zwischen Nord- und Südgermanen wieder enger zu knüpfen.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: eauch