Vom Nordpol bis zum Aequator/Volks- und Familienleben der Kirgisen

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Autor: Alfred Brehm
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Titel: Volks- und Familienleben der Kirgisen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 22, 23, S. 360–364, 378–380
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Vom Nordpol bis zum Aequator.

Populäre Vorträge aus dem Nachlaß von Alfred Edmund Brehm.
Volks- und Familienleben der Kirgisen.

Die weite Steppe im Südwesten des asiatischen Rußlands bis herein an die Mündungen der Wolga ist die Heimath eines schweifenden Reiter- und Hirtenvolkes, der Kirgisen. Ihr Name bedeutet nichts anderes als „Räuber“, und es gab auch eine Zeit, in welcher die Kirgisen insgemein ihren Namen rechtfertigten; aber diese Zeit ist, wenigstens für viele Zweige der verschiedenen Horden, vorüber. Ein Nachhall der Gesinnungen, Heldenfahrten und Räuberthaten der Väter mag in jedes Kirgisen Brust erklingen; im großen Ganzen aber hat sich jetzt das Reitervolk der Steppe den Gesetzen seiner Beherrscher gefügt und lebt gegenwärtig ebenso unter sich wie mit den Nachbarn in Frieden, achtet das Recht des Eigenthums und raubt und stiehlt nicht öfter und mehr als andere Völker, eher seltener und weniger. Unter der russischen Herrschaft lebt der Kirgise von heute unter so befriedigenden Verhältnissen, daß seine Stammesgenossen jenseit der Grenze neidvoll auf die russischen Unterthanen blicken. Unter dem Schutze ihrer Regierung genießen diese Ruhe und Frieden, Sicherheit des Eigenthums und Glaubensfreiheit, sind vom Kriegsdienste fast gänzlich befreit und werden in einer Weise besteuert, welche man in jeder Beziehung billig nennen muß. Sie haben das Recht, sich eigene Gemeindevorsteher zu wählen, und erfreuen sich anderer Freiheiten mehr, welche nicht einmal die Russen selbst bisher erlangen konnten. Leider denken letztere meist nicht so vernünftig wie die Regierung und beengen, bedrücken, übervortheilen die Kirgisen, wann und wie immer sie vermögen. Doch sind sie nicht imstande gewesen, die Sitten, Gebräuche und Gewohnheiten des Volkes irgendwie zu beeinflussen.

Die Kirgisen sind ein echtes Reitervolk und ohne Pferde kaum denkbar: sie wachsen mit dem Füllen auf und leben mit dem Rosse bis zu ihrem Tode. Auf seinem Sattel sitzend, verrichtet der Kirgise alle Geschäfte, und das Pferd gilt als das eines Mannes einzig würdige Reitthier. Männer und Frauen reiten in derselben Weise, nicht wenige Frauen auch mit demselben Geschick wie die Männer. Die Haltung des Reiters ist eine lässige, möglichst bequeme, für das Auge des Beobachters nicht gerade ansprechende. Gar nicht selten stürzt er aus dem Sattel; denn er achtet wenig auf Weg und Steg und überläßt es dem Pferde, solchen sich zu suchen; ist er jedoch achtsam, so reitet er jeden Weg, welchen ein Einhufer überhaupt betreten kann, ohne alles Bedenken, ebenso, wie er sich nicht besinnt, das wildeste, unbändigste Pferd zu besteigen. Schwierige Wege kennt er nicht. So lange er im Sattel sitzt, muthet er seinem Reitthiere das Unglaublichste zu, sprengt im Galopp bergauf oder bergab, über festen Boden wie durch Sumpf, Morast und Wasser, klettert schwindellos und ohne alle Furcht an Wänden empor, welche jeder andere Reiter als durchaus unzugänglich erachten würde, und blickt vom Sattel aus kühl in Abgründe zur Seite des Ziegenpfades, auf welchem den gebirgskundigen Fußgänger ein Frösteln überkommen will. Sobald er aber abgestiegen ist, hält er alle durch lange Erfahrung gewonnenen Regeln behufs Schonung eines angestrengten Pferdes fest und behandelt jetzt sein Roß ebenso sorgsam wie beim Reiten rücksichtslos. Bei festlichen Gelegenheiten führt er zum Vergnügen der Zuschauer allerlei Kunststücke im Sattel aus, stellt sich in den über letzteren gekreuzten Steigbügeln [362] auf und sprengt stehend davon, hält sich mit den Händen am Sattel oder in den Steigbügeln fest und reckt die Beine senkrecht in die Luft oder nimmt im Reiten Gegenstände vom Boden auf. Das Wettrennen erachtet er als die höchste aller Vergnügungen und verherrlicht durch ein solches jede Festlichkeit.

Zum Wettrennen, „Baika“ genannt, werden in der Regel nur die edelsten Pferde und unter ihnen wiederum nur Paßgänger zugelassen. Die zu durchreitenden Strecken sind sehr bedeutend, nie unter zwanzig, nicht selten bis vierzig Kilometer lang; man reitet nach einem bestimmten Punkte der Steppe, einem bekannten Hügel, einem Grabmale z. B., und kehrt auf demselben Wege zurück, den man gekommen. Knaben von sieben, acht, höchstens zehn Jahren sitzen im Sattel und lenken die Rosse mit bemerkenswerthem Geschick. Den zurückkehrenden Pferden reitet man langsam entgegen; dem Paßgänger, welcher die meiste Aussicht hat, zu gewinnen, leistet man eine Hilfe, „Guturma“ genannt, indem man sich an seine Seite drängt, ihm das reitende Kind abnimmt, sodann Zügel, Steigbügel, Mähne und Schweif zu fassen sucht und ihn mehr zum Ziele schleift als leitet. Die Preise, welche ausgesetzt werden, bestehen in sehr verschiedenen Dingen, werden aber sämmtlich nach Pferdeswerth berechnet. Zwei- bis dreitausend Rubel Silber als erster Preis sind nichts Seltenes; reiche Familien setzen bis einhundert Pferde aus. Auch junge Mädchen kommen als Siegespreis vor in der Weise, daß der Gewinnende sie heirathen kann, ohne das übliche Brautgeld entrichten zu müssen.

Unter die ritterlichen Uebungen der Kirgisen muß auch die Jagd gezählt werden. Dem aufgespürten Wolfe folgt der kirgisische Jäger mit solchem Eifer und solcher Ausdauer, daß er es wenig achtet, wenn ihn die bei scharfem Reiten doppelt fühlbar werdende Kälte ernstlich gefährdet, d. h. er sich Gesicht und Hände erfriert; und wenn sein Pferd unter ihm nicht versagt, schmettert er zuletzt sicherlich die gewichtige Keule auf das Haupt des Räubers hinab. Noch mehr als solche Hetze liebt er die Jagd mit Adler und Windhund auf den Wolf oder den Fuchs. Wie seine Vorfahren versteht er, den Steinadler zu zähmen, zieht, ihn auf der stark beschuhten Hand tragend und diese auf ein am Sattel befestigtes Holzgestell stützend, zu günstig gelegenen, weite Umschau ermöglichenden Höhen empor und läßt durch seine Genossen die vor seinem Auge liegende Steppe absuchen. Einer besonderen Abrichtung des Raubvogels bedarf es nicht; alles, was gelehrt und gelernt werden muß, besteht darin, daß der Adler, welcher in frühester Jugend dem Neste entnommen und von dem Jäger selbst geatzt wurde, auf den Ruf zu seinem Herrn zurückkehrt, ererbte Anlage thut das übrige. Sobald die Jagdgenossen einen Fuchs aufgetrieben haben, nimmt der Jäger dem Stoßvogel Haube und Fesseln ab und wirft ihn in die Luft. Der Adler breitet seine Fittiche, beginnt zu kreisen, steigt in Schraubenlinien höher und höher, erblickt den gehetzten Fuchs, fliegt ihm nach, stürzt sich mit halb eingezogenen Flügeln und weit vorgestreckten Fängen schief auf ihn hernieder und schlägt ihm die Fänge in den Leib. Der Fuchs seinerseits dreht wüthend den Kopf, um den Feind mit seinem scharfen Gebisse zu packen, und der Adler ist verloren, wenn es gelingt. Aber in demselben Augenblicke, in welchem der Fuchs sich wendet, löst der Adler die Fänge, und einen Augenblick später umklammern sie das Gesicht des Opfers. Jauchzender Zuruf des heransprengenden Herrn ermuntert den Vogel zur Standhaftigkeit, und wenige Minuten später liegt der Fuchs, gefällt von dem zur Hilfe gekommenen Jäger, verendend am Boden. Mancher Adler freilich büßt beim ersten Versuche seine Kühnheit mit dem Leben; gelingt ihm aber der erste Angriff, so eignet er sich bald solche Fertigkeit an, daß er auch auf den Wolf geworfen werden kann. Diesem gegenüber benimmt er sich vom Anfange an, wenn auch genau nach denselben Regeln, so doch merklich vorsichtiger; schon die Größe des Wildes läßt ihn erkennen, daß er es mit einem noch ungleich gefährlicheren Gesellen zu thun hat. Doch auch ihn lernt er bewältigen, und ebenso hoch wie der seines Herrn steigt sein eigener Ruhm unter allem Volk, und mit dem Ruhme sein Preis. Ein Adler, welcher den Fuchs schlägt, wird mit dreißig bis vierzig Rubeln, einer, welcher den Wolf zu besiegen weiß, mit dem Doppelten und Dreifachen bezahlt, falls er seinem Herrn überhaupt feil ist.

Gilt es schon bei der Jagd mit dem Adler, alle Reitkunst zu bethätigen, so ist dies doch noch mehr der Fall, wenn der Kirgise mit seinen Windhunden auf Antilopen auszieht. Wie Pfeile stürmen die ziemlich langhaarigen Hunde dahin, wenn sie der behenden Wiederkäuer ansichtig geworden sind, und über Stock und Stein jagen die Reiter ihnen nach, bis sie mit ihnen das flüchtige Wild eingeholt haben.

Auch bei Treibjagden im Gebirge verlassen die Kirgisen ihre Pferde nicht. Es sah prächtig aus, als die Treiber, welche uns die Wildschafe zu Schuß bringen wollten, ihren halsbrecherischen Ritt begannen. Hier und da, auf den höchsten Spitzen wie in den Einsenkungen, Thälern und Schluchten zwischen ihnen erschien und verschwand einer der Reiter nach dem andern, bald scharf und klar gegen das Gewölk sich abzeichnend, bald wiederum zwischen den Blöcken sich verlierend, in dem Gestein der Halden gleichsam ausgehend. Keiner stieg vom Pferde, keiner besann sich auch nur einen Augenblick, irgend welchen Weg einzuschlagen; es war ihnen leichter, im Gebirge zu reiten als zu gehen.

Mit der Kühnheit paart sich die Ausdauer des Jägers. Nicht allein auf dem Rücken des Pferdes, sondern auch im Anschleichen und Belauern des Wildes entwickelt er eine außerordentliche Beharrlichkeit. Daß er tagelang einer Fährte folgt, will bei seiner Lust zu reiten wenig besagen; aber er kriecht auch mit der Luntenbüchse, welche er noch ebenso häufig führt wie das Steinschloßgewehr, wie eine schleichende Katze halbe Werste weit auf dem Boden dahin, lauert stundenlang in Sturm und Wetter auf ein Wild, bis er zum Schusse gekommen ist. Niemals schießt er weit und niemals, ohne die Büchse auf die an ihr befestigte Gabel zu legen; aber er zielt sicher und weiß seine Kugel auf die rechte Stelle zu senden.

So ausdauernd und unermüdlich als Reiter, Jäger und Hirt der Kirgise ist, so ungern übernimmt er anderweitige Beschäftigungen. Auch das Feld bebaut er, aber in höchst liederlicher Weise, und niemals mehr als unbedingt erforderlich. Die Arbeit auf der Scholle dünkt ihm unrühmlich wie jede andere Thätigkeit, welche nicht mit der Viehzucht und der Ausnutzung der Herdenthiere zusammenhängt. Er bethätigt ein außerordentliches Geschick, das Wasser zur Ueberrieselung des Hundes zu verwenden, besitzt ein höchst geübtes Auge für die Oertlichkeit und weiß auch ohne Meßtisch und Wasserwage, wie er die Wassergräben zu ziehen hat. Allein nur, so lange er noch Knabe ist, läßt er sich zu solchen Arbeiten willig finden, und hat er es erst einmal zu Besitz gebracht, rührt er gewiß weder Hacke noch Schaufel mehr an. Noch weniger liebt er es, irgend ein Handwerk zu treiben. Er versteht Leder zu bereiten und allerlei Riemen- und Sattelwerk daraus zu fertigen, dasselbe auch mit Eisen- oder Silberschmuck sehr zierlich auszuputzen, selbst Messer und Waffen zu schmieden und überhaupt alle ihm nöthigen Geräthe herzustellen; aber er übt solche Arbeit niemals mit Freude, sondern stets nur mit Widerstreben aus. Und doch ist er kein fauler und leichtfertiger, sondern ein fleißiger und zuverlässiger Arbeiter, und wer seine geschickte Hand gewonnen, hat selten Ursache, mit ihm unzufrieden zu sein.

Viel höher als leibliche, schätzt er geistige Arbeit. Sein reger und lebhafter Geist verlangt Beschäftigung; er liebt daher nicht bloß leichte, sondern auch ernste Unterhaltung aller Art. Er gefällt sich in Gesprächen mit anderen seines Stammes und kann durch seine Redseligkeit, welche nicht selten zur Schwatzhaftigkeit wird, dem Fremden geradezu lästig werden. Mit dieser Gesprächigkeit hängt rege Wißbegier, welche freilich ebenso oft in Neugier ausartet, aufs innigste zusammen; denn die „rothe Zunge“ will und darf nicht feiern. Wird irgendwo etwas verhandelt, was ein Kirgise verstehen kann, so nimmt er keinen Anstand, bis auf die Jurte sich heranzudrängen und das zum Lauschen gespitzte Ohr an die Wand der Jurte zu drücken, um keine Silbe zu verlieren. Ein Ereigniß, welches über das Alltägliche auch nur um Haaresbreite hinausgeht, eine Mittheilung, eine Erzählung für sich zu behalten, ist für den Kirgisen ein Ding der Unmöglichkeit. Niemals reiten ihrer zwei schweigend nebeneinander her, und ob die Reise tagelang währe; stets, ununterbrochen haben sie miteinander zu schwatzen, sich gegenseitig Mittheilungen zu machen. Gewöhnlich genügt es ihnen noch gar nicht, selbander zu reiten; es müssen ihrer drei, vier sein, welche gemeinschaftlich unter eifrigen Gesprächen des Weges dahinziehen; und diese Art zu reiten ist so tief bei ihnen eingewurzelt, daß ihre Pferde ganz von selbst sich aneinander drängen, daß der Europäer sie zügeln muß, um solches zu verhindern. In einer mit Kirgisen erfüllten Jurte summt es wie in einem Bienenschwarm, weil jeder zu Worte kommen will und alles thut, um die Rede an sich zu reißen.

[363] Eine gute Folge solcher unter Männern unerhörten Redseligleit ist die Fertigkeit der Kirgisen, ihre Sprache zu handhaben. Hierin scheinen sich alle gleich zu sein, die Reichen wie die Armen, die Vornehmen wie die Geringen, die Gebildeten wie die Ungebildeten. Ihre tonreiche und klangvolle, wenn auch harte Sprache, eine Mundart der tatarischen, ist ungemein ausdrucksvoll. Jedes Wort wird vollständig ausgesprochen, jede Silbe richtig betont, so daß man meint, nach dem Klange beurtheilen zu können, um was es sich handelt. Die Redeweise ist sehr lebhaft, der Tonfall des Redesatzes dem Inhalte entsprechend, Rede und Redepause genau abgemessen, so daß ein Gespräch etwas abgebrochen klingt, obschon der Fluß der Rede keinen Augenblick lang stockt. Ein für sich selbst sprechender Gesichtsausdruck und lebhafte Handbewegungen erläutern außerdem die Worte. Fesselt ein Gegenstand in besonderer Weise, so steigert sich die Lebendigkeit der Redenden bis zur Hitze, so daß man meint, auf Worte möchten Tätlichkeiten folgen. Doch endet auch das hitzigste Wortgefecht regelmäßig in Ruhe und Frieden.

Daß unter solchen Leuten der Barde zur Geltung gelangt, ist begreiflich. Ein Sänger, ein Gelegenheitsdichter darf bei keinem Feste fehlen. Seine Gestaltungsgabe braucht nicht eben hervorragend zu sein, seine Rede muß nur ohne Unterbrechung fließen und in ein bestimmtes, jedem geläufiges Versmaß sich fügen, um ihn zum Dichter zu stempeln. Doch verfügt jeder kirgisische Barde immerhin über einen nicht eben kärglichen Schatz von dichterischen Gedanken, welche in Worte zu kleiden ihm nicht schwer fällt. Das Hirten- und Wanderleben, so gleichförmig es im ganzen verfließen mag, hat seine Reize, seine tönenden Saiten, welche nur angeschlagen zu werden brauchen, um die Herzen der Hörer zu erheben. Viele Sagen und Ueberlieferungen, welche in allen lebendig sind, bieten jederzeit geeigneten Stoff zur Ausfüllung von Gedankenlücken. Jeder Barde begleitet seine Rede mit der dreisaitigen kirgisischen Zither und verbindet die einzelnen Sätze durch Zwischenspiele, welche so lange währen, bis der neue Vers in die rechte Form gegossen ist. Je rascher, je gewandter dies geschieht, um so höher steigt der Ruhm des Sängers. Regt sich aber vollends im Herzen einer Frau dichterischer Drang, so ist solche Frau der allgemeinsten Bewunderung sicher, und läßt sie sich herbei, mit einem Manne im Zwiegesange zu wetteifern, so wird sie von der begeisterten Menge über alle anderen ihres Geschlechts erhoben.

Ungleich weniger günstig als für die Dichtung ist die weite Steppe für regelrechten Unterricht. Daraus erklärt sich zur Genüge, daß die Kenntniß der Schrift unter den Kirgisen ebenso selten wie das Schriftthum gering ist. Nur die Söhne der Reichsten und Vornehmsten des Volkes erhalten Unterricht im Lesen und Schreiben. Ist den beiden von der Regierung gegründeten Schulen in Ust-Kamenogorsk und Saisan werden allerdings auch, in ersterer Stadt sogar ausschließlich, kirgisische Knaben unterrichtet, allein die Wirksamkeit beider Anstalten erstreckt sich nicht bis in die innere Steppe. Hier lernt der Knabe lesen und schreiben, wenn der Zufall will, daß er mit einem Mollah zusammenkommt, welcher ebenso Lust zum Lehren wie der Knabe Trieb zum Lernen empfindet. Auch dann beschränkt sich der Unterricht auf die einfachsten Kenntnisse, arabische Schriftzeichen lesen und nachbilden zu können. Der Inhalt des vornehmsten, wenn nicht ausschließlichen Lehrbuches, des Koran, erschließt sich in der Regel nicht einmal dem Mollah selbst; er liest die Suren, ohne deren Inhalt zu verstehen. Ich habe nur einen einzigen Kirgisen, und zwar einen Sultan, kennen gelernt, welcher Arabisch verstand; alle übrigen, welche sich durch ihre Kenntniß der Worte der Schrift über andere ihres Volkes erhoben und als getreue Anhänger des Islam regelmäßig die fünf vorgeschriebenen Gebete sprachen, verstanden im günstigsten Falle den Inhalt der Worte des Rufes zum Gebete und der ersten Sure des Koran; alles übrige sprachen sie zwar mit dem allen Mohammedanern anerzogenen Ernste, aber ohne Verständnis nach.

Das Bewußtsein der Kraft und Gewandtheit, der Geschicklichkeit im Reiten und Jagen, der dichterischen Begabung und Regsamkeit des Geistes überhaupt, das Gefühl der Selbständigkeit und Freiheit, welches die weite Steppe hervorruft, verleiht dem Auftreten des Kirgisen Sicherheit und Würde. Der Eindruck, welchen er auf den unbefangenen Beobachter macht, ist daher ein sehr günstiger, und dieser Eindruck steigert sich um so mehr, je genauer man unseren Steppenbewohner kennen lernt. Geweckten Geistes, klug, lebhaft, verständig, so weit es sich um ihm bekannte Dinge handelt, gutmüthig, dienstfertig und zum Helfen bereit, artig und zuvorkommend, gastlich und barmherzig, stellt er sich als ein in seiner Art vortrefflicher Mensch dar, dessen Schattenseiten man um so leichter übersieht, je unbefangener man ihm gegenübertritt. Er ist höflich, ohne knechtisch zu sein, behandelt den über ihm Stehenden mit Achtung, aber nicht kriechend, den ihm Untergebenen freundlich, aber nicht geringschätzig. Auf ihm gestellte Fragen antwortet er meist erst nach kurzem Besinnen, dann aber ruhig und klar, und seine scharf betonte Sprechweise verleiht seiner Antwort den Ausdruck der Bestimmtheit. Er ist gefällig nach allen Seiten hin, aber mehr aus Ehrgeiz als aus Hoffnung auf Gewinn, mehr in der Absicht, Lob und Beifall, als in der Voraussetzung, Geld und Geldeswerth zu ernten.

Im Einklange mit solchem Ehrgeize steht, daß der Vornehme auf seine Abkunft und Familie stolz ist, sich seiner Ahnen rühmt und unter Umständen seinen Stammbaum bis Chingis-Chan zurückführt, daß er nur ebenbürtig sich vermählt und keinen Makel an seiner Ehre duldet, keine diese Ehre kränkende Beleidigung verzeiht. Hiermit im Einklange steht aber auch eine Eitelkeit, wie man sie bei ihm kaum erwarten sollte. Doch unterscheidet er sich von einzelnen schönen und jungen Herren unseres Volkes wesentlich dadurch, daß er niemals zum Gecken ausartet. Er rühmt sich der ihm vom Geschick wie von der Natur verliehenen Gaben offen und ohne Hehl; solches Rühmen aber steht ihm natürlich und wird nicht durch absichtlich sich hervordrängende Bescheidenheit verzerrt. So weit seine Mittel gestatten, ist seine Kleidung reichverziert, Rock und Beinkleider mit Tressen, die Pelzmütze mit der Uhufeder. Daß die Frauen mehr noch als die Männer ihre Reize ins hellste Licht zu setzen suchen, erscheint selbstverständlich; und es hat mich daher auch durchaus nicht gewundert, zu erfahren, daß sie mit dem Safte einer Wurzel ihren Wangen ein ebenso zartes und duftiges wie haltbares Roth auflegen, zu Deutsch: sich schminken.

Willig fügt sich der Kirgise in die Sitten und Gebräuche seines Volkes. Seine Bildung und Gesittung bethätigt er hauptsächlich dadurch, daß er die aus unbestimmbarer Zeit auf ihn überkommene und durch den Islam wesentlich beeinflußte Gebräuchlichkeit streng befolgt. Dies bedingt natürlich Förmlichkeit und Umständlichkeit im gegenseitigen Verkehre.

Schon die gegenseitige Begrüßung geschieht in einer sehr förmlichen, von allen festgehaltenen, also offenbar genau bestimmten Weise. Wenn zwei Kirgisentrupps zusammenkommen, vergeht stets geraume Zeit, bevor jeder dem andern seinen Gruß gespendet hat. Gegenseitig und gleichzeitig legen sie ihre Rechte auf die Herzgegend, die Linke gegen die rechte Hand des anderen, worauf beide die rechte von der Brust wegziehen und mit der linken vereinigen, so daß jetzt alle vier Hände auf einen Augenblick sich berühren. Gleichzeitig mit der Umarmung sprechen beide das arabische Wort „Amán“ (Friede) aus, wogegen sie vor dem Umfassen sich den Gruß aller Mohammedaner: „Salám alëik“ oder „alëikum“ (Heil sei mit Dir oder Euch!) zu spenden pflegen. In dieser Weise begrüßt einer alle und jeder den andern; beide sich begegnenden Haufen bilden daher zwei Reihen, und einer nach dem andern läuft, um der jetzt noch gebannten „rothen Zunge“ baldmöglichst volle Freiheit zu gewähren, rasch längs solcher Reihe dahin. Das kürzere Verfahren, welches jedoch nur bei sehr zahlreichen Versammlungen angewendet wird, besteht darin, sich nur die Hände entgegenzustrecken und diese zusammenzuschlagen.

Besuchen sich Kirgisen im Aul (Dorf), so findet vor der Begrüßung noch eine andere Förmlichkeit statt. Angesichts der Jurten (Zelte) zügeln die Ankömmlinge ihre Rosse, lassen sie im Schritt gehen und halten endlich still. Auf dieses Zeichen kommt man ihnen vom Aul aus entgegen, begrüßt, sie und geleitet sie nunmehr zu den Jurten, welche die Frauen inzwischen durch Ausbreiten der werthvolleren Teppiche geschmückt haben. Fremde, im Aul noch unbekannte Gäste müssen sich vor der Begrüßung einem Verhöre nach Namen, Stand und Herkunft unterwerfen; ausgenommen und gastlich bewirthet aber werden sie unter allen Umständen, denn Gastfreundschaft übt der Kirgise gegen jedermann, ohne Unterschied des Standes oder Glaubens, obschon er Vornehme stets bevorzugt. Der Gast tritt mit dem üblichen Gruße ins Innere der Jurte und setzt sich, wenn er dem Wirthe an Ansehen gleich steht, auf dem Ehrenplatze nieder, während der Geringere dem Vornehmen gegenüber sich bescheiden zurückhält und in knieender Stellung auf den Teppich niederläßt.

[364] Zu Ehren eines angesehenen Gastes läßt der Wirth ein Schaf schlachten, vorher aber vor oder in die Jurte bringen, damit der Gast es segne. Dann kommen alle Nachbarn herbei, um an dem leckeren Mahle theilzunehmen. Kopf und Bruststück des Hammels werden am Spieße gebraten, die übrigen Fleischstücke in einem Kessel gekocht und dem Gaste in einer Mulde vorgesetzt. Der Gast wäscht sich die Hände, schneidet das Fleisch von den Knochen, taucht es in die stark gesalzene Brühe und sagt zu dem Wirthe, welcher sich bisher nicht neben ihm niederließ: „Nur durch den Wirth erlangt das Fleisch Schmackhaftigkeit; setzet Euch!“ Der Wirth aber erwidert:. „Viel Dank, viel Dank; esset nur!“ und willfahrt dem Gaste zunächst noch nicht. Dieser aber schneidet ein Stück von den falschen Rippen ab, ruft den Wirth herbei und steckt ihm den Bissen in den Mund; hieraus schneidet er ein anderes Stück ab, legt es auf eine Mulde und reicht es der Hausfrau. Nunmehr endlich setzt sich der Wirth an die Seite des Gastes; aber auch jetzt noch vertheilt nicht jener, sondern dieser die Speisen an die Theilnehmer am Mahle. Der Gast schneidet das Fleisch in mundrechte Stücke, mischt sie mit Fett, taucht je drei Bissen in die Brühe und steckt sie einem der Schmausenden nach dem andern in dem Mund. Beleidigung des Gebers würde es sein, wollte der Empfänger die Gabe nicht sogleich hinunterschlucken, möge er auch, falls die Bissen zu groß sind, dabei so schrecklich würgen müssen, daß sein Gesicht blau unterläuft und er der Hilfe der Nachbarn, welche dem also Bedrängten zur Erleichterung des Schlingens mit der Faust auf den Rücken schlagen, dringend bedarf. Dagegen darf der Geber auch niemals mehr als drei Bissen reichen; denn überschreitet er diese Anzahl, stopft er einem gleichzeitig fünf Fleischstücke in den Mund und erstickt der zum schleunigsten Hinabwürgen verurtheilte Mann infolge der allzu großen Gabe, so muß der Spender dies mit hundert Pferden an die Familie des Erstickten büßen, wogegen er frei ausgeht, wenn einer der Schmausenden an drei ihm gereichten Bissen zu Grunde geht. Nachdem das Fleisch verzehrt, reicht der Gast die Schale mit der Brühe umher, und jeder der Tischgenossen trinkt von ihr nach Bedarf oder Verlangen. Zum Schlusse der Mahlzeit, jeddch nicht bevor sich jeder die Hände gewaschen, wird von einem wohlhabenden Wirthe stets gegohrene Stutenmilch, der Kumis, gereicht, und zwar mit ersichtlicher Ehrfurcht vor diesem beliebtesten Getränk des Kirgisen. Wer bisher noch nicht am Mahle theilnahm, kommt jetzt herbei, um an diesem Nektar sich zu laben. Man trinkt bis zur Berauschung; denn der Kirgise leistet im Trinken seines überaus geschätzten Milchweines ebenso viel wie im Essen und ist in dieser Beziehung nichts weniger als mäßig.

Noch weit umständlicher als bei einfachen Besuchen sind die Gebräuche, welche bei allen wichtigen Familienereignissen geübt werden, insbesondere die Hochzeits- und Begräbnißfeierlichkeiten. Brautwerbung und Hochzeit, Begräbniß und Erinnerungsfeier an den Verstorbenen geben zu einer wahren Kette von Festlichkeiten Veranlassung.

Wis bei allen Mohammedanern wirbt der Vater für seinen Sohn, und wie unter allen Bekennern des Islam zahlt er an den zukünftigen Schwäher ein Brautgeld von sehr verschiedener, oft sehr bedeutender Höhe. Ein Brautwerber, welcher sich dadurch als solcher zu erkennen giebt, daß er ein Hosenbein über dem Stiefel, das andere in demselben trägt, erscheint in der Jurte, in welcher eine Tochter der Reife entgegenblüht, und trägt im Namen des Vaters eines heirathslustigen Jünglings sein Anliegen vor. Ist der Brautvater einverstanden, so verlangt er die großen Werber, d. h. den Auftraggeber selbst, die Gemeindeältesten und Vornehmsten aus dessen Aul, um mit ihnen zu verhandeln. Sie erscheinen und halten, wie üblich, vor dem Aul ihre Rosse an. Ein Abgesandter des Brautvaters reitet ihnen entgegen, begrüßt sie feierlich und förmlich und geleitet sie nach der für sie bestimmten Und geschmückten Festjurte, woselbst sie zunächst mit Kumis bewirthet werden. Um zu ihrer Unterhaltung beizutragen, erscheint ein Barde und hebt seinen Gesang an. Reiche Beifallspenden lohnen ihn, großartige Versprechungen feuern ihn zu weiterem Gesange an. Man preist die Tiefe seiner Gedanken, die Vollendung seines Vortrages; man verspricht ihm ein Pferd oder auch eine stattliche Summe eingemünzten Silbers als Sangeslohn. Abwehrend betont der Hausherr das einzig und allein ihm zustehende Recht, den Sänger zu lohnen; aber nur um so bestimmter versprechen die Gäste, denn jeder weiß, daß der Gastgeber die Erfüllung ihrer Versprechen nicht gestatten würde. Nachdem der Sänger geendet, beginnt eine lebhafte Unterhaltung zwischen dem Wirthe, seinen Nachbarn und Gästen; man spricht über die verschiedensten Dinge, nur nicht über die Ursache und den Zweck des Kommens, bricht endlich auf und reitet wieder heim.

Am anderen Morgen erwidert der Brautvater und sein Gefolge den Besuch, wird von dem zukünftigen Schwäher ebenso begrüßt und ebenso bewirthet und verlangt endlich, die Mutter des Jünglings zu sehen. Sofort begiebt man sich gemeinschaftlich in die Jurte der Hausfrau und begrüßt sich hier ebenso feierlich wie artig. Unmittelbar darauf bringt der Vater des Freiers das gebratene Bruststück eines Schafes herbei, schneidet Stücke zur Bewirthung der Gäste ab und begleitet das Zerlegen des am höchsten geschätzten Theiles eines Schafes mit den Worten. "Diese Schafbrust sei mir ein Pfand, daß unser Vorhaben zu gutem Ende gelangen möge“, reicht sodann seinen Gästen die leckeren Bissen und eröffnet damit die Verhandlungen über die Höhe des Kalüm oder Brautgeldes. Als Einheit der Rechnung gilt eine Stute von drei bis fünf Jahren; ein Paßgänger oder ein Kamel wird fünf Stuten gleich gerechnet; sechs oder sieben Schafe oder Ziegen haben den Werth einer Stute.

Der Brautvater verlangt als Brautgeld 77 Stuten, läßt aber mit sich handeln und geht, je nach seinem und des Schwähers Vermögen, zuerst auf 57, sodann 47, 37, 27, sind beide unbemittelt, auch noch weiter herab, bis man sich geeinigt hat. Sobald die Verhandlungen beendigt sind, erklärt der Brautvater das Verlöbniß für geschlossen, erhebt sich, um heimzukehren, und läßt ein Geschenk in oder vor der Jurte zurück. Der Vater des Bräutigams aber sendet, falls er irgend kann, mit dem abziehenden Schwäher die Hälfte des Kalüm zu dessen Jurte und zahlt auch die andere Hälfte so rasch als möglich ab.

Vierzehn Tage nach Entrichtung des Kalüm darf der Bräutigam zum ersten Male die ihm geworbene Braut besuchen. Unter möglichst zahlreicher Begleitung ihm befreundeter Altersgenossen und unter Führung eines mit allen Gebräuchen wohlvertrauten älteren Freundes seiner Familie bricht er auf, reitet bis in die Nähe des Auls seiner Braut, steigt hier vom Pferde, schlägt ein kleines Zelt auf und zieht sich in dasselbe zurück oder verbirgt sich anderweitig. Seine Begleiter aber ziehen weiter, begeben sich, nachdem man sie feierlich bewillkommt hat, in den Aul und vertheilen unter munteren Scherzreden allerlei kleine Geschenke, Ringe, Halsbänder, Leckereien, Band und buntes Zeug, unter die sich herandrängenden Frauen und Kinder. In Gemeinschaft mit ihren Altersgenossen beiderlei Geschlechts betreten sie die Festjurte. Der Wirth bietet Speise und Getränk, zuerst eine Schafsbrust, welche er mit den bereits erwähnten Worten zerschneidet, sodann kleine, in Fett geschmorte Stücke von Herz, Leber und Nieren des Schafes, stellt das Gericht vor den würdigen Alten hin, und dieser verfährt nach Gewohnheit und Recht des Gastes, schmiert aber dem ersten Jünglinge, welchen er mit einigen Bissen bedenkt, während er diese ihm in den Mund stopft, zugleich auch die fettige Brühe ins Gesicht. Damit giebt er das Zeichen zum Beginn jugendlichen Scherzes, in welchem fortan Jünglinge, Jung- und junge Frauen wetteifern. Ein sehr beliebter Scherz der Mädchen besteht darin, die Kleider der Jünglinge mit raschen Stichen an den Teppichen, auf welchen sie sitzen festzunähen.

Nach der Mahlzeit gönnt man den jugendlichen Gästen eine kurze Erholung, aber nur, um ihnen Zeit zu lassen, ihre Gedanken zu sammeln. Dann fordern die Mädchen und Frauen die Jünglinge zum Wettgesang auf, weisen ihnen den Ehrenplatz an, setzen sich ihnen gegenüber und eine von ihnen beginnt mit ihrem Gesange. Ist der von ihr angesungene Jüngling nicht schlagfertig, so geht es ihm übel. Zwickend und kneipend fällt die lustige Schar über ihn her, vertreibt ihn aus der Jurte und überliefert ihn den jungen Männern des Auls, welche vor der Jurte auf Opfer lauern. Ein Wassergefäß wird über den beklagenswerten Stümper ausgegossen, und er dann, gebadet und beschämt, in die Jurte zurückgeführt, um einer weiteren Prüfung unterworfen zu werden. Wenn er auch diese nicht besteht, verfällt er der Strafe, als Weib verkleidet und so an den Pranger gestellt zu werden. Wehe ihm, wenn er sich empfindlich zeigt, er würde einen qualvollen Tag verleben. Heute führt der Scherz die unbedingte Herrschaft und duldet keinen Murrkopf.

[378]
Während dieser Scherzspiele sitzt die Braut im hinteren Theile der Jurte, durch einen Vorhang verborgen, ohne sich zu zeigen. Diese Vereinsamung benützen die jungen Leute des Auls, um sie, während der Wettgesang die Freunde des Bräutigams in Athem hält, zu stehlen, d. h. durch eine zwischen den aufgedeckten Filzen der Jurte geschaffene Lücke ins Freie zu ziehen, auf ein Roß zu heben, mit der nicht Widerstrebenden der Jurte eines Verwandten zuzueilen und hier sie den bereits harrenden älteren Frauen zu übergeben. Ist der Raub gelungen, so fordert der Räuber die Jünglinge auf, die Braut zu suchen und sie aus den Händen der Frauen zu lösen. Eilends bricht die ganze Gesellschaft auf und bittet die Hüterinnen der Geraubten, diese zurückzugeben. So schön gesetzt ihre Worte aber auch sind, die Bitte wird abgeschlagen. In der eines Theiles ihrer Filzdecken entkleideten Jurte sitzt die Braut vor aller Augen; ein gewaltsames Vorgehen aber ist unmöglich, und die Jünglinge beginnen daher in Güte zu unterhandeln. [379] Die Frauen verlangen neun verschiedene, von den Jünglingen selbst zubereitete Speisen, lassen sich endlich jedoch herbei, anstatt der Gerichte neun Geschenke anzunehmen, und liefern nunmehr endlich die Braut unter der Bedingung aus, daß sie nach ihres Vaters Jurte zurückgebracht werde.

Inzwischen sitzt der Bräutigam wartend in seinem Zelte. Ganz allein war er freilich nicht; denn einige junge Frauen hatten sich schon beim Erscheinen seiner Genossen aufgemacht, um ihn zu suchen, hatten ihn natürlich auch gefunden und waren von ihm mit ehrfurchtsvollem Gruße, „Taschim“ genannt, empfangen worden. Der Jüngling hatte vor ihnen so tief sich verneigt, daß er mit seinen Fingerspitzen den Boden berührte, sich sodann langsam erhoben und die Hände am Schienbeine emporgleiten lassen, bis er zu voller Höhe sich aufgerichtet; die Frauen hatten solche Huldigung angenommen, ihm Gesellschaft geleistet, Speise und Trank gereicht und durch Scherzreden die Zeit verkürzt, nicht aber gestattet, daß er das Zelt verlasse. Erst auf vieles Bitten und nicht vor Sonnenuntergang wurde ihm die Erlaubniß, im Aul und vor der Jurte der Braut ein kleines Lied singen zu dürfen.

Er besteigt sein Roß, reitet in den Aul, begrüßt mit Gesang dessen Bewohner, wendet sich zur Jurte der von ihm Erwählten und klagt ihr in selbsterdachtem oder erborgtem Liede sein Sehnen, sein Leid:

„O Mädchen, Du brachtest mir Leiden und Kummer,
Dreimal schon kam ich vergeblich zu Dir,
Du wolltest nicht wach sein, zu tief war Dein Schlummer,
Wolltest nicht hören, nicht aufsehn zu mir.
Doch spät in der Nacht, wenn zur Ruh die Kamele
Eng an die härene Fessel man reiht,
Dann wird sich erlaben die lechzende Seele,
Dann wird sich wenden mein Sehnen, mein Leid.
Seh’ Dir ich ins Auge, wird wieder mir kommen,
Was ich verloren, der Muth und die Lust,
Die Kraft der Seele, die Du mir genommen,
Mit Wunsch und Sehnen erfüllend die Brust.
Ich werde Dich bitten, mir Kumis zu reichen,
Als wäre ich durstig und trocken mein Mund,
Du läßt Dich erbitten, Du läßt Dich erweichen
Und machst mir das dürstende Herz gesund.
Und sollte mein Werben Dir nicht gefallen,
Mein Singen Dir willkommen nicht sein,
So kehr’ ich zurück mit den Freunden allen,
Sie sollen mir helfen, um dich zu frei’n.“

Ohne in die Jurte einzutreten, kehrt er wieder nach seinem Zelte zurück. Da erscheint in diesem eine alte Frau und verspricht, ihn zur Braut zu geleiten, falls er sie beschenke. Willfährig öffnet er seine Hand, und beide machen sich auf den Weg. Aber nicht ohne Hemmnisse erreichen sie das ersehnte Ziel. Eine andere Frau legt ihm eine Gabel, mit welcher der Firstring der Jurte erhoben wird, quer über den Weg; solchen Schlagbaum zu überschreiten, würde ein übles Vorzeichen sein, denn wer die Gabel gelegt hat, muß sie auch wieder wegnehmen. Ein Geschenk entfernt das Hinderniß; aber wenige Schritte weiter sperrt ein zweites den Pfad. Eine anscheinend todte Frau liegt auf dem Weg; doch eine zweite Gabe ruft die Todte ins Leben zurück und macht den Weg frei bis in die Nähe der Jurte.

Dort steht eine Gestalt und knurrt wie ein Hund. Sollte es heißen, daß die Hunde den Bräutigam, angeknurrt? Nimmermehr! Ein drittes Geschenk schließt den knurrenden Mund, und der Vielgeprüfte gelangt nunmehr unangefochten bis zur Jurte. Hier halten zwei Frauen die Thür zu, aber auch sie widerstehen einem Geschenke nicht; im Innern der Jurte halten zwei Frauen den Vorhang fest, auf dem bräutlichen Lager ruht eine jüngere Schwester der Braut; er löst sich von allen; die Jurte entleert sich; die Alte legt die Hände des Bräutigams in die der Braut und endlich sind beide vereinigt!

Unter Aufsicht der hilfreichen Alten, „Djenke“ genannt, besucht der Bräutigam zu wiederholten Malen die Braut, ohne sich dabei auch den Eltern des Mädchens vorzustellen, bis endlich der Rest des Kalüm bezahlt ist.

Jetzt läßt er durch den Werber bei dem Brautvater anfragen, ob er die Braut nunmehr in seine Jurte führen dürfe. Die Frage wird bejaht, und er erscheint wiederum mit großem Gefolge und vielen Geschenken vor dem Aul, schlägt in angemessener Entfernung wiederum sein Zelt auf, empfängt in ihm wiederum Frauenbesuch, verbringt die Nacht allein im Zelte und sendet von ihm aus am andern Morgen alle zu einer Jurte erforderlichen, von ihm zu liefernden Holztheile in den Aul. Daraufhin versammeln sich alle Bewohnerinnen der Jurten, um die von der Braut zu beschaffenden Filze flugs zusammenzunähen, soweit dies noch nöthig, und nunmehr beginnt man mit dem Aufstellen der neuen Jurte. Der beliebtesten Frau des Auls wird die Ehre zu theil, den Firstring emporzuheben und bis zur Einfügung der Sparren zu halten; die übrigen Frauen beschäftigen sich gemeinschaftlich mit der Aufstellung und Bekleidung des Gerüstes.

Während der Aufstellung der Jurte findet der Bräutigam sich ein; man bringt nunmehr auch die Braut herbei und fordert beide auf, von verschiedenen Seiten her der neuen Wohnung zuzuschreiten, um die große, für die Zukunft bedeutungsvolle Frage zu lösen, wer die Herrschaft in der Jurte führen soll. Die Herrschaft wird demjenigen Theile werden, welcher die Jurte zuerst erreicht.

Eines der vom Bräutigam mitgebrachten Schafe wird geschlachtet, eine Mahlzeit bereitet, um in der neuen Jurte verzehrt zu werden.

Während des Mahles umwickelt der neue Jurtenherr einen Beinknochen mit weißem Zeug und wirft ihn, ohne aufzublicken, durch die obere Oeffnung ins Freie. Gelingt der Wurf, so ist dies ein Zeichen, daß der Rauch aus dieser Jurte gerade aufsteigen werde zum Himmel, was Glück und Segen bedeutet für die Jurte und ihre Bewohner.

Nach dem zum Willkomm gereichten Imbisse begeben sich die Gäste in die Jurte des Brautvaters, woselbst ein zweites Mahl ihrer wartet. Für die in der neuen Jurte zurückbleibenden jungen Leute aber trägt die Brautmutter Speise auf; und reichlich und freigebig muß sie spenden, will sie nicht erleben, daß das junge Volk die Jurte über den Häuptern der Schmausenden abbricht und, zur Strafe der Kargheit, die verschiedenen Theile des leichten Gebäudes in alle Richtungen der Windrose entführt und in der weiten Steppe hinwirft. Nicht einmal die reichlich gefüllte Schüssel ist vor dem Uebermuthe der ausgelassenen Hochzeitsgäste sicher; einer entreißt sie der Wirthin und reitet mit ihr davon; andere versuchen, die Beute ihm abzujagen, und so währt das neckische Spiel fort, bis man zu fürchten beginnt, daß das Gericht erkalten möge.

Am nächsten Morgen verlangt der Brautvater zum erstenmal, den Bräutigam zu sehen, ladet ihn in seine Jurte ein, begrüßt ihn warm, rühmt sein Aussehen und seine Begabungen, wünscht ihm Glück zum Ehestande und überreicht ihm schließlich allerlei Geschenke, gleichsam eine Mitgift der Braut. Dies geschieht vor allen Hochzeitsgenossen, welche schon vor dem Eintreten des Bräutigams in der Jurte versammelt wurden. Zuletzt betritt diese auch die reichgeschmückte Braut. Befindet sich ein Mollah im Aul oder kann ein solcher herbeigeschafft werden, so spricht er den Segen über das junge Paar.

Und nunmehr singt man der Braut das Scheidelied, „Dschar dschar“ genannt, und sie erwidert mit thränenden Augen jeden Vers, jede Strophe dieses Abschiedsliedes mit der Klage der Scheidenden.

Der Wechselgesang verstummt; Kamele werden herbeigeführt, um die Jurte und alle Brautgeschenke, reich geschmückte Rosse, um Braut und Brautmutter nach dem Aul des Bräutigams zu tragen. Der junge Ehemann reitet dem hochzeitlichen Zuge voran und treibt mit dem ihm helfenden Genossen die Kamele zum schnellsten Laufe an, um Zeit zu gewinnen, die Jurte unter denselben Förmlichkeiten, welche beim ersten Aufrichten beobachtet wurden, in seinem Aul aufzustellen. Die Braut aber reitet, nachdem sie unter Thränen Abschied genommen vom Vater, den Verwandten und Gespielinnen, der Jurte und den Herdenthieren, dicht verschleiert in einem sie vollkommen verhüllenden, von den sie begleitenden Reitern getragenen Vorhange dahin, bis sie die Jurte, in welcher sie fernerhin als Herrin walten soll, erreicht hat. Der Schwiegervater, welcher inzwischen die Mitgift beschaut, gerühmt oder getadelt hat, ruft sie bald nach ihrer Ankunft in seine Jurte, und sie betritt diese mit drei so tiefen Verbeugungen, daß sie sich mit den Händen auf den Knieen stützen muß, um anzudeuten, daß sie dem Schwiegervater und der Schwiegermutter ebenso gehorsam sein werde wie ihrem Herrn und Gebieter. Ihr Gesicht bleibt während dieses Grußes verhüllt, wie fortan vor dem Vater und dem Bruder ihres Gatten und ein Jahr lang vor jedem Fremden. Später [380] verschleiert sie sich nur noch vor dem älteren Bruder ihres Gatten, vor niemand weiter, vor jenem auch nur deshalb, weil sie von ihm geehelicht werden müßte, wenn ihr Gatte sterben sollte.

Die Kinder werden von den Eltern stets mit der größten Zärtlichkeit behandelt und nie geschlagen, Das jeweilige Alter des Kindes bezeichnet man mit dem Namen eines Thieres; das Kind kann also „eine Maus, ein Murmelthier, ein Schaf, ein Pferd alt“ sein. Hat der Knabe das Alter von vier Jahren erreicht, so setzt man ihn zum ersten Male auf den Rücken eines ungefähr gleich alten Pferdes, welches reich geschirrt und mit einem in den Familien fortvererbten Kindersattel belegt wurde. Die beglückten Eltern versprechen dem zum erstenmal den schützenden Armen der Mutter entrinnenden, selbständig auftretenden kleinen Reiter allerlei schöne Dinge, rufen hierauf einen Diener oder willigen Freund herbei, übergeben ihm Roß und Reiterlein und beauftragen ihn, von einer befreundeten Jurte zur andern zu ziehen, um das frohe Ereigniß zur Kunde der Sippe und Freunde zu bringen. Wo das Knäblein erscheint, wird es freundlich begrüßt, mit Lob überhäuft und mit Leckereien beschenkt. Ein Fest in der Väterlichen Jurte verherrlicht den großen, wichtigen Tag.

Mit dem siebenten Jahre ungefähr beginnt der Unterricht des Kindes in allem, was ihm zu wissen noth thut. Der Knabe, welcher inzwischen ein tüchtiger Reiter geworden ist, lernt mit den weidenden Herdenthieren umgehen, das Mädchen sie melken und alle übrigen Geschäfte der Hausfrau verrichten; der Sohn reicher Eltern wird von einem Mollah oder doch einem des Lesens und Schreibens kundigen Manne in die Schule genommen und später in den Gesetzen des Glaubens unterwiesen. Noch vor Ablauf des zwölften Jahres ist sein Unterricht zu Ende und er selbst reif für das Leben.

Mehr noch als die Lebenden ehrt der Kirgise die Todten und deren Gedenken. Jede Familie ist zu den größten Opfern bereit, um für ein durch den Tod ihr entrissenes Familienglied eine großartige Leichen- und Erinnerungsfeier auszurichten; jeder, auch der ärmste, sucht das Grab eines von ihm geschiedenen Lieben zu schmücken, so gut er es vermag.

Wenn ein Kirgise die Sterbestunde herannahen fühlt, läßt er seine Freunde um sich versammeln, damit diese dafür sorgen, daß seine Seele ins Paradies gelange. Fromme Kirgisen, welche den Tod erwarten, lassen sich schon vor jener Stunde aus dem Koran vorlesen, ob auch der Sinn der ihnen ins Ohr klingenden Worte für sie unverständlich sein möge. Nach Gebrauch der Gläubigen versammeln sich die Freunde um das Sterbelager eines der Ihrigen und rufen ihm den ersten Satz des Glaubensbekenntnisses aller Anhänger des Propheten: „Nur einen Gott giebt es,“ so lange zu, bis er mit dem zweiten antwortet: „und Mohammed ist sein Prophet.“ Sobald diese Worte den Lippen eines Sterbenden entfließen, öffnet Munkir, der prüfende Engel, die Pforten des Paradieses, und deshalb rufen alle, welche sie vernahmen, die Worte aus: „El hamdi lillahi,“ – dem Herrn sei Dank!

Sobald ein Jurtenbesitzer für immer seine Augen geschlossen hat, sendet man zunächst nach allen Seiten Boten aus, um allen Verwandten und Freunden Kunde zu gehen, und diese Boten reiten, je nach Ansehen und Rang des Todten, zwanzig bis hundert Werst weit in die Steppe hinaus, von Aul zu Aul. Während die Trauerboten reiten, wird die Leiche gewaschen und in das Lailach gehüllt, welches letztere jeder Kirgise schon bei Lebzeiten sich erworben und unter seinen Werthgegenständen bewahrt hat. Nachdem man diese Pflicht erfüllt hat, trägt man den Leichnam aus der Jurte hinaus und legt ihn einstweilen auf einem halb gespreizten Jurtengitter nieder. Der herbeigerufene Mollah erscheint und spricht den Segen über den Todten; sodann erhebt man die Leiche mit dem Gitter, befestigt letzteres auf dem Sattel eines Kameles und setzt sich unter Begleitung der inzwischen bereits herangeströmten nächstwohnenden Verwandten in Bewegung, um den oft weit entfernten Friedhof rechtzeitig zu erreichen.

Unmittelbar nach Eintritt des Todes beginnen die Frauen die Todtenklage. Die nächste Verwandte hebt den Trauergesang an und läßt ihres Herzens Kummer in mehr oder minder tief empfundenen Worten ausströmen; die übrigen fallen am Ende jedes Satzes oder Verses gleichzeitig ein, und eine nach der anderen kleidet ihre Gedanken in Worte, so gut sie es vermag. Mehr und mehr steigert, sich die Klage bis zu dem Augenblicke, in welchem das Kamel mit seiner Last sich erhebt, und wie die Worte und Laute drückt auch das Gebühren der Frauen immer mehr sich steigernden Schmerz aus, bis sie schließlich sich das Haar zerraufen und das Gesicht blutig kratzen. Erst wenn der Leichenzug, an welchem die Frauen nicht teilnehmen, dem Auge entschwindet, verstummen allgemach Worte und Thränen.

Dem Leichenzuge voraus sind auf raschen Pferden einige Männer geritten, um das Grab zu bereiten. Dieses ist eine höchstens bis zur Brusthöhe eines Mannes reichende Vertiefung, welche auf einer Seite, in der Richtung nach Mekka hin, in ein Gewölbe übergeht, dazu bestimmt das Haupt und den Oberleib des Todten aufzunehmen. Nach geschehener Beerdigung wird das Grab mit Blöcken, Brettern, Rohrbündeln oder Steinen bedeckt, jedoch nicht mit Erde ausgefüllt, sondern solche höchstens als Hügel über die Decke geschichtet, dieser mit Fahnen und dergleichen verziert, falls man nicht einen kuppelartigen Bau aus Holz oder Lehmsteinen über dem Grabe errichtet. Auf das Grab eines Kindes legt man seine Wiege. Vor dem Grabe segnet der Mollah die Leiche zum letztenmal ein; an der Aufschichtung des Hügels nehmen alle Antheil.

Aber noch ist die Leichenfeier nicht beendet. In dem Augenblicke, in welchem ein Jurtenherr seinen letzten Seufzer verhaucht hat, stellt man neben der Jurte eine weiße Fahne auf und beläßt sie ein ganzes Jahr lang an derselben Stelle. An jedem Tage des Jahres versammeln sich hier die Frauen, um die Klage zu erneuern. Gleichzeitig mit dem Aufrichten der Fahne bringt man auch das Lieblingspferd des Verstorbenen herbei und schneidet ihm seinen langen Haarschweif zur Hälfte ab. Von diesem Augenblicke an wird das Roß von niemand mehr geritten; es heißt „verwitwet“. Sieben Tage nach dem Tode finden alle Verwandten und Freunde, auch die, welche ferne weiden und wohnen, in der Jurte sich ein, halten gemeinschaftlich ein Leichenmahl, vertheilen einige Kleider des Todten an die Armen und berathen über das fernere Geschick der Nachgelassenen wie über Verwaltung des Nachlasses. Dann überläßt man die Hinterbliebenen wiederum sich selbst und ihrem Leide.

Stirbt eine Frau, so werden fast dieselben Gebräuche beobachtet wie bei dem Tode des Mannes, nur daß selbstverständlich Frauen die Leiche waschen und bekleiden. Aber auch in diesem Falle bleiben sie während der Beerdigung im Aul, um hier die Todtenklage zu erheben. Das Reitpferd der Geschiedenen wird ebenfalls seiner Schweifzier beraubt, eine Trauerfahne aber nicht aufgepflanzt.

Wenn der Aul verlegt wird, bringt ein zu solchem Ehrendienste erwählter Jüngling das verwitwete Pferd herbei, legt ihm den Sattel seines gewesenen Gebieters in verkehrter Richtung auf den Rücken, belastet es mit den Kleidern des Verstorbenen und führt es am Zügel dem Ziele zu, in der Rechten die Lanze mit der Trauerfahne tragend. Sobald die Jurte wieder errichtet ist, entsattelt er das Pferd und bringt die Lanze an ihre alte Stelle.

Am Jahrestage des Todes aber erscheinen wiederum alle geladenen Verwandten und Freunde in der verwaisten Jurte Nachdem man die noch immer in Trauerkleider gehüllten Frauen begrüßt und nochmals zu trösten versucht hat, bringt man das verwitwete Pferd herbei, sattelt und belastet es wie beim Umzuge des Auls und führt es sodann dem Mollah vor, damit er es segne. Dies geschieht; zwei Männer nähern sich ihm, fassen es am Zügel, entsatteln es, werfen es zu Boden und stoßen ihm den Stahl in das Herz. Sein Fleisch dient den armen Festgenossen zum Mahle, seine Haut wird dem Mollah zum Lohne. Unmittelbar nach dem Tode des Pferdes übergiebt man die Lanze dem würdigsten Verwandten; er nimmt sie, spricht einige Worte, bricht ihren Schaft in Stücke und wirft diese in das Feuer.

Jetzt brausen die Pferde heran, um im Wettlaufe ihre Schnelligkeit zu beweisen; die jungen Reiter, welche sie leiten und zügeln, stürmen auf das gegebene Zeichen mit ihnen davon und verschwinden in der Steppe. An die Stelle des Mollah tritt der Sänger, um noch einmal des Todten zu gedenken, aber auch die Lebenden zu feiern und ihr Herz zu erfreuen. Vom Haupte der Frauen verschwindet der eigenthümliche Kopfputz, welcher als Zeichen der Trauer diente, und sie schmücken sich mit festlichen Gewändern. Nach dem reichen Mahle kreist die Schale mit dem berauschenden Milchwein, mit den Klängen der Zither vereint sich das Jauchzen der Freude. Die Trauer ist zu Ende, das Leben tritt wieder ein in seine Rechte.