Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen/Die große Kette des Kaukasus

Von Konstantinopel nach Tiflis Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen
von Paul Müller-Simonis
Tiflis und seine Umgebung
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Zweites Kapitel.
Die große Kette des Kaukasus.
Padaroschni, Kaliaska und Perekladnoi. Die Postpferde. Ein Heilmittel gegen den Spleen. Die militärische Route von Georgien. Abreise von Tiflis. Mzkhet. Ananur. Ein unangenehmer Postmeister. Die Auls. Mlet. Das Besteigen des Gudaur. Der Kreuzpaß. Abstieg nach Kasbeck. Kasbeck. Legenden des Volksstammes der Osseten. Der Gletscher Dewdorawki. Die Darial-Schlucht. Schloß der Königin Tamar. Die Osseten. Wladikawkas. Das Militärlager. Panorama des Kaukasus. Rückkehr nach Tiflis.

Tiflis wurde für die nächste Zeit der Mittelpunkt unserer Ausflüge. Zu unserm großen Bedauern war der „Doktor“ gezwungen, uns bald zu verlassen, da er nach Konstantinopel zurückkehren mußte. Kaum waren wir in unserem Hôtel angelangt, so verabredeten wir die Vorbereitungen, um mit ihm einen Abstecher durch den Kaukasus zu machen bis Wladikawkas. Nathanael hatte in Tiflis eine verheiratete Schwester wohnen, bei der er während unserer Ausflüge blieb.

Die erste Vorsichtsmaßregel für solche Zwecke besteht darin, sich mit einem „Padaroschni“ zu versehen. Es ist dies ein Erlaubnisschein der Polizei, der dem Inhaber das Recht giebt, die Postpferde zu benutzen. Der gewöhnliche Padaroschni giebt das Recht zur Benutzung der Postpferde, aber er läßt den Reisenden doch manchen Zufällen ausgesetzt. Denn jede Person, die mit einem Padaroschni der Krone versehen ist, hat vor den anderen Reisenden den Vorzug. Dieser Padaroschni wird gewöhnlich nur für amtliche Reisen ausgestellt. Zuweilen kann es auch einem Fremden gelingen, einen solchen zu erhalten, doch ist eine gute Empfehlung dafür Hauptbedingung. Der königliche Padaroschni wird aus dem gewöhnlichen durch Aufdrücken eines Ergänzungs-Siegels hergestellt. Der Padaroschni ist nur ein allgemeiner Erlaubnisschein. Er dient für einen gegebenen Weg als Quittung für den Gebrauch der Pferde und nennt die zu benutzende Zahl. Um den gewöhnlichen Padaroschni in einen der besseren Sorte zu verwandeln, läßt man ganz diskret einen Rubel in die Hand des Postmeisters gleiten. Die Reise kann je nach Wunsch in einer Perekladnoi oder in einer Kaliaska vor sich gehen.

Die Kaliaska ist eine Art Viktoria-Chaise (offener vierräderiger Wagen), die ziemlich bequem ist. Was die Perekladnoi angeht, so ist dies der Nationalwagen der Russen. Die Konstruktion ist äußerst einfach. Zwei Paar Räder stehen ziemlich weit auseinander. Auf den Achsen dieser Räder liegen zwei hölzerne Stangen, und auf diesen ruht ein ziemlich luftiger Kasten. Das ist der ganze Wagen; von Federn durchaus keine Spur. Ebenso merkwürdig ist auch der Sitz; parallel der Rückwand des Kastens befindet sich eine hölzerne Stange, die den Vorderteil des Sitzes bildet. Zwischen dieser Stange und dem untern Ende der Rückwand ist ein Netz aus Stricken befestigt. Auf dieses Netz legt man Stroh oder Kissen, um die Wirkungen der Stöße abzuschwächen. Wenn man bedenkt, daß dies Fuhrwerk im scharfen Trab und dazu noch auf holperigem Wege durch die Steppe eilt, wird man erklärlich finden, daß jede Bequemlichkeit dabei mangelt und die Stöße oft schrecklich werden. Deshalb nehmen die Russen auch stets eine Menge Kissen mit, wenn sie sich dieses Vehikels bedienen. Dadurch wird es ihnen zwar möglich, den Transport einigermaßen erträglich zu gestalten; wird aber der Wagen gewechselt, so muß ein förmlicher Umzug in Szene gesetzt werden. Zwar hat man dazu Zeit genug. Die unvermeidliche Antwort bei der Ankunft an der Station lautet: „Es sind keine Pferde da.“ „Wann gibt es Pferde?“ „Sitchas“ (bald). Unter „bald“ thut man aber gut, sich einen Zeitraum von zwei bis vier Stunden zu denken, wenn man nicht enttäuscht sein will. Man muß sich gedulden; niemals aber darf man die Antworten der dortigen Postmeister für Wahrheit annehmen. Diese schließen mit dem Gouvernement einen Vertrag ab, laut dessen sie die Pferde stellen müssen. Man kann es ihnen daher nicht verargen, daß sie für ihre Tiere besorgt sind. Es kommt daher oft vor, daß die Pferde verweigert werden, selbst wenn sie gefressen und die vorschriftsmäßige Zeit geruht haben.

Die Postpferde legen gewöhnlich fünfzehn bis zwanzig Werste (sechszehn bis einundzwanzig Kilometer) zurück. Kommen sie an der Station an, so werden sie ausgespannt und leer zurückgeschickt zu ihrem Ausgangspunkte. Nachdem sie im Stalle angekommen sind, dürfen sie drei Stunden ausruhen und müssen dann wieder zur Verfügung etwaiger Reisenden stehen. welchen Nutzen man sich von dem erwähnten Zurückschicken der Pferde verspricht, konnten wir niemals erfahren.

Kurzum, die Postmeister suchen oft die Reisenden zu täuschen; diese thun gut, wenn sie selbst zu den Pferdeställen gehen und sich von der Zahl der Pferde und der ihnen bewilligten Ruhezeit überzeugen. Ein leichter russischer Teint ist deshalb viel wert, um die Verzögerungen abzukürzen. Diese Postpferde laufen täglich oft dreimal eine Strecke von zwanzig Wersten. Da sie zwischen jeder Tour zu ihrem Stall zurückkehren, so durchlaufen sie in Wirklichkeit in einem Tage 120 Werste (127 Kilometer). Am folgenden Tage beginnt das Geschäft von neuem, und trotz der großen Anstrengung bleiben sie gut auf den Beinen.

Die Stöße in der Perekladnoi empfiehlt man als Heilmittel gegen den Spleen und behauptet, daß sich die Engländer derselben zuweilen mit Erfolg bedienen. Für die Wahrheit können wir nicht einstehen, da wir keinen Spleen hatten. Aber wir waren zu bang, um uns den Stößen noch weiter auszusetzen, und zogen die Bequemlichkeit einer Kaliaska vor.

Zuweilen findet man die Troika als Hauptbeförderungsmittel der Reisenden angegeben. Doch ist diese Bezeichnung ziemlich ungenau. Das Gespann heißt Troika, wenn es, wie gewöhnlich, aus drei Pferden besteht. Von dem Gespann hat also der Wagen den Namen bekommen. Dieses Dreigespann kommt aber sowohl bei der Perekladnoi als auch bei der Kaliaska vor. Eine besondere Eigentümlichkeit hinsichtlich des Gespannes besteht noch darin, daß nach russischer Anschauung nur die Vornehmen ihre Pferde vor einander spannen dürfen. Die gewöhnlichen Sterblichen befestigen ihre Pferde neben einander. So kommt es, daß man zuweilen fünf oder sechs Pferde in einer Reihe an einem Wagen neben einander laufen sieht.

Die Militärstraße von Georgien durchschneidet den Kaukasus von Tiflis nach Wladikawkas an der Stelle, wo die Gebirgskette am schmälsten ist. Selbst da ist die Kette über 100 Kilometer breit; aber in dem westlichen Teile des Kaukasus ist die Breite doppelt so groß, während sie östlich von der Heerstraße mehr als die doppelte Ausdehnung annimmt.

Der Weg von Tiflis durch Kabarda nach Wladikawkas ist zu allen Zeiten der Hauptverbindungsweg durch den Kaukasus gewesen. Darum versteht es sich auch von selbst, daß die Russen sofort davon Besitz genommen haben. Die gegenwärtige Straße ist von dem Fürsten Bariatinski angelegt worden. Sie hat eine Länge von beiläufig 200 Wersten (213 Kilometer) und einen Kostenaufwand von ungefähr achtzig Millionen Mark erfordert. Die außergewöhnliche Wichtigkeit dieser Straße erklärt ihre vorzügliche Instandhaltung, die man sonst bei den russischen Straßen zu sehr vermißt. Von Tiflis bis Wladikawkas gibt es zwölf Poststationen, von denen als die erträglichsten Tsilkane, Mleth und Kasbeck für den Fall einer Übernachtung in Betracht kommen.

Die russischen Poststationen sind sehr ungleichmäßig eingerichtet. Die an der eben erwähnten Heerstraße unterscheiden sich durch nichts von Herbergen der gewöhnlichsten Art. Man findet daselbst Zimmer, Betten und, wenn man es genau nimmt, auch Bettzeug. In dem „Saale“ des Erdgeschosses brennt beständig der Samovar. In Hinsicht auf Essen und Trinken sind die Verhältnisse sehr bescheiden, doch braucht man nicht zu verhungern. Auf anderen Strecken, z. B. auf der von Eriwan nach Nakhitschewan sind die Poststationen noch viel erbärmlicher eingerichtet. Gewöhnlich bestehen sie aus zwei gekälkten Zimmern, deren Wände mit dem Bildnis seiner „Heiligen Majestät“ geschmückt sind. Das eine dieser Zimmer ist für die Männer, das andere für die Frauen bestimmt. Der Postmeister besitzt dann noch ein drittes Zimmer, das zu gleicher Zeit als Küche dienen muß. Längs der Wände befinden sich die Betten. Der Name ist eigentlich viel zu gut für diese hölzernen Bänke, deren jede mit einer schiefen Ebene versehen ist, die das Kopfkissen ersetzen soll. Da von Bettwäsche keine Rede sein kann, ist jeder Reisende darauf angewiesen, selbst die nötigen Sachen mit sich zu schleppen. Wir schlugen regelmäßig unser Feldbett auf. Auf diesen Poststationen findet man gewöhnlich auch nichts zu essen, und man ist gezwungen, in den baufälligen Hütten der nächsten Dörfer Umschau zu halten; besser ist es freilich, wenn man den erforderlichen Mundvorrat von der nächsten Stadt mitnimmt. Dann darf aber auch nicht verschwiegen werden, daß man selbst sich das Essen bereiten muß, wenn man nicht so vorsichtig gewesen ist, einen Diener mitzunehmen, der etwas vom Kochen versteht.

Franz Kirchheim, Mainz.       Lichtdruck von J. B. Obernetter, München.
Tiflis.
Die Kura und das Awlabar-Viertel.

29. August.

Wir verließen Tiflis am 29. August gegen Mittag. Bei einer fürchterlichen Hitze legten wir die nächsten zwanzig gräßlichen Werste durch die Einöde von Tiflis nach Mzkhet zurück. Als wir auf der Poststation daselbst ankamen, waren keine Pferde da. Ein Weg von zwanzig Minuten hätte uns zu dem Dorfe[1] und seinen alten Heiligtümern gebracht. Aber die Hitze war derart, daß wir vor lauter Ermüdung beschlossen, den Besuch auf unserer Rückreise von Wladikawkas auszuführen.

Gegen fünf Uhr des Nachmittags kamen wir endlich zur Abreise. Am Ausgange von Mzkhet hat ein Durchstich die Überbleibsel der prähistorischen Totenstadt Samthawro bloß gelegt. Diese äußerst interessante Totenstadt wurde im Jahre 1871 entdeckt. Man bemerkt deutlich vier über einander liegende Schichten von Gräbern. Von bedeutenden Forschern werden die Gräber der untersten Reihe in die erste Zeit des Eisens gerechnet. Eine große Menge Schädelknochen, die daselbst gefunden wurden, zeigt eine äußerst großköpfige Bevölkerung an.

Mzkhet.

30. August.

Nachdem wir die Nacht in Zilkane zugebracht hatten, kamen wir ohne Schwierigkeiten bis Ananur, wobei wir eine Gegend durchreisten, die durch Überschwemmungen sehr fruchtbar zu sein scheint. Die Straße, die gewöhnlich das Thal des Aragvi verfolgt, verläßt dieses von Zilkane bis Ananur, um Duscheti zu erreichen. Dieses ist eine kleine Stadt und liegt in einer Höhe von achthundert Metern sehr schön an einem Zufluß des Aragvi. Neben der Poststation findet sich ein schönes Schloß.

In Ananur mußten wir drei und eine halbe Stunde warten. In geschichtlicher Hinsicht ist Ananur der bedeutendste Ort des ganzen Thales. Die Erista des Aragvi wohnten daselbst. In der Umwallung der früheren Festung findet sich eine alte Kirche, die sehr interessant scheint. Aber da der Postmeister uns nicht sagen wollte, in welcher Zeit er Pferde zur Verfügung haben würde, obwohl er es ganz gut wußte, konnten wir die Kirche nicht besuchen. Um die Reisegelegenheit nicht zu versäumen, blieben wir an der Station, wo wir uns herzlich langweilten.

Ananur.

Die Straße von Ananur nach Mleth führt durch das Thal des Aragvi, das hier zwar schon von hohen Bergen eingeschlossen ist, die aber noch mit Bäumen bestanden sind und anmutig erscheinen. Einige Werste vor Pasanaur kommt man an zwei alten Forts, denen von Tschertaly und Wanseloppe, vorbei, die ehemals die Straße schützten. Eine Menge Verteidigungstürme, Aul genannt, wird sichtbar. Jedes der an den Abhängen der Berge liegenden Dörfer besitzt wenigstens einen solchen Turm, die meisten oft drei bis vier, die nur durch eine außen angebrachte Leiter zugänglich sind. Diese Türme waren die letzten Bollwerke zur Verteidigung der Unabhängigkeit der Bergbewohner. Vor der Annexion durch Rußland dienten sie auch oft als feste Schlösser, von wo aus eifersüchtige Klans, deren es in jedem Dorfe gab, sich nach Gefallen beschossen. Diese löbliche Sitte findet sich sogar heute in einigen entlegenen Thälern. Heute sind die Türme am Aragvi, die so stolz die Hütten der Dörfer beherrschen, nur mehr malerische Zeugen der früheren Kämpfe.

31. August.

Bei Mleth beginnt der hohe Gudaur. Die Landschaft wird sehr großartig und gewährt Ansichten, die in keiner Hinsicht hinter denen der Schweiz zurückzustehen brauchen. Auf dem höchsten Punkt der Straße haben die Russen ein Kreuz errichtet, daher führt der Gipfel auch den Namen Kreuzpaß.

Der Abstieg vom Gipfel nach Kasbeck ist schwindelerregend. Unsere drei Pferde, die in einer Reihe vor die Kaliaska gespannt waren, legten den Weg im Galopp zurück und nahmen dabei die gefährlichsten Windungen, ohne daß auch nur eine Hemmschraube an dem Wagen angebracht war. Die Landschaft ist nackt und zerrissen, nicht ein einziger Baum ist zu bemerken. Von der Poststation in Kasbeck hat man, wie uns erzählt wurde, einen schönen Blick auf das Gebirge: wir konnten uns aber nicht daran erfreuen, da ein dicker Nebel das ganze Gebirgsmassiv verhüllte. Kaum konnte man zeitweise das Kloster Sameba bemerken, das auf einen fast unzugänglichen Ausläufer des Gebirges gebaut ist und zur Zeit leer steht.

Aul von Pantscheti bei Kasbeck.

Der Kasbeck ist der Hauptpunkt in der Reihe der vulkanischen Berge, die den Kaukasus von Nordosten nach Südwesten durchziehen. In Rücksicht auf die Höhe nimmt er nur die dritte Stelle unter den Riesen des Kaukasus ein, obgleich er bis zu 5045 Metern emporsteigt. Der Elbrus überragt ihn um 600 Meter.

Die Benennung Kasbeck ist neuern Datums. Die Russen gaben dem Berg diesen Namen, um damit einen eingeborenen Fürsten Kasbeck zu belohnen, der ihre Oberhoheit anerkannte. Die Georgier nennen den Berg M’kinvari (Asberg) und die Osseten Urz-K’hoh (weißer Berg). Freshfield erstieg ihn zuerst 1868. An den Kasbeck haben die Osseten die phantastischten Legenden geknüpft. Auf seinem Gipfel sollen das Zelt Abrahams und die Krippe von Bethlehem in gut erhaltenem Zustande heute noch stehen. Zwischen den zwei Gletschern Albanot und Orzveri befindet sich eine Grotte, in der die allerseligste Jungfrau ausruhte, als sie von Ägypten zu den Osseten kam. Jeder Mensch, der daselbst einzudringen wagte, würde sofort sterben.

Die Fortsetzung der Heerstraße von Georgien, von Kasbeck bis zum Ausgang des Gebirges, ist sehr den Verwüstungen des Wassers ausgesetzt. Ein plötzlich hervorbrechender Bach hat sie wiederholt gänzlich zerstört.

Sechs Kilometer weiter von der Station Kasbeck mündet das Thal der Amilitschka in das Thal des Terek. Der große Gletscher Dewdorawki, einer der acht Gletscher des Kasbeck, nimmt den oberen Teil des engen Thales, das ihm als Abzugskanal dient, in Anspruch; anstatt zurückzuweichen wie die anderen Gletscher des Kaukasus, bewegt er sich unaufhaltsam gegen das Thal des Terek vorwärts. (Ähnliche Beobachtungen hat man auch in den Alpen gemacht.) Aber das Thal der Amilitschka ist zu eng, um diese Menge von Eis durchzulassen; daher kommt es, daß dieses sich zuweilen zu einem ungeheuren Damme von mehr als zweihundert Meter Höhe längs der Thalwände erhebt. Wenn nun der Druck der zurückgehaltenen Wassermengen zu beträchtlich wird, weicht der Damm, und alles — Wasser, Eis und Steine — stürzt in die schräg ansteigende Schlucht der Amilitschka und hemmt den Lauf des Terek. Diese Masse erinnert dann nicht mehr im entferntesten an den Anblick des Gletschers. Seit 1776 ist dies sechsmal geschehen. Das Getrümmer des letzten Einsturzes im Jahre 1832 schloß das Thal des Terek auf eine Strecke von zwei Kilometer Länge und hundert Meter Höhe. Der Strom, der früher in solchen Fällen mehrere Tage zurückgehalten ward, blieb jetzt nur acht Stunden stehen, in welcher Zeit er sich eine sehr große Höhlung durch die Masse gewühlt hatte. Der Inhalt dieser Massen ward auf sechzehn Millionen Kubikmeter berechnet, und zwei Jahre waren notwendig, ehe alles Eis geschmolzen war. Von 1863 bis 1876 war der Gletscher 230 Meter vorgerückt. Bis jetzt steht den russischen Ingenieuren kein Mittel zu Gebote, um die Straße vor diesen Gefährlichkeiten zu schützen.

Ungefähr in gleicher Höhe beginnen die berühmten Schluchten von Darial. Früher hießen sie die kaukasischen Pforten. Mit Recht trugen sie diesen Namen; denn sie sind in Wirklichkeit natürliche Schutzmauern für die Hauptstraße des Kaukasus und bestehen nur aus Anhäufungen gewaltiger Basalt-, Granit-, oder Porphyrfelsen, zwischen denen sich der Terek schäumend seinen weg gebahnt hat. Kaum erblickt man in den Felsspalten einige verkrüppelte Bäumchen. Die Straße ist fast ganz in den Felsen eingehauen; jede ihrer plötzlichen Windungen bietet dem Auge des Reisenden einen andern Blick auf die Schluchten, die in Wahrheit das Prädikat „schauerlich-schön“ verdienen. Das Thal des Hinterrheins, das bei seiner stärksten Verengung den Namen Via mala hat, durch welche die Splügenstraße führt, ist zwar malerischer, aber in Hinsicht auf Großartigkeit kann es mit diesen Schluchten keinen Vergleich bestehen. Nur das Thal des Yo-Semiti in Kalifornien könnte ihnen zur Seite gestellt werden. Aber dort zeigen die gigantischen Granitfelsen, die sich senkrecht über das Thal erheben, eine außerordentliche Regelmäßigkeit der Formen; von ihren Gipfeln stürzen wunderbare Katarakte, welche der Wind in Nebelschleier auflöst. Ihr Aussehen ist herrlich; am Fuße breiten sich hundertjährige Wälder aus. Kein Wunder, daß der Reisende Neigung empfindet, den alten Indianerlegenden Gehör zu schenken, wonach der „Große Geist“ sich gern an diesem Orte aufhält. Hier aber ist das gerade Gegenteil der Fall; nichts als Chaos, Verwüstung, so daß man sich mit Dante an den Eingang des Infernum versetzt glaubt. Die Sonne dringt hier nur in die Schluchten, um die dunkelsten Schatten etwas zu zerteilen und dadurch die Rauheit und Wildheit der Landschaft noch mehr hervortreten zu lassen. Wir fuhren weiter, stets im Galopp, so daß der Kutscher eine außerordentliche Geschicklichkeit besitzen mußte, um die drei neben einander gespannten Pferde um diese scharfen Biegungen zu lenken. Gleichsam um die Gefahr noch zu erhöhen, schienen die Pferde gerade solche gefährliche Stellen auserwählt zu haben, um sich zu schlagen und zu beißen. Ich glaube, daß diese Schluchten viel von ihrer Großartigkeit verlieren, wenn man das Thal von Wladikawkas aus hinaufsteigt. Bei dem Abstieg stimmen die Schnelligkeit, mit der gefahren wird, und die steten Veränderungen des Weges mehr zu dem Phantastischen dieser Schluchten.

Schloß der Königin Tamar.

Endlich kamen wir an dem Fuße des Schlosses der Königin Tamar vorbei. Wie ein Adlerhorst hängt es auf der Spitze eines vortretenden Felsens und ist nur durch einen schmalen Pfad zugänglich. Es beherrscht vollständig das Thal. Zwar sind von der ganzen Herrlichkeit nur wenige Trümmer geblieben, aber der Platz war wirklich zu schade, um verlassen zu werden. Heute schützt eine befestigte Kaserne am Fuße des Berges die Militärstraße und ist die wirkliche Pforte der Schlucht geworden. Seit undenklichen Zeiten war dieser vorgeschobene Posten Georgiens befestigt. Die Legende hat ihm den Namen der Königin Tamar gegeben, nach der im Kaukasus noch mehrere feste Schlösser und auch Kirchen benannt sind.

Die Etymologie des Wortes Darial hat sowohl Sprachforschern als auch Altertumsfreunden große Schwierigkeiten bereitet. Brosset leitet es ab von dem persischen Dar-i-Alan, Thor der Alanen, eines skythischen Volksstammes. In der alten arabischen Geschichte findet sich auch derselbe Name „Bab-Allan.“

Das Thal des Terek bildet so ziemlich die ethnographische Grenze zwischen den Osseten und den Tschetschenen, die in der Geschichte der Eroberung des Landes durch Rußland eine so bedeutende Rolle gespielt haben. Die Osseten bilden ein Volk, das von einigen auf 65000, von andern auf 110000 Seelen geschätzt wird. Ihr Ursprung ist lebhaft bestritten worden. Die einen rechnen sie zu den Alanen, während die andern sie zu den reinsten Vertretern der arischen Rasse zählen, und noch andere gar behaupten, sie seien semitischen Ursprungs. Im allgemeinen zeichnen sie sich nicht durch schönen Körperbau aus. Ihre Gebräuche nähern sich den europäischen in manchen Punkten: sie bedienen sich der Betten, der Tische, der Stühle und sitzen nicht wie die Bewohner des östlichen Teiles von Asien mit untergeschlagenen Beinen. Ihre Religion ist ein Gemisch von allerlei Bekenntnissen und Aberglauben; doch giebt es unter ihnen ungefähr 50,000 sogenannte Christen.

Wladikawkas ist nach russischer Art gebaut, bietet also nichts Interessantes. Hier finden sich große, breite, aber schlecht gepflasterte Straßen, die an der Seite durchgehend mit einstöckigen Häusern besetzt sind. Nur einige Häuser erlauben sich den Luxus einer ersten Etage. Der Name „Wladikawkas“, der so recht die russische Oberherrschaft bezeichnet, ist eine Zusammensetzung von „Wladiget“ (bezwingen) und „Kawkasum“ (Kaukasus) und erinnert lebhaft an das klassisch gewordene „Zwing-Uri“. Potyomkin gründete diese Stadt 1785 auf der Stelle des alten Ossetendorfes Salutsch. Seine buntscheckige Bevölkerung beträgt gegenwärtig ungefähr 15,000 Seelen.

1. September.

In den Morgenstunden lenkten wir unsere Schritte zu dem großen Militärlager, das eine kleine Strecke nordwestlich von der Stadt errichtet und, wie man uns sagte, mit zwanzigtausend Menschen belegt ist. Die Zelte sind geräumig und anscheinend nicht leicht zu transportieren. Als wir hinkamen, waren die Soldaten gerade bei ihrem Frühstück. Vor und nach der Mahlzeit beten die Soldaten entblößten Hauptes mit großer Andacht, was einen imposanten Anblick gewährt. Die Zucht scheint genau und streng zu sein. Die Truppen, die beinahe die Hälfte des Jahres in den Zelten wohnen, machen einen guten Eindruck: sie sind kräftig und kriegstüchtig. Mehrere junge Bären liefen frei inmitten der Soldaten herum, deren Lieblinge sie sind.

Unterdessen hatte sich das Wetter aufgehellt, so daß wir eine herrliche Aussicht auf die große Kette des Kaukasus hatten. Er erhebt sich unmittelbar aus der Ebene, so daß das Auge keinen Übergang zwischen der Steppe und dem Gebirge wahrnehmen kann. Wenn der Kaukasus in seinen Konturen auch nicht die Mannigfaltigkeit der Alpen aufweisen kann, so entschädigt er auch wieder für diesen Ausfall durch die erhabene Majestät seiner Formen. Nur die Pyrenäen können, von der Place Royale in Pau aus gesehen, einen Vergleich in dieser Hinsicht mit dem Kaukasus aufnehmen. Hier präsentiert sich der Kasbeck in seiner ganzen Größe. Seine weißen Firnen glänzen in der Sonne und heben sich wunderbar gegen die Einförmigkeit der Steppe ab. Leider kann man dieses Bild nur in den ersten Morgenstunden genießen; in dem Maße, wie die Sonne am Horizonte höher steigt, umgeben die Wolken die Gipfel und verhüllen sie bald.

Wir hatten einmal vor, nach Tiflis über Petrofsk, Derbent und Baku zurückzukehren. Aber anstatt uns dafür zu entschließen, überlegten wir. Die Bequemlichkeit trug auch hier den Sieg davon, so daß wir einig wurden, auf dem Hinwege auch die Rückreise anzutreten.

Einen Wagen aufzutreiben gelang uns nicht; da der Kaiser in nächster Zeit den Kaukasus besuchen sollte, befanden sich alle Postwagen auf amtlichen Befehl in der Reparatur. In einem Break waren noch drei Plätze frei. Wir waren gezwungen, auf diese Weise die Reise zu machen, das heißt: zweiunddreißig Stunden von Wladikawkas bis Tiflis. In der zweiten Hälfte des Weges war der Staub wirklich unerträglich. Wir langten in Tiflis an, weißbestaubt wie Mehlhändler und halb erstickt.

  1. Die Kathedrale von Mzkhet wurde durch den König Mirian gegen 328 erbaut. Die Errichtung der Brücke in Mzkhet wird Pompejus zugeschrieben.