Volksbibliotheken
[803] Volksbibliotheken. In vielen größeren Städten wird durch Volksbibliotheken für das Lesebedürfniß und die geistige Fortbildung der ärmeren Klassen gesorgt, und es ist keine Frage, daß bei einer einsichtigen Auswahl des Lesestoffs durch diese Einrichtung eine sehr gute Wirkung auf Geist und Herz des Volks ausgeübt werden kann. Doch hat man neuerdings in der Reichshauptstadt die Erfahrung gemacht, daß gegen früher ein Rückgang in der Zahl der Leser und der ausgeliehenen Bände eingetreten ist.
Das Verhältniß wird noch ungünstiger, wenn man das jährliche Wachsthum der Bevölkerungszahl Berlins mit in Anschlag bringt. Im ganzen wurde jedes Buch nur dreimal ausgeliehen. Die Gründe mögen verschiedener Art sein. Eine der Ursachen finden wir in dem Bericht über die Gemeindeverwaltung der Stadt Berlin in den Jahren 1882 bis 1888 angegeben; es heißt dort, daß die Ergänzung einzelner Bibliotheken, nachdem in den letzten Jahren auf den verschiedenen Gebieten der Wissenschaften und der Technik so große und so schnelle Fortschritte gemacht worden seien, mit dieser Entwicklung nicht Schritt halten konnte, so daß dem Publikum theilweise nur ein weniger werthvolles Material zur Verfügung gestellt wurde. Hier ist immerhin zu bemerken, daß es an neueren zusammenfassenden Werken nicht fehlt, deren Kaufpreis den Etat der Bibliotheken nicht übermäßig belasten würde.
Günstiger stellt sich die Lage der Volksbibliotheken in Dresden und Wien dar. Die neun, welche der „Gemeinnützige Verein“ in Dresden gegründet hat, haben einen Bücherbestand von 25201 Bänden und gaben 1890 122000 Bände an 8124 eingeschriebene Leser aus, also jeden Band etwa fünfmal. Die Volksbibliothek des niederösterreichischen Volksbildungsvereins (Zweig Wien und Umgebung) in Semmering bei Wien lieh 1890 bei einem Bestande von 2183 Büchern 26839 Bände aus, also jeden Band dreizehnmal. Der Wiener Volksbibliothekverein gab seinen Bücherbestand von 8453 Bänden 1890 achtmal aus, nämlich 65144 Bände. Und endlich eine Bonner Bibliothek von 8482 Bänden gab 1890 72914 Bande aus.
Jedenfalls sollten alle größeren Städte diese Einrichtung, welche dem Volkswohl in hohem Maße dient, eifrig pflegen, die dafür ausgeworfenen Summen möglichst erhöhen und die Auswahl der Bücher durch umsichtige und vorurtheilsfreie Männer besorgen lassen; doch auch unter den Ausgaben der kleineren Städte sollte der Posten für Volksbibliotheken nicht fehlen.
Es wäre vielleicht vortheilhaft, wenn die
gesammte für Volksbibliotheken geeignete Litteratur
alljährlich von einem leitenden Ausschuß
zusammengestellt und das Verzeichniß, bei dem die
wichtigsten und empfehlenswerthesten Werke in erster
Linie stehen, den Verwaltungen besonders der
kleineren Städte eingesendet würde, denn der
Sinn für das wahrhaft Volksthümliche, für das,
was sowohl gemeinnützig ist wie auch Geist und Geschmack bildet,
ferner eine ausgebreitete Litteraturkenntniß ist nicht überall zu finden.
Möchten diese Zeilen da und dort einen günstigen Boden finden: auch
mit bescheidenen Mitteln läßt sich in dieser Sache Gutes erreichen. †