Textdaten
Autor: Walther Kabel
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Titel: Verwilderte Haustiere
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aus: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1913, Bd. 5, S. 222–225
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Erscheinungsdatum: 1913
Verlag: Union Deutsche Verlagsgesellschaft
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Erscheinungsort: Stuttgart, Berlin, Leipzig
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[222] Verwilderte Haustiere. – Unsere vierbeinigen Hausgenossen Hund und Katze stammen von Raubtieren ab, und daß in diesen völlig zahm gewordenen Haustieren die Raubtierinstinkte ihrer Ahnen sehr leicht wieder aufleben, ist eine Tatsache, die erst in jüngster Zeit mehrfach festgestellt worden ist.

Verwilderte Hunde findet man in ganzen Rudeln, oft bis zu fünfzehn Stück, hauptsächlich in den ungarischen und südrussischen Steppen. Sie sind dem Wilde und den Herden nicht weniger gefährlich als Wölfe, mit denen sie sich häufig paaren. In den kleinen Dörfern und Gehöften der endlosen Steppen kümmert sich der Bauer so gut wie gar nicht um seinen vierbeinigen Wächter und läßt ihn ungehindert überall umherstreifen. Hat der Hund dann erst einigemal ein Stück Wild zu Tode gehetzt und das warme Blut seines Opfers geschmeckt, so kehrt er immer seltener zu seinem Herrn zurück, schließt sich bald mit anderen Artgenossen zu Rudeln zusammen und wird in kurzem zum Schrecken der ganzen Gegend. Die Blutgier, Wildheit und Angriffslust derartiger Hunde soll sogar noch größer sein als die der Wölfe. So wurde der ungarische Magnat Baron v. Szeszöny in dem strengen Winter 1908 bei der Rückkehr von der Jagd in der Dunkelheit von einem Rudel angefallen, vor dem er sich nur durch schleuniges Erklettern einer Buche retten konnte. Die Schüsse auf die Bestien gingen bei dem unsicheren Licht sämtlich fehl, hatten aber doch den Erfolg, daß zwei Waldhüter zu seiner Hilfe herbeieilten und mit ihren Büchsen vier von den Angreifern zur Strecke brachten. Von den getöteten Tieren waren zwei Bastarde von Hund und Wolf, die beiden anderen verwilderte Hunde.

Daß auch Hauskatzen sehr leicht zu gefährlichem Raubzeug werden können, berichtet ein kurländischer, in der Nähe von Schawly begüterter Landedelmann, der seine zu diesem Thema gesammelten Erfahrungen folgendermaßen schildert: „Auf meinem Gute hielt ich stets zur Abwehr der Mäuse- und Rattenplage mehrere Katzen. Unter diesen befand sich auch ein Pärchen, das mit einer bei Katzen sonst nicht üblichen Treue aneinander hing, aus einem Napfe fraß und meist auch gemeinsam die Mäusejagd auf den Kornböden betrieb. Die beiden [223] Tiere waren grau gefärbt und der Kater ein selten kräftiges, schönes Exemplar seiner Gattung. Zu meinem Bedauern stellte ich eines Tages jedoch fest, daß die beiden Katzen ihre Jagdleidenschaft nicht nur durch Vertilgen von Mäusen und Ratten zu befriedigen suchten, sondern ihre Streifzüge auch auf die Felder und die zu meinem Besitz gehörenden weiten, zum Teil undurchdringlichen Forsten ausdehnten, wobei sie dann oft wochenlang von Hause fernblieben. Nachdem ich verschiedentlich beobachtet hatte, wie ihnen bei diesen Streifereien Junghasen und junge Fasanen zum Opfer gefallen waren, wollte ich die gefährlichen Räuber beseitigen und verständigte meinen Förster, daß er sie bei Gelegenheit abschießen sollte. Auf dem Gutshofe hatte das Katzenpaar sich nämlich in letzter Zeit nicht mehr blicken lassen. Eines Tages meldete mir dann der Jagdhüter, daß er die Tiere im Felde angetroffen und eines von ihnen durch eine Schrotladung krank geschossen habe. Von dem Augenblick an waren die Katzen spurlos verschwunden. Erst im folgenden Winter fanden wir bei Neuschnee in einer Waldlichtung ihre deutlich ausgeprägte Fährte. Die Tiere waren nebeneinander gehend über die Blöße gewechselt, und aus den Spuren war deutlich zu erkennen, daß eines von ihnen den linken Hinterlauf etwas nachschleppen ließ – fraglos die Folgen des damaligen Schrotschusses. Wir gaben uns die größte Mühe, die für den Wildbestand recht unangenehmen Gäste aufzuspüren, mußten aber bald von der weiteren Verfolgung abstehen, da die Tiere sich in eine auch für unsere Hunde völlig unzugängliche dichtbewachsene Schlucht zurückgezogen hatten. Auch wiederholtes Pirschen in den nächsten Wochen brachte uns keinen Erfolg ein. Das Räuberpaar schien gemerkt zu haben, daß ihm nachgestellt wurde, und war anscheinend in ein fremdes Revier übergewechselt.

Wieder vergingen Monate. Dann erzählte mir gelegentlich ein Gutsnachbar, daß seine Fasanenbestände in letzter Zeit viel durch Wildkatzen, die sonst in unserer Gegend kaum noch vorkommen, zu leiden hätten. Sofort fielen mir die beiden Ausreißer ein. Um ihrem schädlichen Treiben ein Ende zu machen, verabredeten wir mit einigen anderen Bekannten von den [224] umliegenden Gütern eine große Treibjagd. Aber trotzdem wir gegen zweihundert Treiber und achtundzwanzig Schützen aufgebracht hatten und die Waldparzellen, in denen das Katzenpaar zumeist bemerkt worden war, mit aller Sorgfalt abgesucht wurden, erreichten wir nichts.

Erst in dem überaus strengen Winter 1909 fanden einige meiner Arbeiter in einem Torfbruch ein Reh, das von Raubzeug angefressen war. Die nähere Besichtigung ergab, daß zweifellos die verwilderten Katzen das Reh angesprungen und niedergerissen hatten. Denn auf seinem Rücken bemerkten wir deutlich tiefe Krallenspuren, und die Kehle zeigte Bißwunden, die von Füchsen oder Wölfen nicht herrühren konnten. Außerdem entdeckten wir neben dem verendeten Wilde nicht nur die Fährten von zwei, sondern von vier ausgewachsenen Katzen, woraus nur der eine Schluß zu ziehen war, daß das verwilderte Pärchen inzwischen Nachkommenschaft erhalten hatte. Sofort ließ ich meine Nachbarn zu einer neuen Treibjagd zusammenrufen. Zum Glück fiel in der folgenden Nacht kein Schnee, und am nächsten Morgen vermochten wir den Spuren der Räuber ohne Anstrengung zu folgen. Die vier Fährten liefen nach einer kleinen Insel hin, die mitten in einem in der warmen Jahreszeit ganz unpassierbaren Sumpfgebiet lag. Jetzt im Winter waren die Wassertümpel fest zugefroren, und wir konnten daher die von alten Eichen und dichtem Brombeergestrüpp bestandene Insel völlig einkreisen. Die Hunde wurden losgekoppelt und verschwanden auch blitzschnell hinter dem undurchdringlichen Vorhang der Brombeerranken. Bald gaben sie Laut, und nach ihrem wütenden Gekläff zu urteilen, das stets von derselben Stelle ertönte, hatten sie den Feind gestellt. Mühsam bahnten wir uns einen Weg durch das Gestrüpp. Wir fanden die Hunde sämtlich um eine uralte, abgestorbene Eiche versammelt, sahen von den Katzen jedoch zunächst noch nichts. Die Eiche war innen vollständig ausgefault, und in dem hohlen Baum saßen fraglos die verfolgten Katzen. Durch ein in Mannshöhe über dem Erdboden liegendes Astloch wurde nun trockenes brennendes Moos hineingeworfen, das sehr starken Qualm erzeugte. [225] Unser Plan, die Tiere hierdurch zum Verlassen ihres Schlupfwinkels zu zwingen, gelang vollkommen. Zunächst erschien oben in der ersten Astgabelung eine Katze, verschwand aber beim Anblick der Menschen und Hunde wieder. Erneute Zufuhr des Brennmaterials. Der aus der Astgabelung aufsteigende Rauch wurde immer stärker. Plötzlich fuhren die vier Katzen aus ihrem Versteck hintereinander hervor und flüchteten in die obersten Zweige, wo sie dicht an das Holz angeschmiegt sitzen blieben. Drei wurden durch wohlgezielte Schüsse herabgeholt. Die vierte bereitete uns aber insofern eine recht unangenehme Überraschung, als sie, mit einer Kugel im Leibe, in gewaltigem Satz auf meinen Gutsnachbarn Baron v. S. herabsprang und sich in dessen linke Backe so fest verbiß, daß wir alle Mühe hatten, ihn von dem Angreifer zu befreien.

Wie schnell Haustiere vollständig verwildern und nicht nur die Gewohnheiten ihrer wilden Stammvettern wieder annehmen, sondern auch die Farbe ihres Pelzes wechseln und in ihrer ganzen Bauart kräftiger werden, sahen wir deutlich an diesen vier Katzen, von denen das mir entwichene Pärchen ungefähr dreieinhalb Jahre lang in der Freiheit sich selbst überlassen gewesen war. Ihr vorher an einigen Stellen ganz hellgraues Fell war vollständig dunkel, ja fast schwarz und sehr dicht und langhaarig geworden, und dieselbe Färbung zeigten auch ihre äußerst kräftig entwickelten Nachkömmlinge. Die Krallen, bei den Hauskatzen sonst nadelscharf, waren mehr abgestumpft, dafür aber breiter und länger geworden. Die Tiere hatten auch – wohl das Bemerkenswerteste – bereits den typischen scharfen Raubtiergeruch ihrer wild lebenden Verwandten angenommen.“
W. K.