Versuch einer Theorie der electrischen und optischen Erscheinungen in bewegten Körpern/Abschnitt III

Abschnitt II Versuch einer Theorie der electrischen und optischen Erscheinungen in bewegten Körpern (1895)
von Hendrik Antoon Lorentz
Abschnitt IV
[48]
ABSCHNITT III.
UNTERSUCHUNG DER SCHWINGUNGEN, WELCHE VON OSCILLIRENDEN IONEN ERREGT WERDEN.


Allgemeine Formeln.


§ 30. Sobald die Bewegung der Ionen gegeben ist, stehen in den Gleichungen (A) und (B) (§ 21) auf der rechten Seite bekannte Functionen von , , und ; in Bezug auf die letzte Variable sind dies periodische Functionen, wenn die Ionen Schwingungen mit constanter Amplitude und einer gemeinsamen Oscillationsdauer ausführen. Man sieht leicht, dass in diesem Falle den Gleichungen genügt wird durch Werthe von , , , , , , welche ebenfalls die Periode haben. Daher der wichtige und fast selbstverständliche Satz:

Finden in einer Lichtquelle Ionenschwingungen von der Periode statt, so zeigen und in jedem Punkte, der an der Translation der Quelle theilnimmt, dieselbe Periodicität.

Die Auflösung der Gleichungen führt zu ziemlich complicirten Ausdrücken. Zur Vereinfachung empfiehlt es sich, zunächst die Componenten des Vectors (§ 20) zu berechnen.

Nach (VIb) ist

Demgemäss wollen wir die zweite und dritte der Gleichungen (A) mit resp. multipliciren und sie dann zu der ersten der Gleichungen (B) addiren. Wir erhalten auf diese Weise, unter Berücksichtigung der Bedeutung von (§ 19)

[49]

§ 31. In der weiteren Rechnung sollen nun Grössen von der Ordnung weggelassen werden. Erstens vernachlässigen wir also auf der rechten Seite die Glieder mit zwei Factoren , oder , da sich auch ein im übrigen ähnliches Glied mit vorfindet; wir behalten also nur noch

Zweitens schreiben wir für die Operation , welche auf anzuwenden ist,

Die Gestalt dieses Ausdruckes legt es nahe, statt eine neue unabhängige Variable

(34)

einzuführen und , sowie und als Functionen von , , und zu betrachten. Wir bezeichnen die dieser Auffassung entsprechenden Differentialquotienten mit

und legen dem Zeichen die Bedeutung

bei.

[50] Es ist nun

(35)

und

sodass man zur Bestimmung von findet

Eine Lösung dieser Gleichungen ist leicht anzugeben. Man denke sich nämlich drei Functionen , , , welche den Bedingungen

(36)

genügen, und setze

(37)

Nachdem hierdurch gefunden ist, liefert uns die Gleichung (IIIb) den Werth von und also auch, wofern man von additiven Constanten Abstand nimmt, den Werth von . Aus (VIb) folgt dann weiter ; aus (Vb) und (VIIb) und . Dass in dieser Weise wirklich allen Gleichungen genügt wird, lässt sich beweisen, soll aber hier der Kürze halber unerörtert bleiben.

Dagegen soll im nächsten Paragraphen der Werth von angegeben, und im § 33 die Lösung für einen speciellen Fall weiter entwickelt werden.

Es sei hier noch die Bemerkung vorausgeschickt, dass die Variable als Zeit betrachtet werden kann, gerechnet von einem von der Lage des betreffenden Punktes abhängigen Augenblick an. Man kann daher diese Variable die Ortszeit dieses Punktes, im Gegensatz zu der allgemeinen Zeit , nennen. Den Uebergang von der einen Zeit zur anderen vermittelt die Gleichung (34).

§ 32. Das Product , in der ersten der Gleichungen (36) ist, wie schon bemerkt wurde, eine bekannte Function von , , und . Wir setzen demgemäss

[51]

und haben dann in

(38)

eine Lösung von (36)[1]. Man hat sich hierbei zwei Punkte vorzustellen, erstens den festen Punkt , für welchen wir berechnen wollen und den wir nennen, zweitens einen beweglichen Punkt , welcher den ganzen Raum zu durchwandern hat, wo von Null verschieden ist. Es stellt die Entfernung dar, die Ortszeit von in dem Augenblick, für den wir zu berechnen wünschen; weiter hat man unter , , , die Coordinaten von , und unter ein Element des soeben erwähnten Raumes zu verstehen. Die Function ist der Werth von in diesem Elemente, und zwar, wenn die daselbst geltende Ortszeit ist.




Ein einziges leuchtendes Molecül.


§ 33. Zur Erregung der electrischen Schwingungen diene ein einziges Molecül mit oscillirenden Ionen; sei ein beliebiger fester Punkt in demselben — der Kürze wegen sagen wir, „es befinde sich das Molecül in “ —, und für werde ein Ort gewählt, dessen Entfernung von sehr viel grösser ist als die Dimensionen des Molecüls. Zur Unterscheidung sei .

Wir wollen nun die verschiedenen, in die Formel (38) eingehenden Distanzen alle durch ersetzen und überdies von den Differenzen der Ortszeiten an den verschiedenen Punkten des Molecüls absehen. Auf diese Weise wird

[52] wo alle vorkommenden sich auf denselben Zeitpunkt beziehen, und zwar auf den Augenblick, wo die Ortszeit von

ist.

Da für alle Punkte eines Ions gleich ist, so verwandelt sich, wenn man für die Ladung eines solchen Theilchens schreibt, das letzte Integral in

Die Summe erstreckt sich hier über alle Ionen des Molecüls.

Stellt nun weiter die Verschiebung eines Ions aus der Gleichgewichtslage dar, so ist

und

Dies hat eine einfache Bedeutung. Man kann den Vector füglich das electrische Moment des Molecüls nennen und ihn mit bezeichnen. Es wird dann

nach dem Gesagten hat man hier den Werth des Differentialquotienten für den Augenblick zu nehmen, in welchem die in geltende Ortszeit ist. Offenbar kann man auch schreiben

worin die erste Componente des electrischen Momentes in eben jenem Augenblick bedeutet. Nachdem hierdurch und durch zwei Gleichungen von derselben Gestalt , , für den Punkt und für die daselbst geltende Ortszeit gefunden sind, ist die Untersuchung der sich fortpflanzenden Schwingungen sehr einfach. Die Gleichungen (37) ergeben

(39)

[53] und (IIIb) verwandelt sich, weil wir den Werth von ausserhalb des Molecüls suchen, in

oder, auf Grund von (35), in

Bringt man die zwei letzten Glieder auf die linke Seite, so erhält man dort, wie aus (Vb) hervorgeht, gerade , oder ; man darf ja, da sich und nur um Grössen von der Ordnung von einander unterscheiden, das Vectorproduct in (Vb) durch ersetzen.

Aus

ergibt sich nun durch Integration; Constanten lassen wir dabei fort, da es uns am Ende nur um Schwingungen zu thun ist.

Man substituire die Werthe (39) und setze

Es wird dann

(40)

und zwar beziehen sich hier noch immer , , auf den oben angegebenen Augenblick.

Wie nun die übrigen in (Ib)-(VIIb) vorkommenden Grössen bestimmt werden können, leuchtet sofort ein.

§ 34. Einige Worte noch über den bei obiger Rechnung begangenen Fehler. Dass in (38) der Factor durch ersetzt wurde, bedarf wohl keiner Rechtfertigung. Wir haben aber ausserdem nicht für die Function die Werthe von zu den richtigen Zeiten genommen. Einmal haben wir in (38) durch ersetzt, also in der Zeit, wenn eine der [54] Dimensionen des Molecüls ist, einen Fehler von der Ordnung begangen, zweitens wurde die Ungleichheit der Ortszeiten an den verschiedenen Stellen des Molecüls nicht in Betracht gezogen, und darin liegt nach (34) ein Fehler von der Ordnung . Doch man braucht sich selbst dann, wenn man Grössen von der Ordnung beibehalten will, um diesen zweiten Fehler nicht zu kümmern, wenn schon der erste vernachlässigt werden darf. Das ist nun in der That der Fall, wenn die Dimensionen des Molecüls sehr viel kleiner als die Wellenlänge sind. Es ist dann auch erheblich kleiner als , und es wird sich in der Zeit der Zustand im Molecül nicht merklich ändern.

§ 35. Die Formeln für die Fortpflanzung von Schwingungen erhält man, wenn man in die Gleichungen (39) und (40) für , , goniometrische Functionen der Zeit einsetzt. Ist z. B.

und, als Function der für die Lage des Molecüls geltenden Ortszeit,

so ist in einem äusseren Punkte in der Entfernung und für die zu diesem gehörende Ortszeit

Wollen wir nun schliesslich einmal eine ruhende Lichtquelle betrachten, so haben wir einfach alle Accente fortzulassen. Die Formeln stimmen dann mit den Ausdrücken überein, durch welche Hertz[2] die Schwingungen in der Nähe seines Vibrators dargestellt hat.

[55]
Die Richtung der Wellennormale.


§ 36. Es sollen jetzt die Schwingungen in solchen Entfernungen vom leuchtenden Molecül untersucht werden, die erheblich grösser als die Wellenlänge sind. Zu beachten ist hierbei, dass in (39) und (40) , , goniometrische Functionen von

sind; wir wollen nämlich von jetzt ab statt schreiben. Die über die Länge dieser Linie gemachte Annahme berechtigt nun dazu, bei allen Differentiationen nach , , nur die Veränderlichkeit des Argumentes jener goniometrischen Functionen zu berücksichtigen, aber Factoren wie , oder , womit diese Functionen multiplicirt sind, als constant zu betrachten.

Für eine beliebige der Grössen , , , , , - wir wollen sie nennen - findet man demzufolge einen Ausdruck von der Form

(41)

wo und zwar von der Länge und der Richtung der Linie — es ist der Ort des Molecüls, und der betrachtete äussere Punkt — abhängen, aber, wenn nur gross genug ist, in einem Raume, der viele Wellenlängen umfasst, als constant betrachtet werden dürfen. Während , , die Coordinaten von sind, bezeichnen wir mit , , die Coordinaten von , und mit , , die Richtungsconstanten der Verbindungslinie . Ersetzt man nun in der Formel (41) durch

und durch den Werth (34), so ergibt sich

(42)

[56] In einem nicht zu ausgedehnten Gebiete darf man auch , , als constant ansehen und also die Bewegung als ein System ebener Wellen betrachten. Die Richtungsconstanten , , der Wellennormale sind offenbar aus der Bedingung

(43)

zu bestimmen. Für fallen , , mit , , zusammen und stehen die Wellen senkrecht zu . Dem ist nicht mehr so, wenn die Lichtquelle sich bewegt. Aus (43) folgt dann, dass die Wellen senkrecht zu der Linie stehen, die mit derjenigen Stelle verbindet, an welcher sich die Lichtquelle in dem Augenblick befand, als sie das Licht aussandte, das zur Zeit erreicht.




Das Doppler’sche Gesetz.


§ 37. In einem Punkte, der sich mit dem leuchtenden Molecül verschiebt — und also auch für einen Beobachter, der an der Translation theilnimmt —, wechseln, wie wir sahen (§30), die Werthe von so oft in der Zeiteinheit, wie es der wirklichen Schwingungszeit der Ionen entspricht.

Man kann aber auch untersuchen , mit welcher Frequenz diese Werthe in einem ruhenden Punkte das Zeichen wechseln. Diese Frequenz bedingt die Schwingungsdauer für einen stillstehenden Beobachter. Die Frage lässt sich sofort erledigen, wenn man statt , , neue Coordinaten , , einführt, welche sich auf ein ruhendes Axensystem beziehen. Haben die beiden Systeme dieselben Axenrichtungen und zur Zeit denselben Anfangspunkt, so ist

(44)

und ergeben sich nach (42) für Ausdrücke von der Form

worin

[57] die Componente von nach der Verbindungslinie ist.

Die „beobachtete“ Schwingungsdauer wird also

was mit dem bekannten Doppler’schen Gesetze übereinstimmt[3].

[58] Soll sich das Gesetz ergeben, wie es gewöhnlich angewandt wird, so muss natürlich noch angenommen werden, dass die Translation nichts an der wirklichen Schwingungsdauer der leuchtenden Theilchen ändere. Ich muss es unterlassen, von dieser Hypothese Rechenschaft zu geben, da wir von der Natur der Molecularkräfte, welche die Schwingungsdauer bestimmen, nichts wissen.

§ 38. Der Fall, dass die Lichtquelle ruht und der Beobachter fortschreitet, lässt eine ähnliche Behandlung zu. Sind nämlich, wie oben, , , die Coordinaten, bezogen auf ruhende Axen, so ist jetzt, in einem entfernten Punkte , eine beliebige der Grössen darzustellen durch

(46)

Die zur Wahrnehmung kommende Bewegung beschreibt man aber am passendsten mittelst eines Coordinatensystems, das an der Translation des Beobachters theilnimmt. Es sind da wieder die Beziehungen (44) anwendbar, und es verwandelt sich (46) in

woraus sich für die jetzt „beobachtete“ Schwingungsdauer ergibt



  1. Den Beweis hierfür findet man z. B. in meiner Abhandlung: La théorie électromagnétique de Maxwell et son application aux corps mouvants.
  2. Hertz. Wied. Ann., Bd. 36, p. 1, 1889.
  3. Die hier gegebene Ableitung lässt sich leicht so verallgemeinern, dass sie auf alle ähnlichen Fälle, z. B. auch auf tönende Körper, anwendbar wird. Ein beliebiger Körper verschiebe sich mit der constanten Geschwindigkeit in einem Medium, das entweder in Ruhe bleibe, oder in einen stationären Bewegungszustand gerathe. In diesem letzteren Falle (der den ersteren miteinschliesst) findet man in irgend einem Punkte , der mit dem Körper fortschreitet, immerfort denselben Bewegungszustand, und kann man also sagen, es nehme die ganze Figur, welche die Vertheilung der Geschwindigkeiten in der Umgebung von darstellt, an der Translation theil.
    Man denke sich nun weiter, dass die Theile des Körpers einfache Schwingungen von der Periode und constanter Amplitude ausführen. Es ist wohl ohne weiteres klar, dass dann, wenn seit dem Anfang dieser Bewegung eine genügend lange Zeit verstrichen ist, in dem soeben genannten Punkte die Abweichung vom Gleichgewichte, oder, besser gesagt, von dem stationären Strömungszustande, nothwendig die Periode haben muss. Führt man jetzt die Coordinaten , , in Bezug auf ein mit dem Körper fortschreitendes Axensystem (relative Coordinaten) ein, und beschränkt sich auf einen Raum, der so weit von A entfernt und so klein ist, dass man von ebenen Wellen in demselben reden darf, so wird sich die genannte Abweichung darstellen lassen durch Ausdrücke von der Form
    (45)

    Es sind hier , , die Richtungsconstanten der Wellennormale, während V die Fortpflanzungsgeschwindigkeit bedeutet.
    Will man nun wissen, mit welcher Frequenz in einem ruhenden Punkte das Zeichen wechselt, so hat man die Coordinaten , , in Bezug auf ruhende Axen einzuführen. Durch Anwendung der Beziehungen (44) verwandelt sich (45) in

    wo

    die Componente von nach der Wellennormale ist.
    Für die beobachtete Schwingungsdauer ergibt sich jetzt

    Was wir oben ohne Beweis hingestellt haben, dass nämlich in dem Medium überall die Periode bestehe, ist nichts Anderes, als was Petzval, in seinen Angriffen gegen die Doppler’sche Theorie, das Gesetz von der Unveränderlichkeit der Schwingungsdauer nannte (Wiener Sitz.-Ber., Bd. 8, p. 134, 1852). Nur vergass derselbe zu bemerken, dass dies Gesetz nur dann Geltung habe, wenn man die Erscheinungen als abhängig von und den relativen Coordinaten betrachtet.
    Der Beweis des Satzes ist übrigens leicht zu führen, wenn die Schwingungen unendlich klein sind, und man es also mit homogenen, linearen Differentialgleichungen zu thun hat.
    Was die akustischen Erscheinungen betrifft, so wurde das Problem ausführlich behandelt von Was (Het beginsel van Doppler in de geluidsleer, Leiden, Engels, 1881).


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