Vernunft und Wahnsinn
[327] Vernunft und Wahnsinn.
Dem Morgen träumt nicht, was der Abend bringt,
Wenn lächelnd wohl aus rosenrothem Osten
Sein erster Strahl durch Wald und Fluren dringt
Des Thaues frische Perlensaat zu kosten.
Und Hirsche wandeln zu des Thales Bronnen;
Wenn um die Gletscher still der Adler kreis't,
Sich in der Frühe heil'gem Licht zu sonnen.
Blau schaut die Blume aus des Feldes Garben;
Es fließt der Strom in Regenbogenfarben
Zum Meere, wiegend seiner Wellen Tanz.
Und rauschend im gewalt'gen Wogenliede
Dehnt unabsehbar sich die grüne Fluth -
Auf Festland, Insel und Gewässern ruht.
Doch wie zum Mittag wandelt sich der Morgen,
Hüllt sich in Schleier auch des Tages Pracht.
Was einer frühen Stunde tief verborgen,
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Der Himmel tönt von rasselnden Gewittern;
Die Erde zuckt und birst zu jähem Spalt,
Und heulend über Fels und Eichensplittern
Der Sturm entfesselt seine Bahnen wallt.
Und Dunkel herrscht, bis aus entwölkten Höh'n,
Als ob sie nichts von Sturm und Wetter wüßten,
Die Sterne ruhig strahlend niederseh'n.
Und die vom Staub bis auf zum Firmamente
Sie schlummern dann, die starken Elemente,
Bis sie ein neuer Kampf zusammenballt.
So ewiglich, mit wechselndem Gestalten,
Sklavischen Laufes rollt und kreis’t das All!
Noch wenden sich als zu gewohntem Fall.
Die Welt und Welten aneinander bannte
Mit unerbittlicher Nothwendigkeit:
Nur in den Geistern ihrer Menschen brannte
Seit von der Lippe greiser Patriarchen
Der Weisheit blumenreiche Rede floß,
Bis wo die Schädel stürzender Monarchen
Zerstampft der Freiheit jugendliches Roß:
Gesungen stets den mahnenden Gesang,
Daß Jeder folge seinem Gram und Grimme
Wie seines Herzens liebevollem Drang.
Die gleich der Möve keck die See umschwanken,
Die gleich der Wolke blitzen den Gedanken
Und gleich dem Falken forschend niederschau'n;
Die sich mit Palmen über Hügeln wiegen,
Mit Rosen träumen auf bemooster Flur,
Sie sollten folgen ihrem Innern nur! -
In gleicher Schönheit flammten durch die Zeiten
Des Raumes Wunder; nur zu höherm Flug
Mocht' seines Geistes ries'ge Schwingen breiten
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Der, ob er knechtisch sich im Staube wühlte
Und zitternd sich vor Thron und Altar wand -
Doch wieder keck mit seinen Göttern spielte
Und freier nur und herrlicher erstand!
Vernunft und Wahnsinn! Schon Jahrtausend' lang
Hat dieses fürchterliche Paar gerungen,
Den Kampf gewälzt vom Auf- zum Niedergang.
Es weht der Staub zermalmter Nationen
Und ob sie ruhig bei einander wohnen -
Sie rasten nur zu neuer, größ'rer That!
In Ost und West ein reges Völkerleben;
Vom Meere schallt's bis zu der Wüste Saum.
Auf Feldern, Gassen und der Märkte Raum.
Und kommt der Morgen sacht herangeschritten:
Da scheint's, nur Segen schmücke rings das Land,
Als schaue Liebe süß aus hundert Hütten,
Wohl mag die Blume außen üppig winken,
In ihrem Herzen wohnt nur Angst und Qual!
Wie einst muß heute noch der Weise trinken
Des Wahnsinns giftdurchflutheten Pokal.
Die satt durchtaumeln Tempel und Palast;
Die Armuth röchelt Wimmern und Verdammen
Und wild die Lust aus gold’nen Schüsseln praßt!
Doch wie der Wahnsinn, folgend seinem Rechte,
Hat die Vernunft ihr Recht, daß sie die Nächte
Des Wahnsinns funkenstiebend auch erhellt!
Daß, eine Löwin, sie die Glieder schüttelt
Und wieder naht in drohender Gestalt;
Und über Trümmer fort zum Siege wallt!
Vernichtet wird der Wahn zu Boden rollen,
Der mit Gewalt und schmeichelndem Geschwätz
Gebeut, daß Alle Einem folgen sollen,
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Der seine Liebe macht zu Aller Liebe
Und seinen Haß zum Hasse Aller nur,
Der sie vergleicht, die menschlich freien Triebe,
Der Elemente sklavischen Natur! -
Anbrach der wilde, wetterschwang're Tag.
Es hat den langen, herben Streit begonnen,
Was schlummernd einst in tiefster Seele lag.
Fort mag er sich durch alle Zeiten thürmen;
Nur aus des Wahnsinns fürchterlichsten Stürmen
Wird die Vernunft zu schönerm Siege geh'n! -