Textdaten
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Autor: H. Wild [Adele Wesemael]
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Titel: Verheirathet
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 45–49, S. 745–748, 761–764, 777–780, 793–799, 824–827
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[745]
Verheirathet.
Novelle von H. Wild.


Am Saume eines mexicanischen Urwaldes hielten, fackelbeleuchtet, zwei Reiter in klarer Nacht, der Eine ein europäisch gekleideter Weißer, die Linien des Gedankens auf der vergeistigten Stirn, der Andere, welcher die Fackel trug, ein Neger mit pfiffigem Gesichtsausdrucke.

„Ist’s hier,“ fragte der Erstere, „wo wir rasten werden?“

„Ja, Herr,“ antwortete der Fackelträger.

Sie ritten auf ein Blockhaus zu, das wie eingeklemmt aus Baumgruppen hervorblickte, wohl eine Art Nothwirthshaus, das hier, fern von jeder anderen menschlichen Wohnung, wie Freundesgruß lockte. Es schien von Gästen überfüllt zu sein; denn Lärm, Lieder und das dumpfe Gerassel der Negertrommel schollen den Ankommenden schon von weitem entgegen, und zahlreiche dunkle Gestalten bewegten sich in dem innern Raume, der durch die rothe Lohe brennender Kienfackeln und die Gluth eines mächtig aufflammenden Herdfeuers hell erleuchtet war. Aus den Fugen der Wände und den Oeffnungen, die als Thür und Fenster dienten, strahlte dieser Schein grell in die Nacht hinaus und zeichnete das Gebäude scharf ab von den stillen, schwarzen Massen des Urwaldes, die es von drei Seiten umgaben.

Einen Augenblick zögerte der Weiße, sich dem Schutz dieses ihm völlig unbekannten Obdaches anzuvertrauen. Es war die Zeit des Secessionskrieges; die unteren Theile der Bevölkerung, weit über die Grenzen der Union hinaus, waren durch denselben aufgewühlt, die Leidenschaften wogten in bedenklicher Weise, und für einen Reisenden, namentlich einen, der dem Welttheile fremd und mit dessen Sitten und Bräuchen nur wenig vertraut war, mußte Vorsicht doppelt gerathen erscheinen. Doctor Edmund Walter, ein junger deutscher Botaniker, befand sich auf Streifzügen durch einen Theil von Mexico, um die Wissenschaft durch Forschungen auf dem Gebiete der dortigen Flora zu bereichern; er hatte seit Wochen kein menschliches Antlitz gesehen, jenes seines Negers ausgenommen, und da dieser, der das Blockhaus kannte, feierlich versicherte, daß auch Jäger und Reisende besseren Standes, welche Zufall oder Geschäfte des Weges führten, hier nicht selten einzukehren pflegten, und daß der Wirth ein ruhiger, zuverlässiger Mann sei, so entschied die Sehnsucht, einen mehr oder minder gebildeten Menschen zu finden, von dem man Nachrichten aus den bewohnten Theilen des Landes erhalten konnte, dazu die Aussicht auf eine heiße Bowle, die nach dem langen Ritt in der empfindlich kalten Nachtluft doppelt willkommen erschien.

Der junge Gelehrte sprang vom Pferde, dessen Besorgung er seinem Neger überließ, und betrat das Haus.

Was er suchte, fand er nur zur Hälfte. Zwar wimmelte es in dem von Rauch geschwärzten Raume von Gestalten der verschiedensten Art; alle menschlichen Färbungen, bis in ihre kühnsten Schattirungen, schienen daselbst vertreten zu sein, und die romantische Zerrissenheit der Anzüge hätte das Herz eines Malers mit Wonne erfüllt. Allein vergebens spähte der Botaniker nach einem Repräsentanten der weißen Rasse, außer dem Wirthe, dessen scheue, abgeängstigte Physiognomie nicht darnach angethan war, besonderes Vertrauen einzuflößen. Es blieb ihm daher nichts übrig, als sich mit seiner eigenen Gesellschaft zu begnügen.

Er setzte sich in einen Winkel, bestellte sich die Bowle und ein Abendessen, so gut es eben zu haben war, und während er auf beides wartete, betrachtete er ausruhend das ihn umgebende Bild. Schwatzend, lachend und singend, auf wackligen Bänken und Stühlen sitzend oder auf dem Fußboden kauernd, essend und trinkend oder mit Karten und Würfeln beschäftigt, hatte die Gesellschaft ihrerseits nicht sonderlich auf den neuen Ankömmling geachtet. Ein Einziger hatte eine Ausnahme davon gemacht, und gerade dieser war es, der nach der ersten Umschau auch Walter’s Aufmerksamkeit ausschließlich fesselte.

Es war ein großer, wohlgebauter Mulatte mit auffallend kräftigem Körper, dessen intelligente, aber finstere und leidenschaftliche Gesichtszüge sich gelegentlich verzerrten unter den Zuckungen der Spielwuth, mit welcher er dem wechselnden Glücke seiner Würfe folgte. Besser gekleidet als alle Uebrigen, sogar mit unleugbarem Geschmack, wenn auch in den schreienden Farben, welche sein Stamm mit Vorliebe trägt, schien er ebenso an Geldmitteln wie an Nichtachtung derselben seinen Mitspielern überlegen zu sein; nach der Art, wie er bei Verlusten aus einem großen netzartigen Beutel, der an seinem Gürtel befestigt war, die Geldstücke den Gewinnern hinwarf, und wie er sie einstrich, wenn er gewann – was meistens geschah – galt seine leidenschaftliche Aufregung offenbar nicht sowohl dem Gewinn oder Verlust, als vielmehr dem Spiel selber.

Das hätte schon genügt, um Walter’s Interesse zu wecken. Auffallender noch war es, daß der Mann trotz seiner Aufgeregtheit keinen Augenblick die Verbindung mit der nicht beim Spiel betheiligten Umgebung verlor. Kurz, doch stets mit befriedigender Deutlichkeit beantwortete er jede der zahlreichen Fragen, die von dem Einen und Andern, welcher zu ihm trat, an ihn gerichtet wurden, und warf oft ganz unerwartet blitzartige, entscheidende Bemerkungen in die Gespräche hinein, die zwischen verschiedenen Gruppen in seiner näheren Umgebung gehalten wurden. Und überall [746] wurde, was er sprach, mit der zustimmenden Unterwürfigkeit entgegengenommen, die den Untergebenen gegen den Vorgesetzten ziemt.

Der Mann war unzweifelhaft eine erste Autorität unter seines Gleichen.

Während Walter sein Nachtmahl verzehrte und dazu seine Bowle schlürfte, überkam ihn plötzlich ein Gefühl, als habe er den Menschen schon früher gesehen, dieselbe hochragende Gestalt, dasselbe gebieterische Tragen des Kopfes und die meist von den langen Lidern verdeckten Augen, die, plötzlich sich öffnend, Blitze zu schleudern schienen. Hier und da auf den Marktplätzen der Städte durch die Menge streifend, im Dunkel des Urwaldes rasch verschwindend oder unversehens auftauchend aus den hohen Gräsern der Prairie – irgendwo an solchen Orten, und zwar öfters, mußte ihm der Mann begegnet sein, und jetzt dachte er daran, daß ja auch bei seinem Eintreten der Blick des Mulatten sich langsam von den Würfeln erhoben und ihn gestreift hatte mit einem Ausdruck – Walter konnte nicht sagen mit welchem, aber ein angenehmer war es keinesfalls gewesen. Es lag überhaupt nichts Anmuthendes in der glühenden dunklen Tiefe dieses Blickes, der selbst in seiner Ruhe an den des Königstigers erinnerte, wenn dieser, übersättigt und in sicherem Versteck hingelagert, das scheue ahnungslose Wild ungefährdet herankommen und vorbeistreifen läßt, zu träge, um eine Klaue zu rühren – nur der blinzelnde Blick folgt nach, als berechne er schon jetzt an dem Lebenden den Werth des ihm sicher zufallenden künftigen Fraßes.

Und wie Walter es dachte, hoben sich wieder jene düstern Augen, und wieder hefteten sie sich auf ihn mit demselben unerklärlichen Ausdruck, der dem jungen Manne jetzt ein beklommenes Gefühl erregte. Er stand auf und trat in’s Freie hinaus, um aus dem Gesichtskreise des Mulatten zu kommen.

Es war eine wundervolle, wenn auch herbstlich kalte Nacht. Durch die dichte Finsterniß der Tropen leuchtete der wolkenlose gestirnte Himmel mit bezaubernder Pracht. In die flammende Herrlichkeit über ihm verloren, saß er auf einem Baumstumpfe und hatte bald den sonderbaren Mulatten und sogar sich selbst vergessen.

Ein schwaches Geräusch vom Hause her weckte ihn aus seiner Versunkenheit, und den Blick dahin wendend sah er unter der weiten Thüröffnung den Mulatten stehen, deutlich von dem erhellten Hintergrunde sich abhebend, die Hand über die Augen gelegt, als spähe er aufmerksam in die Finsterniß hinaus. Neben ihm stand ein Neger, mit dem er gesprochen zu haben schien, doch huschte dieser eben in das Haus. Walter glaubte seinen Diener erkannt zu haben, nur war die Erscheinung zu flüchtig gewesen, um einen sichern Anhalt zu bieten. Der Mulatte mußte sich jetzt genügend orientirt haben, denn raschen sichern Fußes schritt er vorwärts durch die Finsterniß und blieb, als sehe er Walter, in Gesprächsweite von ihm stehen.

„Seid Ihr der kräuterkundige Fremde, der seit einiger Zeit sein Wesen in dieser Gegend treibt?“ fragte er im correctesten Französisch und mit einer Stimme, deren eigenthümlicher Wohllaut, trotz der herrischen Betonung, dem Botaniker schon vorhin aufgefallen war.

„Ja,“ antwortete er verwundert. „Wollt Ihr etwas von mir?“

„Ihr kehrt in Eure Heimath zurück, und zwar bald, sowie Ihr den Zweck dieser Reise erreicht habt?“

„Allerdings,“ versetzte Walter, nicht wenig überrascht, den Farbigen in seine Absichten so gut eingeweiht zu sehen.

Der Mulatte schwieg eine Weile.

„Wohl dem, der eine Heimath hat!“ sagte er dann.

„Ja wohl,“ stimmte Walter dieser unerwarteten, fast lyrisch gefärbte Bemerkung zu.

„Wollt Ihr heirathen?“ fragte plötzlich der Mulatte.

Walter stutzte. Der Mann schien es darauf abgesehen zu haben, ihn von Ueberraschung zu Ueberraschung zu führen.

„Nein,“ sagte er endlich, und dann mußte er lachen. Ein blondes Bäschen fiel ihm ein, das ihm stets als der Inbegriff aller weiblichen Abgeschmacktheit erschienen war und mit dem seine gute Mutter verfängliche Pläne gegen die Freiheit ihres Sohnes geschmiedet. Diese mütterlichen Bestrebungen, denen er nicht schroff begegnen wollte, hatten ihr gutes Theil dazu beigetragen, ihm die Reise über’s Meer als eine angenehme Abwechselung erscheinen zu lassen.

„Ihr seid ein junger Mann und bedürft einer Hausfrau,“ fuhr der Mulatte fort, „vielleicht seid Ihr schon verheirathet?“

„Auch das nicht. Die Wissenschaft ist bis jetzt meine einzige Geliebte gewesen, und nie wird sie mein Herz mit einem irdischen Weibe theilen. Ich denke, Ihr versteht mich,“ setzte Walter gutlaunig hinzu. Die Sache amüsirte ihn.

Vielleicht verdroß der leichte Spott den Mulatten. „Des Menschen Schicksale werden noch durch andere Einflüsse geleitet, als den eigenen Willen,“ bemerkte er scharf.

„Gewiß,“ versetzte Walter. „Allein gerade im Punkte des Heirathens erfreut sich der Mann, wenigstens bei uns, einer glücklichen Freiheit, die Keiner sich so leicht wird entwinden lassen.“

„Es kommt auf die Macht der Umstände an. Denkt Euch, Ihr hättet keine Wahl, als die Frau –“

„Ich würde einfach Nein sagen.“

„Auch um den Preis Eures Lebens?“

Walter verlor die gemüthliche Stimmung.

„Das Leben ist Jedem eine kostbare Sache,“ sagte er ernst. „Hat man doch nur das eine. Und eben darum hat der Staat diese kostbare Sache unter den Schutz des Gesetzes gestellt.“

Ueber die Lippen des Mulatten kam ein Laut, von dem es schwer war zu entscheiden, ob er mehr Zorn oder Verachtung ausdrücken sollte. Walter erhob sich. Das Gespräch, in dem er nichts als eine rohe Verhöhnung sah, fing an, ihm lästig zu werden, und er wollte in das Haus zurück. Der Farbige vertrat ihm den Weg.

„Bleibt!“ herrschte er den Deutschen an. „Ihr sollt meinen Willen thun, ob Ihr nun wollt oder nicht. Ich habe nicht umsonst Tage und Wochen und meiste besten Kundschafter daran gewendet, bis ich Euch hierher gelockt. Zwingt mich nicht, Mittel anzuwenden, vor denen all Euer Widerstand vergebens wäre. Das Mädchen, für das ich Euch bestimmt, vereinigt Alles, was ein Mann Eurer Art sich wünschen kann.“

„Ich aber will sie nicht!“ rief Walter, dem der Zorn nachgerade zu Kopfe stieg.

„Sie ist schön.“

„Meinetwegen.“

„Sie ist reich.“

Walter antwortete nicht und machte ein paar Schritte dem Hause zu. Der Mulatte blieb dicht neben ihm.

„Ihr sucht mir umsonst zu entkommen,“ sagte er. „Ueberlegt es nochmals! Ihr seid in meiner Gewalt. Wollt Ihr das Mädchen heirathen oder nicht?“

„Ich habe es Euch schon gesagt – nein!“ rief Walter, um so ärgerlicher, als er zu seiner Beschämung fühlte, daß er immer mehr die Geduld verlor, während sein Gegner vollkommen ruhig blieb.

„Nun gut, so seid Ihr mein Gefangener,“ sprach der Mulatte und hatte im selben Moment Walter’s Arm mit eisernem Griffe gefaßt.

Der junge Botaniker war den gewöhnlichen Vorfällen des Lebens gegenüber weit mehr ein Träumer, als ein Mann der That. In seiner Wissenschaft, wie in einer unbezwinglichen Festung, verschanzt, hatte er sich von den Leidenschaften und Wirren der außerhalb sich bewegenden Wirklichkeit bisher nur wenig berührt gefühlt. Dennoch stählte der rohe Angriff, der ihn so unerwartet traf, seine Nerven blitzartig zu ihrer ganzen, von ihm selbst kaum geahnten Kraft. Mit einem raschen Rucke machte er sich frei, sprang zwei Schritte zurück und hatte im nächsten Augenblicke auch schon den Revolver gefaßt. Aber mit der Waffe in der Hand und dem Bewußtsein der damit verbundenen Uebermacht, kehrte ihm auch sogleich die gewohnte Mäßigung zurück. Er war überzeugt, er habe es mit einem Wahnsinnigen zu thun, und einen Kranken niederschießen wegen der Aeußerung seiner Krankheit, das war für sein Gewissen weit ärger, als ein gewöhnlicher Mord. Er trat daher noch etwas weiter zurück, und den Revolver in Bereitschaft haltend, sagte er ruhig, aber fest: „Ich kenne Euch nicht und weiß nicht, was Ihr wollt. Laßt mich in Frieden! Ich habe nichts mit Euch zu thun –“

„Ihr sollt mich kennen lernen,“ zischte der Mulatte, und in seiner Stimme, obgleich sie jetzt verhalten war, grollte es wie drohendes Gewitter. „Ja, Ihr sollt Melazzo Guizcoa kennen lernen, und daß er noch nie vergebens gedroht –“

Und plötzlich, wie rasend und blind, drang er von Neuem auf den jungen Gelehrten ein.

War es das Knacken des Hahnes an dessen Revolver oder [747] der gleichzeitige Schrei eines Condors, der, wie aus der Ferne, und doch scharf und deutlich über den Wipfeln hin zu den Beiden drang, was ihn plötzlich in seinem Anlaufe inne halten ließ? Er war jetzt Walter so nahe, daß dieser sein rasches heftiges Athmen vernehmen konnte, während er die dunkle Gestalt, sich schwarz abzeichnend von der umgebenden Finsterniß, in gespanntem Horchen regungslos stehen sah. Noch einmal ertönte der Schrei – und noch einmal, diesmal in schneller Wiederholung – der Mulatte wich zurück. Doch auch im Hause mußte der Schrei seine Wirkung thun, denn unter den Leuten drinnen entstand plötzlich eine jähe, sich überstürzende Bewegung.

„Ich muß fort,“ sagte der Mulatte, tief aufathmend. „Denkt an Melazzo Guizcoa – vergeßt den Namen nicht, denn ich habe beschlossen, daß er mit Euch bis an das Ende Eures Lebens gehen soll! Lebt wohl! Wir werden uns wiedersehen –“

Und er war verschwunden, als habe der Boden ihn verschluckt.

Walter kehrte in das Haus zurück; es war leer. Er sah sich nach seinem Neger um und entdeckte ihn nach kurzem Suchen, fest eingeschlafen, im Stalle neben den Pferden. Der Mensch, welcher ihm durch eine erstaunliche Kenntniß der Wege in der Gegend bisher sehr nützlich gewesen, war ihm plötzlich verdächtig geworden, und er faßte den Entschluß, ihn am andern Morgen zu entlassen.

Als er wieder in die Wirthsstube trat, fand er dieselbe von neuem Leben erfüllt. Ein zahlreicher Trupp Männer, welche eben von den Pferden gestiegen waren, zwängte sich lärmend zur Thür herein, während draußen Pechfackeln, welche der Schaar den Weg beleuchtet, auf der Erde ausgestoßen wurden. Es waren reiche mexikanische Pflanzer und Sclavenbesitzer, zu denen sich einige der nahe angrenzenden Union gesellt hatten, durchweg Weiße und von den verschiedensten Altersstufen, vom unbärtigen Jüngling bis zum silberhaarigen Greise, aber Alle rüstig, Alle bis zu den Zähnen bewaffnet, Alle auch, ohne Unterschied, von wüstem, zügellosem Aussehen und mit jenem unverkennbaren Gepräge, welches nur die lange Gewohnheit des Befehlens den Gesichtern eingräbt. Mit ihrem rücksichtslosen Hereinstürmen, ihrem Rufen, Lachen und Schreien und dem harten Auftreten ihrer hohen schweren Stiefel bildeten sie einen scharfen Gegensatz zu der dunklen, wilden, dürftig beschuhten Schaar, die so gespensterhaft flüchtig in die Nacht verschwunden war.

Ein alter Neger, der dem Wirth gehörte, hatte alle Mühe, dem ungeduldigen Begehren der herrischen Gäste nach heißen Getränken mit genügender Schnelle zu entsprechen, und auch die junge Wirthin war erschienen, um bei ihrer Bedienung behülflich zu sein. Die ganze Gesellschaft befand sich in der größten Aufregung. Walter war kaum eingetreten, so brachte man gewaltsam den Wirth geschleppt, und auf das Haupt des todtbleichen zitternden Mannes fuhren von allen Seiten Fragen und Flüche nieder, wie Schloßen auf ein Weizenfeld, während er, trotz der Angst, die ihn sichtbar schüttelte, starrsinnig dabei blieb, daß er nichts wisse, Niemand gesehen habe und sich überhaupt um seine Gäste nur so weit kümmere, als es bei seinem Beruf als Wirth unerläßlich sei.

Auf sein Befragen erfuhr Walter, daß die Herren sich auf der für sie interessantesten aller Jagden befänden, nämlich auf einer Menschenjagd. Man hatte vor einigen Monaten den Besitzer einer großen mexikanischen Plantage mit Weib und Kindern und einem Theile seiner Sclaven ermordet gefunden; die Anderen waren entflohen, und auf diese fiel natürlich der Verdacht. Noch stärker fiel er auf einen gewissen Melazzo, den nachgelassenen Bastard eines vornehmen Mexikaners, dem sein Vater, aus unbegreiflicher Eingenommenheit für den malpropren, aber begabten Sprößling, eine ungewöhnlich sorgfältige Erziehung hatte angedeihen lassen.

Viel war dabei die Rede von der Raubgier und Grausamkeit des wilden Gesellen, und eine Reihe ruchloser Thaten wurde zur Bekräftigung erzählt, besonders wie er seine Laufbahn damit begonnen, den eigenen Bruder und Erben seines Vaters zu erdrosseln, als dieser ihn einst mit der Peitsche geschlagen. Seitdem treibe er sich flüchtig umher, habe bei allen bösen Streichen seine Hand im Spiele und spotte dabei jeder Verfolgung, da er über die farbige Bevölkerung des Landes und leider nicht minder über die herabgekommene weiße eine geradezu zauberhafte Macht besitze. Deshalb hatten denn zuletzt die Herren selbst sich verbunden, und dem Treiben des Burschen, den sie offenbar in gewissem Sinne für gefährlicher hielten, als die ganze unionistische Armee, sollte ein Ende gemacht werden um jeden Preis. Sichere Kundschafter wollten ihn in der Nähe gesehen haben; in dieser Posada sollte er sein Lager aufgeschlagen haben, und so hatten sie sich in der prächtigsten Jagdlaune aufgemacht, um den dunkelhäutigen Bösewicht abzufangen und ihm ohne weiteren Proceß an einem der nächsten Bäume den Garaus zu machen.

Dabei war es ihnen nun gegangen, wie schon oft Anderen vor ihnen: sie hatten das Nest leer gefunden, und der gesuchte Vogel saß Gott weiß wo und sang ihnen sein Spottlied nach.

Seltsamer Weise kam Niemand auf den naheliegenden Einfall, Walter wegen eines vermutheten Besuchs des Mulatten im Wirthshause zu befragen. Von selber aber der Gesellschaft mitzutheilen, wie nahe er noch vor wenigen Minuten den Gesuchten vor dem Revolver gehabt, dazu verspürte er im Hinblicke auf den unglücklichen Wirth keine Lust. Er lehnte auch die Einladung, sich an der weiteren Hetze zu betheiligen, die ihm von mehreren Seiten gemacht wurde, unter dem Vorwand von Ermüdung mit ruhigen, höflichen Worten ab und zog sich bald in die Kammer zurück, welche die Wirthin, dankbar für sein Schweigen, ihm in der Eile zurecht gemacht hatte. Die Männer hatten unterdessen stehend ihre Gläser ausgetrunken; jetzt zündeten sie ihre Fackeln wieder an, und gleich darauf hörte Walter sie unter wildem Hallo davonbrausen, froh, der unheimlichen Verwickelung nach beiden Seiten hin in so guter Art entkommen zu sein.

Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als er am nächsten Morgen mit seinem Neger bereits wieder auf der Wanderung war. Die Absicht, seinen verdächtigen Begleiter zu entlassen, hatte er aufgegeben, seit der neue Morgen ihm die Ruhe der Ueberlegung und das gewohnte Phlegma wiedergegeben hatte. So trabten sie denn weiter zusammen in friedlicher Vereinigung, und wenn der Schwarze wirklich Grund hatte, mit dem Ausgang der gestrigen Begegnung unzufrieden zu sein, so war er klug genug, es nicht merken zu lassen.

Um vor jeder Möglichkeit einer neuen Begegnung mit Melazzo gesichert zu sein, hielt es der Botaniker für das Klügste, ein Land zu verlassen, wo die Gesetze nur dem Namen nach existiren, und sich und seine Mission sobald wie möglich unter den Schutz der nordamerikanischen Flagge zu stellen.

So hatte er sich denn wohlgemuth der nahen Grenze zugewendet, und in seinem Herzen bat er dem Neger die ungerechte Verdächtigung ab, als er diesen in einer wahrhaft kindlichen Freude über die veränderte Reiseroute sich ergehen sah.

Es mochte der dritte Nachmittag nach jenem ereignißreichen Abend sein, als Walter, der sich bereits wohlbehalten auf dem Boden der Union befand, nach einer ungewöhnlich erfolgreichen botanischen Streiferei, behaglich im Schatten einer weit ausgebreiteten Platane hingestreckt, seine wissenschaftliche Ausbeute zu besserer Einsichtnahme vor sich ausgebreitet hatte.

In freudige Betrachtungen über die günstigen Erfolge des Tages versunken, hörte er plötzlich einen Gegenstand pfeifend durch die Luft sausen, und fast zu derselben Zeit hatte sich die Schlinge eines Lasso fest um den Hals des jungen Mannes gelegt. Ohne einen Laut von sich zu geben, sank er rücklings auf den Boden zurück, von dem er sich eben erhoben hatte. „Nicht tödten!“ hörte er noch den in spanischer Sprache ertheilten Befehl und verlor dann für einen Augenblick die Besinnung.

Als er erwachte, fühlte er sich an Händen und Füßen gebunden; dunkle Gestalten bewegten sich um ihn; der Lasso wurde von seinem Halse genommen und ein Knebel zwischen seine gewaltsam geöffneten Zähne geschoben. Dann hoben ihn zwei Neger in die Höhe, warfen ihn wie einen Sack Getreide über ihre Schultern, und fort ging es unter Lachen, Johlen und Singen, quer durch den Wald, daß die Aeste der Bäume und die dornigen Zweige der Lianen dem Gefangenen empfindlich in das nach aufwärts gewendete Gesicht schlugen.

Eine Stunde etwa dauerte der Marsch; dann lichtete sich der Wald; ein weiter Wiesenraum dehnte sich vor ihnen aus, und zugleich schlugen die Laute einer größeren Menschenmenge an Walter’s Ohr. Er versuchte den Kopf zu wenden: Lagerfeuer brannten an vielen Stellen über die Lichtung verstreut, und um dieselben wimmelte es von abenteuerlichen Gestalten, alle der farbigen Race angehörend, in einer Anzahl, die dem Deutschen in seinem jetzigen halbbetäubten Zustande geradezu unübersehbar erschien.

[748] Bei dem Erscheinen des Trupps, welcher den Gefangenen brachte, bemächtigte sich dieser Strolche eine unbeschreibliche Aufregung. Wer in der Nähe war, warf unter Fluchen und Verwünschungen weg, was er gerade in den Händen hielt, um mitzugehen, und von den entfernteren Punkten liefen die Anderen herbei und schlossen sich an. Dazwischen erscholl das Bellen der Hunde, das Weinen und Schreien der gestoßenen und getretenen Kinder, das schrille Rufen der Weiber.

Die Träger hatten noch nicht Halt gemacht, als eine mächtige, wohlbekannte Stimme an Walter’s Ohr schlug.

„Habt Ihr ihn endlich?“

„Ja, Herr!“ lautete die Antwort.

Dann noch einige Schritte, und mit einem plötzlichen Rucke sah sich der unglückliche Gelehrte dicht neben einem riesigen offenen Feuer auf die Erde versetzt.

Seine erste Bewegung deutete auf den, freilich vergeblichen, Versuch, sich der gefährlichen Nähe der züngelnden Flammen zu entziehen. Ein rohes Lachen der ihm zunächst Stehenden antwortete hierauf, und schon hoben sich ein paar nackte braune Füße in der unverkennbaren Absicht, ihn dem feindlichen Gluthherde noch näher zu schieben, als ein leiser drohender Laut der soeben gehörten befehlenden Stimme im Momente rings umher lautlose Ruhe schuf. Aufblickend, erkannte Walter die hohe Gestalt und die grausamen kalten Augen des Mulatten Melazzo, die in aufmerksamer Beobachtung auf ihn gerichtet waren.

„Pedro!“ rief der Mulatte jetzt.

Ein junger Mestize trat vor, der die Leitung des Unternehmens gehabt zu haben schien.

„Es ist der Spion, Herr, der Deinen Zufluchtsort verrathen hat. Heute trafen wir ihn, als er eben seine Zaubermittel vor sich ausgebreitet hatte. Möge ihn die verdiente Strafe treffen!“

Der Mulatte nickte. Seine unheimlichen Augen verließen den Gefesselten nicht einen Augenblick.

„Ja, er ist es,“ sagte er dann mit der eigenthümlich wohllautenden Stimme, die für Walter das Entsetzliche seiner Erscheinung womöglich noch erhöhte. „Er ist der Mann, der nicht nur mich, sondern uns Alle dem Strick der weißen Schufte ausliefern wollte. Was werden wir mit ihm beginnen?“

Ein Zucken zweideutigen Erstaunens lief über all die gaffenden, in höchster Spannung stierenden dunklen Gesichter; dann folgte ein Murmeln, welches ungefähr die Meinung kundgab, daß der umliegende Wald Bäume genug enthalte, um die ganze Sclavenhalter-Armee an ihren Zweigen baumeln zu sehen, und daß daher nichts leichter sei, als diesen einzelnen wehrlosen Deutschen mit einem passenden Galgen zu versorgen.

Der Mulatte nickte auf’s Neue. Ueber seine bronzenen Gesichtszüge glitt es wie herber Hohn, doch nur für die Dauer einer Secunde. Er erhob den Kopf, und die frühere athemlose Stille trat wieder ein.

„Er hat den Tod verdient,“ sagte er mit laut erhobener Stimme. „Wir stehen indessen nicht allein. Der Union, den Befreiern der Sclaven sind unsere Dienste gewidmet, und General Grant zahlt mit freigebiger Hand jede Kundschaft, die wir ihm bringen. Die Aussagen dieses Menschen können ihm und dadurch auch uns von Nutzen sein. Ueberlaßt ihn daher mir! Ich werde ihn auszuforschen wissen, und Ihr sollt alle mit mir zufrieden sein.“

Wieder durchlief ein Murmeln die Versammlung; nach kurzem, unsicherem Zögern erfolgte endlich die einstimmige Einwilligung. Der Mulatte schien es nicht anders erwartet zu haben. Ruhig winkte er ein paar Leute heran.

„Bringt den Gefangenen in Sicherheit!“ sagte er. „Die Nacht ist da; Ihr werdet müde und hungrig sein; ein Fäßchen Rum steht für Euch bereit. Geht und laßt es Euch schmecken.“

Ein tobender Jubel antwortete dieser Rede. Wieder wurde Walter aufgehoben und wenige Minuten darauf befand er sich in einer Art von Verschlag, der, roh aus ungeschälten Holzstämmen ausgeführt, zur Aufbewahrung von Kisten und allerhand Vorräthen diente. Die schwere Thür wurde geschlossen, und eine eiserne Stange von außen davor befestigt; der junge Mann war allein und hatte ungestörte Muße, seine Lage zu übersehen, so weit nämlich die traumartige Betäubung, von der er sich noch immer nicht befreien konnte, und das schmerzende Einschneiden seiner Bande ihm die Fähigkeit dazu ließe.

Walter glaubte nicht, daß Melazzo es auf seinen Tod abgesehen – und doch – wenn es kein anderes Mittel zur Rettung gab, als eines, das offenbar der Wahnsinn erfunden hatte – Walter’s Seele bäumte sich schaudernd auf bei dem Gedanken. Sollte er ein Weib aus dieser blutgetränkten Hand empfangen, dann dünkte ihm selbst der Tod eine Erlösung.

Allein der Tod ist kein Gast, den man mit offenen Armen und lächelnder Lippe zu empfangen pflegt, und Walter hatte so Vieles, was ihm das Leben theuer machte: eine segensreiche Wirksamkeit, den Ruhm des Gelehrten, und vor Allem die Heimath, von der er jetzt erst fühlte, wie stark sie seine Seele fesselte.

Sie war ihm kein Paradies gewesen, diese Heimath, denn Walter war armer Leute Kind und hatte sich durchkämpfen müssen durch des Lebens Noth – es war ihm gelungen – und wie Vieles enthielt diese Heimath nicht sonst noch, wie Vieles, das ihm theuer war! Der letzte Brief, den er der Mutter geschrieben, er sollte nun der letzte bleiben für alle Ewigkeit.

Walter stöhnte auf im grimmen unaussprechlichen Schmerze. Und dazwischen kamen immer wieder die körperliche Leiden und steigerten sich zur unerträglichen Qual. Er konnte nicht schreien; denn der Knebel riß seinen Mund aus einander und drückte ihm die ausgedörrte Zunge gegen den trockenen, brennenden Gaumen – ach! und er hätte Alles gegeben, was er auf Erden besaß, für einen einzigen labenden Trunk.

Endlich nahm die fieberhafte Betäubung immer mehr überhand und versenkte ihn in einen Zustand halber Vergessenheit. Da weckte ihn ein Geräusch, das vor dem Verschlage entstand. Die eiserne Stange wurde von der Thür weggenommen; diese öffnete sich; Licht drang herein, und Melazzo erschien auf der Schwelle. Ein junger Neger hinter ihm trug eine Fackel, die er, vortretend, an der Mauer in eine rohe Klammer befestigte; dann bückte er sich zu dem Gefangenen nieder, löste den Knebel aus seinem Munde und rückte ihn in sitzende Stellung, worauf er sich schweigend entfernte.

Melazzo hatte dem ganzen Vorgehen stumm mit verschränkten Armen zugesehen; nun trat auch er vor, stieß mit dem Fuße einen großen Holzblock in die gehörige Lage und setzte sich nieder. Dann zog er mit Gelassenheit ein höchst zierlich gearbeitetes silbernes Etui hervor, das schwerlich auf gesetzlichem Wege in seinen Besitz gelangt war, entnahm ihm einige Cigaretten und begann mit größter Gemüthsruhe zu rauchen, indem er dabei mit offenbarer Befriedigung seinen Gefangenen betrachtete.

Walter wandte die Augen weg, um sich den verhaßten Anblick zu ersparen. Melazzo rauchte unbekümmert weiter. Endlich hatte er seine Cigaretten zu Ende geraucht, und Walter fühlte, daß nach der Komödie jetzt der Ernst sich geltend machen werde.

[761] „Ihr seht, daß ich Wort zu halten weiß – wir sehen uns wieder,“ eröffnete Melazzo das Gespräch. „Könnt Ihr nicht sprechen, oder habt Ihr mir nichts zu sagen?“ fuhr er fort, da der Deutsche schwieg.

„Was soll ich sagen? Wir sehen uns wieder – das Wie und Warum und die Folgen, welche dieses Wiedersehen haben wird, mögt Ihr vor Eurem Gewissen verantworten.“

Der Mulatte zuckte die Achseln.

„Das Warum habt Ihr vorhin gehört,“ sagte er ruhig.

„Ich habe Euch nicht verrathen.“

„Ich weiß es.“

„Und doch behandelt Ihr mich wie einen überwiesenen Verbrecher?“

„Könnt Ihr meinen Leuten beweisen, daß Ihr unschuldig seid?“

„Ich nicht, aber Ihr. Sprecht vernünftig mit diesen Menschen, und sie werden Euch glauben.“

„Lenkt man wüthende Massen durch die Stimme der Vernunft? Nur der gesättigte Tiger hört auf den Befehl seines Wärters.“

„Und das ist Eure Gerechtigkeit?“ stöhnte Walter auf.

„Was haben wir mit der Gerechtigkeit zu thun? Wird die Natur durch Gerechtigkeit beherrscht? Wenn der Orkan die Palme fällt, ist es die Gerechtigkeit, die ihren Schaft zerknickt?“

„Nein – aber Ihr wißt es, daß ich unschuldig bin.“

„Auch die Antilope ist unschuldig, und doch trifft sie das Blei des Jägers.“

Er schwieg und eine Weile ruhte sein Blick wie in tiefen finsteren Gedanken auf dem Gefangenen.

„Wo so viele Schuldige straflos durchkommen,“ fuhr er dann ruhig fort, „was liegt daran, ob ein Schuldloser zu Grunde geht? Denkt an die Generationen farbigen Blutes, die, durch Eures Gleichen von ihrem natürlichen Boden gerissen, in der Fremde unter Martern lebten, unter Martern starben und Alle, Alle in Verzweiflung hinüber gingen, und dann beklagt Euch, daß Euer Loos ein zu hartes ist! – Nein, Ihr müßt sterben, wenn ich Euch nicht rette – und dazu giebt es nur einen Weg: Ihr müßt das Mädchen heirathen, für das ich Euch bestimmt –“

„Niemals!“ rief Walter verzweifelnd.

„Ihr müßt sie heirathen, oder morgen hängt Ihr als Leiche an einem der nächsten Bäume – das ist die mildeste Todesart, die ich Euch versprechen kann.“

„In Gottes Namen!“ rief Walter mit einer Art zorniger Ergebung. „Wollt Ihr mich morden, so macht es wenigstens kurz!“

„Hört mich an: das Mädchen ist jung, schön, reich, wohlerzogen, von guter Familie. Hunderte werden Euch beneiden.“ Und er setzte mit cynischer Ironie hinzu: „Sie hat sogar die Ehre, mit mir verwandt zu sein.“

Walter schauderte, und unwillkürlich schloß er die Augen, als könne er es dadurch ermöglichen, sie nicht einmal in Gedanken zu sehen. Dann besann er sich.

„Wenn sie das alles ist, warum heirathet Ihr sie nicht selbst?“ fragte er rasch.

„Es war auch meine Absicht, allein sie will mich nicht. – Ja,“ wiederholte er und sah an seiner stattlichen Gestalt hinunter, als könne er solche Verblendung nicht begreifen, „sie will mich nicht. Sie hat erklärt, lieber, als noch einmal von einer Heirath mit mir auch nur zu hören, werde sie sich das Leben nehmen, und der kleine Satan,“ setzte er mit einer Art grimmig verbissenen Lachens hinzu, „ist wirklich im Stande, es zu thun. – Uebrigens habe ich mich inzwischen verheirathet. Folgt meinem Beispiel und entscheidet Euch schnell! Die Zeit ist kurz.“

„Aber großer Gott, ich kann einmal nicht heirathen!“ rief Walter außer sich. „Es ist nicht meine Schuld – ich hege eben eine unüberwindliche Abneigung gegen die Ehe, und mein Beruf –“

„Nun, Ihr müßt es ja wissen, ob Ihr lieber hängen wollt,“ unterbrach ihn Melazzo trocken.

„Bedenkt, daß meine Regierung, daß die amerikanische Regierung, daß General Grant, dem Ihr dient, niemals ein solches Verfahren dulden würden! Bedenkt, daß sie einen Mord, der an einem friedlichen Reisenden und obendrein an einem Vertreter der Wissenschaft begangen wird, ahnden werden!“

„Und was kümmert das mich?“ rief Melazzo dagegen. „Was vermögen sie überhaupt in diesen Wäldern gegen mich? Wo der Löwe brüllt, muß selbst der Tiger weichen; wo Melazzo steht, da kann kein Anderer Gebieter neben ihm sein.“

„Wird es immer so bleiben? Werdet Ihr nie die Wälder verlassen?“

„Nicht mit mir hat es die Regierung zu thun,“ entgegnete ruhig der Mulatte. „Nicht mein Opfer seid Ihr – merkt es Euch! – sondern das meiner Leute, die in Euch den Spion der Secessionisten sehen. Ihr wehrt Euch umsonst, und der Tod ist Euch gewiß, wenn Ihr nicht meinen Willen thut. Aber ich hasse Euch nicht; ob Ihr lebt oder sterbt, was kümmert es mich? [762] Meiner Rache fallen der Opfer genug; ich brauche Euch nicht dazu, und selbst in dem, was ich von Euch fordere, habe ich es nicht auf Euer Unglück abgesehen. Meine Lebensschicksale mögen Euch meine Handlungsweise erklären. Ich bin der Sohn eines Weißen und einer seiner Sclavinnen. Ich hatte einen liebevollen Vater, aber dafür hegte der Bruder desselben eine um so unbegrenztere Antipathie gegen den farbigen Bastard-Neffen, und manche Strafe und Demüthigung, die meine Jugend traf, danke ich ihm. Er that mehr – er, dieser Onkel –“ die Augen des Mulatten glühten und seine Fäuste ballten sich – „er hat nach meines Vaters plötzlichem Tode meine Mutter weit hinein in die Union verkauft und unserer Beider Freibrief aus dem Nachlasse verbrannt. Er war ja Vormund für meinen saubern Halbbruder, dem die Erbschaft zufiel, und dieses Brüderchen – haha! – dieses Brüderchen war die getreue Copie des Onkels und ich der ‚Hund von einem Sclaven’ für ihn. Während der Herr Onkel in Europa drüben sich vergnügte, hörte sein Neffe hier eines Tages auf zu leben. Ich hatte zufällig einen Strick gefunden, der ihm paßte. Seitdem habe ich in den Wäldern auf die Rückkehr des Onkels gewartet; und ich mußte lange warten – bis der Krieg ausbrach. Da kam er herüber und fing an, auf mich zu fahnden.“

Der Mulatte schwieg einen Augenblick und lachte, wie in eine Erinnerung verloren, heiser auf.

„Vor zwei Monaten,“ fuhr er endlich fort, „habe ich ihn und seine ganze Brut umgebracht, bis auf das Mädchen, welches Ihr heirathen sollt, und eine Nacht mich am Brande seines Hauses gewärmt. Das Mädchen fanden meine Leute im Weinkeller ohnmächtig in den Armen einer Mulattin. Sie gefiel mir, wie gesagt, und ich ließ sie eigentlich für mich übrig. Und – der Teufel weiß, warum: ich habe nun einmal eine Schwachheit für sie, auch da sie mich nicht will. So mag sie denn anderswie verschwinden, damit sie mich hier nicht genirt, und Ihr seid der einzige Mann um das zu ermöglichen. Sie muß nach Europa. Diese secessionistische Seifenblase kann über Nacht zerplatzen; dann ist der Friede da, und treten erst die sogenannten geordneten Zustände wieder ein, so darf Niemand mehr hier sein, der mit unangenehmen Reklamationen gegen mich aufträte.“

„Nun, so will ich sie mit nach Europa nehmen und sie dort in einer gebildeten Familie unterbringen, bis sich eine passende Versorgung für sie findet.“

Melazzo schüttelte den Kopf.

„Ich muß eine Garantie haben, daß ihr Leben mir keine Sorgen mehr macht. Möglicherweise will sie von einer passenden Versorgung drüben nichts wissen und taucht eines Tages wieder hier auf. Wenn Ihr sie heirathet, so ist sie für mich so gut wie todt. Die Deutschen – das weiß Jedermann – sind ein friedsames Volk, das sich nicht gern in fremde Händel mischt und zufrieden ist, wenn es die Nase in ein Buch stecken kann. Daß Ihr künftig zu Hause bleibt, das weiß ich, auch ohne daß Ihr es versprecht, und ist sie Eure Frau, so muß sie eben bei ihrem Manne bleiben – dagegen hilft ihr kein Gott. Darum entschließt Euch, denn fort muß sie, so oder so – auch ihr Leben liegt in Eurer Hand.“

Walter wußte nicht mehr, was er sagen sollte.

„Aber fühlt Ihr denn nicht,“ rief er endlich, „daß so zu heirathen etwas geradezu Entsetzliches ist?“

„So wollt Ihr lieber hängen? Oder vielleicht zieht Ihr es vor, daß ich Euch meinen Leuten ausliefere? Es sind Indianer dabei, die es meisterhaft verstehen, auch dem starrsinnigsten Dulder noch einen letzten Schmerzensschrei zu entlocken –“

„Nein, nein!“ rief Walter, schon bei der bloßen Vorstellung halb wahnsinnig.

„So willigt Ihr ein?“

Der Tod ist ein gewaltiger Bekehrer. Noch vor wenigen Minuten hatte der junge Mann sich so sicher gefühlt in dem Bewußtsein seiner unerschütterlichen Seelenkraft – und nun – nun war es doch anders. Er wand sich förmlich unter der Marter dieser immer zunehmenden Hülflosigkeit. Und daneben flüsterte die Hoffnung lügnerisch von den tausend Zufällen, welche die Trauung, sogar noch im letzten Augenblicke, vereiteln konnten – gab es davon nicht Beispiele genug? Und träfe das auch nicht bei ihm ein, gab es nicht Mittel, die lästige Fessel später von sich abzustreifen? Und war es nicht seine Pflicht, sich der Mutter, den Freunden, der Heimath – ach! das egoistische Herz rief überlaut, dem Leben zu erhalten, so lange es noch eine Möglichkeit dazu gab?

„Aber wie kann ich heirathen,“ rief er in einem letzten Anlaufe seiner Gewissenhaftigkeit, „ohne meine Papiere – ohne die geringste Legitimation?“

„Ich habe Euren Paß und die Licenz – das genügt.“

„Aber die deutschen Gesetze –“

„Ihr werdet nach amerikanischem Gesetze getraut. Das geht durch die ganze Welt.“

„Aber eine Trauung ohne kirchliche Einsegnung –“

„Auch dafür ist gesorgt. Beruhigt Euer Gewissen! Ich bin ein frommer Mann. Ihr sollt so fest verheirathet sein, daß weder Pfaff noch Jurist ein Nägelchen davon losschrauben kann.“

Es war der letzte Nothanker, den der Unglückliche ausgeworfen, und er hatte selbst gefühlt, wie schwach er war. Seine Bande waren zerschnitten; der Neger half ihm auf die Füße, und Walter ergab sich in sein Schicksal. Aber er taumelte, und unwillkürlich war es der Arm des Mulatten, nach dem er, um sich zu stützen, griff.

„Schnell – schnell!“ drängte dieser, „oder wir haben die Secessionisten auf dem Halse!“ und er zog sein Opfer nach der Thür. Doch Walter hielt noch immer zurück. „Aber das Mädchen kennt mich nicht,“ stammelte er fassungslos. „Wie, wenn sie mich auch nicht will? Eine so resolute Person –“

„Sie kennt Euch – sie will Euch – sie hat mir heute noch erklärt: Alles sei ihr recht, um nur von meinem verhaßten Anblick erlöst zu sein. Aber schnell, oder es ist zu spät.“

Und er faßte den Gefangenen ungeduldig am Arm und riß ihn mit sich hinaus.

Draußen herrschte pechschwarze Finsterniß; nur die nächste Umgebung des Verschlages war von der rothen Gluth einiger Kienfackeln spärlich erleuchtet. Ihr unheimlicher Schein erhellte nothdürftig einige verwegene, wilde Gestalten, wohl die Intimen des Mulatten. Zwischen diesen standen zwei weiße Männer, beide gefesselt, zitternd und bleich. Der Eine im langen Talar, die Tonsur im dichten, kurzgeschnittenen Haare, verrieth den katholischen Priester in jedem seiner angstentstellten sanften Züge; der Andere war offenbar eine Magistratsperson. Zwischen den gebundenen zuckenden Händen hielt er krampfhaft ein zusammengefaltetes Papier.

Bei Walter’s Erscheinen wurden ihnen im Nu die Fesseln gelöst; zugleich entstand noch eine andere Bewegung unter den Versammelten. Zwei Farbige, denen eine schluchzende Mulattin folgte, brachten auf einer Art Tragsessel einen Gegenstand herbei, der mehr einem Bündel unordentlich auf einander geworfener Kleidungsstücke, als einem menschlichen Wesen glich. Walter bedurfte keines sonderlichen Scharfsinns, um zu schließen, daß er seine Braut vor sich habe. Ein großes buntgestreiftes Tuch, wie es die Negerinnen zu tragen pflegen, bedeckte nicht nur die Gestalt des Mädchens, sondern auch ihr ganzes Gesicht. Als man sie auf die Füße stellte, knickte sie zusammen und sank mit einem leisen Aufschrei der Mulattin an die Brust. Walter hörte, wie die Frau in der wohllautenden spanischen Sprache ihr allerhand Liebesworte zuflüsterte: „Mein Liebchen! Mein Goldkindchen! Mein einziges Töchterchen!“ und so weiter. Er fühlte eine Regung von Mitleid für das arme Geschöpf, das offenbar ebenso ungern, wie er, in diese gezwungene Verkuppelung einging.

Nur Melazzo war gepanzert gegen jede Anwandlung eines nachgiebigeren Gefühls. Ungestüm hatte er das vorhin erwähnte Papier an sich gerissen, es entfaltet und, nachdem er dem Nächststehenden bedeutet, mit seiner Fackel die Schriftzüge besser zu beleuchten, es der Magistratsperson wieder in die bebenden Hände gedrückt.

Es war der Ehecontract.

Mit stotternder Stimme begann der Friedensrichter, oder was er immer sein mochte, die ersten Worte zu lesen. Da erscholl plötzlich aus der Ferne das Knattern einer Kettenlinie von Schüssen durch die Nacht.

Aller Augen wendeten sich nach der Seite, woher der Ton kam, und in Walter’s Seele erhob sich ein Sturm der Hoffnung und der Furcht zugleich. War es Grant? War es Davis? Waren es die Verfolger, von denen Melazzo gesagt? Zornig stampfte der Mulatte mit dem Fuße. Er riß einen Revolver aus dem Gürtel und spannte den Hahn; das Papier auf eine [763] alte Kiste werfend, welche man, so gut es ging, als Altar hergerichtet, donnerte er dem unglücklichen Deutschen zu: „Unterschreibt!“

Vergebens suchte dieser zu zögern; die Mündung der geladenen Pistole wirkte überzeugender, als selbst das Schießen, das von der Möglichkeit der Befreiung sprach, überdies sich jetzt wieder mehr und mehr in die Ferne zu ziehen schien.

Er gab die Hoffnung auf und unterschrieb.

Nun kam die Reihe an die Braut, aber die Feder entsank ihrer zitternden Hand. Wieder stampfte Melazzo mit dem Fuße; dann bückte er sich, hob die Feder auf und drückte sie der Widerstrebenden zwischen die Finger. Er selbst führte ihr die Hand mit entschlossenem Zuge – nun noch Melazzo’s eigene Unterschrift und die eines beliebigen Anderen als Zeugen, dann, nachdem der Mulatte zwei goldene Reife hervorgezogen, der Ringwechsel und das Ja des Paares – alles ging rasch und überstürzt, und dazwischen rückte das Schießen allmählich wieder näher. Endlich war das letzte Wort gesprochen; Pferde wurden vorgeführt, Melazzo, die bewußtlose Braut im Arme, schwang sich auf das eine; hastig wurde Walter auf ein anderes gehoben, dessen Zügel ein dritter Reiter ergriff; einige andere folgten – sie schienen aus dem Boden zu wachsen – und fort ging es über Stock und Stein, hin durch die Dunkelheit, als hätten die Pferde Flügel, erst die Lichtung entlang, dann über enge Waldpfade, ohne Rast, ohne Aufenthalt – jetzt quer über Landstraßen weg, dann an Blockhäusern und Pflanzungen vorbei, fort – fort! Nun sausten sie um ein Städtchen herum, nun über ein Stück Prairie, schneller, immer schneller. Es war wie ein Hexenritt.

Endlich, endlich waren sie am Ziel. Ein breites, schwarzes Wasser schimmerte undeutlich zu ihren Füßen; am Ufer lag ein Kahn; Männer erhoben sich daraus. Sie schienen gewartet zu haben. Im nächsten Augenblick saß Walter im Boote; die Andern folgten – jetzt erst bemerkte der Deutsche, daß auch die Mulattin mitgekommen war. Die Ruder schlugen in’s Wasser, und pfeilschnell ging es stromabwärts zwischen niedrigen bewaldeten Ufern hin, die sich undeutlich im Schimmer des aufgehenden Mondes abzeichneten. Kein Wort wurde gesprochen; kein Laut war vernehmbar; nur die Ruder arbeiteten heftig.

Immer weiter wichen die Ufer zurück; immer höher stiegen die Wellen, und mit dem ersten Morgengrauen hatte man den Hafen erreicht.

Ein einziges Schiff lag da, schwarz in der schwachen Beleuchtung. Zwei Männer lehnten eben an Bord. Kein Ruf erscholl; keine Frage wurde gethan. Walter erhob sich; eine Treppe war herabgelassen, aber er schwankte und mußte beim Hinaufsteigen gestützt werden. Dann kam Melazzo und trug das Mädchen; die Mulattin folgte, so gut sie konnte.

„Ihr kommt spät,“ bemerkte einer der Männer. Es war der Capitain.

„Besser spät, als gar nicht,“ antwortete Melazzo’s tiefe Stimme.

Gleich darauf verschwand er mit der Mulattin und seiner noch immer regungslosen Last in das Innere des Schiffes.

Der Capitain entfernte sich mit seinem Gefährten, um die nöthigen Befehle zu ertheilen, und Walter lehnte betäubt am Borde und starrte halb bewußtlos in den aufdämmernden Morgen hinaus. Er war nicht im Stande, einen Schritt zu thun, nicht fähig einen Gedanken zu fassen; das Uebermaß physischer Erschöpfung hatte ihn gegen Alles stumpf gemacht.

Da fiel die Hand des Mulatten schwer auf seine Schulter.

„Glück in die Ehe und auf die Reise!“ nickte er seinem Opfer spöttisch zu, und zugleich drückte er ihm eine Brieftasche in die Hand. „Da habt Ihr die erste Rate Eurer Einkünfte!“ Und: „Ich werde vorläufig hier Eure Besitzungen verwalten,“ rief er, als er schon, abwärts eilend, auf der Treppe stand.

Ein Aufwärter trat jetzt an Walter heran, ihn in seine Kajüte zu führen, und hier angelangt, schloß dieser die Thür hinter sich ab und warf sich, ohne sich erst zu entkleiden, auf das Bett. Ihm war, als dränge ein leises Wimmern durch die dünne Bretterwand, die ihn von der nächsten Kajüte schied, doch hatte er nicht die Kraft, darauf zu merken, und schon in der nächsten Minute lag er in einem tiefen Schlaf, den wohl selbst die Posaunen des Weltgerichts nicht verscheucht hätten.

Als er erwachte, war es Vormittag. Durch eine halbgeöffnete ovale Krystallscheibe, die der Kajüte als Fenster diente, drang der frische, würzige, unsäglich belebende Hauch der Seebrise und erfüllte den Schläfer, der sich, ohne die Augen zu öffnen, noch auf seinem weichen Lager dehnte, mit einem unaussprechlichen Wohlbehagen.

Wie durch einen Zauber waren alle unangenehmen Ereignisse des vergangenen Tages, wenigstens für jetzt, aus seinem Gedächtnisse weggewischt, und für nichts war, in diesen kurzen Augenblicken Raum in ihm, als für dieses unendlich süße, rein physische Erwachen, welches noch keine geistige Thätigkeit in ihm aufkommen ließ. Endlich mußte er doch die Augen öffnen, und als er jetzt den ersten Blick um sich warf, konnte er sich wirklich in eine Märchenwelt versetzt glauben, so überraschend war die an Pracht streifende Eleganz, die ihn in dem kleinen Raume umgab. Nichts schien vergessen, was nur in irgend einer Weise zum Comfort des verwöhntesten Millionärs gerechnet werden konnte. Unwillkürlich stellte sich ihm der Gegensatz dieser Umgebung zu den Bildern der letzten Tage vor die Seele, und damit begann die volle Wirklichkeit wieder in ihr Recht zu treten.

In diesem Augenblicke pochte es sacht an seine Thür, und eine ehrerbietige Stimme fragte, ob Mr. Walter das Frühstück hier oder im Speisesaale befehle? Walter entschied für den Speisesaal und der Frager zog sich zurück.

Nun mußte er sich doch zum Aufstehen entschließen, so viel Ueberwindung es ihm auch kostete. War es ihm doch, als habe er seit seinen Kindertagen nie mehr so süß geruht.

Seine Blicke irrten träumerisch über den weichen Teppich der Cabine hin; da wurden sie plötzlich von einem Gegenstande gefesselt, der bescheiden im fernsten Winkel lag. Noch ein Blick, und Entzücken durchströmte Walter’s Sinne. Es war keine Täuschung – da lagen sie, die verlorengeglaubten, vielgebrauchten, starkabgenutzten, treuen Bewahrerinnen seiner botanischen Schätze, die Begleiterinnen seiner Mühen, seine alten, lieben, wohlbekannten, unersetzlichen Reisetaschen. Da lagen sie neben ein paar Koffern, die er nicht einmal eines Blickes würdigte, denn da sah er ja auch seine Kapseln – sein Tagebuch, Alles war da, sogar die Pflanzen, die er gestern gesammelt, das Merkbuch, in dem er seine letzte Beobachtung notirt. O Melazzo!

Plötzlich flog ein überraschter Blick auch über die Koffer: zu seiner höchsten Verwunderung erkannte er die Colli, welche er bei dem preußischen Consul in X. zurückgelassen und die nun auf dem Schiffe, in wahrscheinlich gewählter und eleganter Gesellschaft von Passagieren ihm höchst willkommen sein mußten, da sie die im Urwalde überflüssigen Requisiten feinerer Toilette enthielten.

Zuletzt fand sich noch ein fremder Gegenstand: die Brieftasche, die er beim Abschiede von Melazzo erhalten. Er hatte sie beim Eintreten achtlos auf einen Stuhl geworfen, und es war reiner Zufall, daß sie ihm in der Betäubung nicht schon früher aus der Hand gefallen war. Er öffnete sie und sah, daß sie mit Banknoten von ansehnlichem Werth gefüllt war. Dabei lag ein Zettel, wahrscheinlich von des Mulatten Hand, der die letzten Worte wiederholte, die jener seinem Gefangenen gesagt: daß dies die erste Zinsenrate des ihm durch seine Frau zufallenden Vermögens sei.

Jetzt erst fiel es ihm mit voller vernichtender Wucht auf die Seele, daß er neben allem Guten, das ihm geworden, doch auch wirklich und unwiederbringlich verheirathet sei.

O dieser Melazzo! Dieser feige, tückische Schurke!

Es war keine Nothlüge gewesen, als Walter dem Mulatten seine unüberwindliche Antipathie gegen die Ehe versichert hatte. Von allen Blumen, welche das irdische Leben schmücken, hatte der junge Naturforscher sich bisher um keine anderen bekümmert, als um jene, welche man in einem Herbarium aufzubewahren pflegt. Die Frauen aber, wie er sie nun einmal auffaßte, dünkten ihm weiter nichts, als ein beschämender Mißgriff der Schöpfung zu sein. Nach Walter’s Meinung hätten die Menschen – unter welchem Begriffswort seinem Geiste immer nur der Mann vorschwebte – wie die Aepfel auf den Bäumen wachsen sollen, womöglich gleich mit dem Buche in der Hand. Er konnte es nicht fassen, daß ein Mann bei gesunden Sinnen sein Leben, welches er so herrlichen Aufgaben widmen konnte, durch die Sorgen um ein so nichtiges, stets nur um Nichtigkeiten sich sorgendes Wesen zerstückeln konnte. Und nun hatte die Bosheit des Schicksals es auch ihm angethan – er war verheirathet, er, der nie eine andere Geliebte gehabt noch hatte haben wollen, als die Botanik!

[764] Und wer war das Wesen, mit dem man ihn wider Willen verkettet hatte? Wie sah sie aus? Jetzt erst fiel es ihm ein, daß er sie eigentlich nicht gesehen. Während der Trauung hatte das Tuch ihr Gesicht verhüllt, ja, sie schien dasselbe absichtlich festgehalten zu haben, und was er später vielleicht doch von ihren Zügen hätte erblicken können, dafür hatten die Nacht, die Verwirrung, der Tumult seiner Empfindungen und endlich die maßlose Uebermüdung seine Augen blind gemacht. Aber Melazzo hatte sie seine Verwandte genannt. Was konnte sie also sein, als eine Tochter jener abscheulichen Mulattin, wahrscheinlich noch häßlicher, noch schwärzer als ihre Mutter!

Immer demüthigender, immer entsetzlicher malte er sich sein Unglück aus. Er wagte nicht, seine Kajüte zu verlassen; er schämte sich vor den Menschen. Aber würde er diesen nicht lächerlich erscheinen, wenn er sich zu freiwilliger Gefangenschaft in seiner Kajüte verurtheilte? Einmal mußte diese Gefangenschaft ja doch enden.

Er machte hastig Toilette. Dann öffnete er die Thür und steckte ängstlich den Kopf hinaus, in der Erwartung, die verhaßten Mulattinnen gleich draußen auf der Lauer nach dem Ehemann zu erblicken. Doch er sah nichts. Der Platz war frei.

Auch als er hinausging, zeigten sie sich nicht, selbst nicht im Salon, in dessen eleganten Räumen es sich eben jetzt eine nur aus Weißen, Herren und Damen, bestehende Gesellschaft bequem machte. Die Theilnahme war auffallend, mit der sich bei seinem Erscheinen alle Augen sogleich nach ihm wendeten. Wußte denn hier schon Alles um sein Unglück?

Ein Wort des Capitains klärte Walter über den Grund dieser Theilnahme auf: Mrs. Walter war gefährlich erkrankt, und mehrere Stunden der Nacht hindurch hatte man für ihr Leben gefürchtet. Einige der älteren Damen hielten es für angemessen, sich bei dem hübschen, blassen, gewiß höchst betrübten jungen Ehemanne nach dem Befinden der Leidenden zu erkundigen.

In seiner Verlegenheit stammelte Walter eine ungeschickte Entschuldigung, die seine totale Unkenntniß sowie sein bedauerndes Erstaunen kundthun sollte, und da man ihm in demselben Augenblicke sein Frühstück servirte, machte er sich mit einem gesunden, durch die Prüfungen des vergangenen Tages verschärften Appetit ohne Zögern darüber her.

Das war ein Verstoß gegen eheliche Wohlanständigkeit, den eine Amerikanerin unmöglich verzeihen kann. Der würdige, grauhaarige Seemann schüttelte verwundert den Kopf, und mit kühler Abgemessenheit zogen sich die Damen von dem rohen, gefühllosen Deutschen zurück.

Walter verzehrte sein Frühstück einsam und stieg alsdann auf das Verdeck, um hier sein aufgeregtes Gemüth durch das großartige Schauspiel, das Meer und Himmel boten, zu zerstreuen.

Es war ein wundervoller Tag. Und dazu die Luft, diese laue, leichte, unbeschreiblich süße Luft der südlichen Welt, die, noch mit den Wohlgerüchen des Landes gewürzt, sich wie ein duftiger Schleier um die Sinne legt! Ein Spiel von Licht und Leben und durchsichtiger Farbenpracht umgab ihn, das ihn unter anderen Umständen sicher entzückt und berauscht hätte.

Gegen sein Erwarten wollte es keine Macht auf ihn üben. Das leise Wimmern, das er in der Nacht zu hören geglaubt, und der eigenthümlich erstaunte Blick des Capitains, das vornehme Befremden der Damen saßen ihm wie scharfe Dornen in der Seele. Er fühlte etwas wie Schuld. Sollte er seine Frau besuchen, sie pflegen, und, da er ja doch die Medicin absolvirt hatte, ihr seine Dienste als Arzt anbieten? Er schlug, wenn auch langsamen, zögernden Schrittes, den Weg zu ihrer Kajüte ein.

Auf sein Klopfen wurde die Thür handbreit geöffnet, und ein ebenso breiter Streifen bunten Kopftuches kam zum Vorschein, darunter ein tiefbrennendes Auge, dem ein reines Frauenprofil und der Umriß einer sammetweichen braunen Wange zur angenehmen Folie diente. Aber dieses schöne Auge war von Weinen geröthet, und um den wohlgeformten Mund lag ein Zug, der auf schweren Kummer deutete.

Es war die ältere Mulattin. Sie war höchst anständig, sogar reich in dunkle Seide gekleidet, die sich jedoch nach unten hinter einer umfangreichen, weißen Battistschürze verlor.

Allein kaum hatte die Frau ihrerseits den Besucher erkannt, als ihre Züge von unaussprechlicher Angst zu zucken begannen und sie vor Schrecken halb in die Kniee sank. Mit verzweifelnd gerungenen Händen flehte sie ihn an, er möge sich entfernen, und als Walter ging, drückte sie die Thür energisch in’s Schloß und schob von innen den Riegel vor.

Walter hatte seine Pflicht gethan, und das beruhigte ihn sehr. Zudem hatte er die keineswegs unangenehme Ueberzeugung gewonnen, daß seine Schwiegermutter, wenn ihr dieser Titel wirklich gebühren sollte, zwar von etwas ungewöhnlicher Farbe, übrigens jedoch eine nichts weniger als abstoßende Persönlichkeit sei.

Er hatte sich noch nicht weit entfernt, als die Thür, die eben mit solcher Entschiedenheit geschlossen worden, sich hinter ihm wieder öffnete. Rasch wendete Walter sich um, in der Meinung, er werde zurückgerufen; es trat jedoch ein wohlbeleibter älterer Herr heraus, der sich, nach innen gewandt, auf der Schwelle noch einmal tief verneigte und dadurch dem jungen Manne die flüchtige Vision eines mit Seide, Gold und sanften harmonischen Farben ausgestatteten kleinen Raumes gewährte.

[777] Der dicke Herr kam auf ihn zu, lüftete den Hut und stellte sich als den Schiffsarzt vor.

„Mr. Walter?“ fragte er dann.

Walter verneigte sich bejahend.

„Hm,“ sagte der Arzt und musterte den Gatten seiner Patientin mit einem Blicke, der nichts Freundliches hatte. „Hm.“ Und er stülpte zugleich seinen Hut mit einer Entschlossenheit auf, die ganz das Gegentheil von Höflichkeit war. „Mistreß Walter sehr krank – bedenklich – kann für nichts stehen.“ Sein Blick streifte finster das Meer, als berechne er schon jetzt die Stelle, wo man sie nächstens einsenken werde. „Vollkommene Ruhe – jede Scene vermeiden – schon zu viel ertragen müssen.“ Hier sah er wieder auf den Ehemann, doch sehr von oben herab. „Pures Kind – hätten warten können – nichts zum Heirathen.“ Und plötzlich schnaubte er mit einer Art von Wuth: „Die geringste Rücksichtslosigkeit bringt ihr den Tod.“ Worauf er abermals kurz den Hut lüftete und mit dem Ausdruck sittlicher Mißbilligung so energisch vorüber ging, daß unter seinen markigen Schritten die Planken knarrten.

„Mein Gott!“ dachte Walter entrüstet, „hält der Narr mich für einen Kinderfresser?“ Und ganz aufgebracht kehrte er auf das Verdeck zurück. Doch sein Zorn hielt nicht Stand. Die Aussicht, daß er wohl Wittwer werden könne, bevor er noch eigentlicher Ehemann gewesen, bewegte seltsam sein Herz; obgleich er dadurch auf die bequemste Art der verhaßten Fessel los geworden wäre, vermochte er doch nicht, sich darüber zu freuen. Ein unbestimmtes Mitleid hatte sich in seine Seele geschlichen. Was mußte die Arme gelitten haben, um so innerlich verstört zu sein!

Und so jung sollte sie sterben! „Ein pures Kind“ hatte der Arzt sie genannt. Nein, das konnte Walter nicht wünschen, selbst nicht um den Preis seiner Freiheit. Gab es doch andere Mittel genug, die verbrecherisch erzwungene Trauung zu lösen! das einfache Verbrennen des Contractes hätte wahrscheinlich schon genügt. Welcher Gerichtshof konnte eine solche Scheinehe als gültig anerkennen? Verwirft doch selbst die Kirche die Eide, die unter dem Messer des Mörders geschworen werden!

Immer weicher wurde ihm das Herz; immer ungefährlicher, harmloser dünkte ihm, was ihm vor noch kaum zwei Stunden als ein unabwälzbares, entsetzliches Unglück erschienen. Das unterdrückte schmerzliche Klagen dieser Nacht wollte ihm nicht mehr aus dem Sinn. Hätte er ihr nur ein freundliches Wort gesagt! Hätte er nur in irgend einer Weise sie beruhigen, sich ihr als Freund, als Schützer zeigen können! Aber nun sollte sie sterben, und er hatte sie nicht einmal gesehen.

Er dachte nicht mehr daran, ob die Natur sie schwarz oder weiß geschaffen. Der Schatten des Todes, der auf sie fiel, hatte in seinem Gemüth jeden Unterschied der Rassen von ihrem jungen Antlitz weggelöscht. – – –

Einige Tage waren vergangen. Die unmittelbare Gefahr, hieß es, sei gehoben. Dennoch schien der Arzt nicht zufrieden.

„Ist ein überaus zartes, schwaches Pflänzchen,“ sagte er eines Tages zu Walter, der ihn jetzt regelmäßig nach erfolgter Visite erwartete. „So ein Kräutchen ‚Rührmichnichtan!’ muß vor jedem Lüftchen gehütet werden. Schwere Last – kenne das – Geduld, Geduld, junger Mann!“ Er machte eine betrübte Geberde.

Das gesellige Leben auf dem Schiffe hatte sich inzwischen für Walter, der es, in seine Gedanken verloren, kaum bemerkte, weit erträglicher gestaltet. Mit dem Capitain stand er auf gutem Fuße, und auch die Damen, nachdem sie die Erfahrung gemacht, daß die von ihnen so sehr Bemitleidete ihr Mitleid durchaus nicht begehrte und hartnäckig dabei blieb, sich in ihrer Kabine eingeschlossen zu halten und den Eintritt allen wohlmeinenden neugierigen Rathgeberinnen zu verwehren, hatten es aufgegeben, den Gatten einer so starrsinnigen, undankbaren Frau durch weitere abweisende Strenge zu seiner Pflicht zurückführen zu wollen. Ja, manche fand sogar, es sei schade um den liebenswürdigen jungen Mann, daß er in die Fesseln einer Person gerathen sei, die seine Verdienste unmöglich schätzen könne.

Was den Capitain betrifft, so fand er des Botanikers seltsam fremdes Benehmen seiner Frau gegenüber hinreichend dadurch entschuldigt, daß er ein Deutscher sei und die Deutschen von Haus aus alle Narren seien, und da er sonst keinen Grund hatte, über seinen Passagier zu klagen, so fühlte er sich durch diese scharfsinnige Erklärung auch über dessen eheliche Verhältnisse vollkommen zufrieden gestellt.

Sehr hätte Walter gewünscht, von ihm etwas Genaueres über den Mulatten zu erfahren, allein der biedere Seemann versicherte unbefangen, daß er nichts über denselben wisse. Ein paar Wochen, bevor er in Galveston die Anker gelichtet, erzählte er, seien die besten Cabinen seines luxuriös ausgestatteten Schiffes für einen reichen Pflanzer und dessen kränkliche Gattin brieflich gemiethet und bezahlt und sei ihm auch die Stelle an der Küste bezeichnet worden, wo er sie erwarten müsse. Einige Tage habe sich die Ankunft der Passagiere verzögert; auch dafür sei er reichlich [778] entschädigt worden. Er könne sich nicht beschweren. Das Geheimniß und die eigenthümlichen Umstände bei der Einschiffung habe er sich durch die Kriegsereignisse und den leidenden Zustand der Dame erklärt, für welche die größten Rücksichten zu beobachten ihm noch besonders eingeschärft worden.

„Nun,“ setzte er mit sichtlicher Befriedigung hinzu, „ich denke, es ist Alles nach Wunsch gewesen. Die verwöhnteste Lady der ganzen Union könnte sich an meinem Bord nicht beklagen.“

Den Mulatten hatte er einfach für einen Sclaven des Pflanzers gehalten und war nur erstaunt gewesen, als dieser Letztere sich plötzlich als ein harmloser deutscher Gelehrter entpuppte.

Das Wetter blieb unverändert schön und der Wind günstig; die Fahrt ging demnach glücklich, wenn auch sehr einförmig von statten, und zur bestimmten Zeit kam Liverpool in Sicht.

Von seiner Frau hatte Walter noch immer nichts gesehen. Nur die Mulattin sah er manchmal vorüber huschen, immer eilig, mit gesenkten Augen, immer gewählt, meist in Seide gekleidet, aber immer auch mit den unverkennbaren Abzeichen einer dienenden Stellung. Sie schien nur Spanisch zu verstehen; wenigstens gehörten die seltenen leisen Worte, die Walter von ihr vernahm, alle dieser Sprache an; als er jedoch ein paar Mal versuchte, sie in derselben anzureden, erschrak sie so heftig und ihre Verwirrung war so peinlich anzusehen, daß er ihr nicht einmal recht zu zürnen vermochte, als sie ihm die Antwort schuldig blieb.

Als er aber eines Tages zu ungewohnter Stunde – es war die Zeit, die er auf dem Deck zu verbringen pflegte – in seine Kajüte hinunter ging, sah er zu seiner Verwunderung die Thür der Nebencabine offen stehen, wahrscheinlich um der stärkenden Seebrise einen freieren Zutritt zu gewähren.

Mit einer leichtverzeihlichen Neugierde – war es ja doch das Zimmer „seiner Frau“ – und einem Herzklopfen, das er die Minute vorher noch für unmöglich gehalten hätte, trat er sachte näher und gewahrte in dem äußerst behaglich ausgestatteten kleinen Raume eine weibliche Gestalt, welche, den Rücken gewendet und in ein langes weißes Morgenkleid gehüllt, in einem vergoldeten Schaukelstuhle ruhte, über dessen Rückenlehne ihr schwarzes, bläulich glänzendes Haar in reichen, schweren Wellen niederfloß. Die Mulattin war nicht zugegen. Walter hatte sie erst vor einer kurzen Weile in ihrer gewohnten eiligen Weise sich nach den unteren Regionen des Schiffes wenden sehen, und als jetzt eine matte, traurige, aber, wie es Walter dünkte, unendlich süße Stimme nach „Mammi“ rief, trat er mit einer unwillkürlichen dienstbereiten Bewegung selber ein paar Schritte vor.

Allein kaum war der erste Ton seinen Lippen entflohen, als die Gestalt jählings auffuhr und, als ob der Blitz vor ihr niederschlüge, mit einem durchdringenden, herzerschütternden Schrei auf die Kniee und dann immer tiefer, das Gesicht abwärts gewendet, wie bewußtlos auf den Teppich glitt.

Walter wich entsetzt zurück. In demselben Augenblick stürzte auch schon die Mulattin an ihm vorbei, drängte den Erstarrten ohne Umstände zur Thür hinaus und schlug sie dann klirrend vor ihm zu. Erschrocken fragte sich Walter, ob Melazzo seine Tücke so weit getrieben, ihn mit einer Wahnsinnigen zu verkuppeln.

Darüber konnte der Arzt ihn vollständig beruhigen. Der gute Mann war trostlos und sehr zornig über diesen Ueberfall, den der ungeduldige Ehemann, wie er sich ausdrückte, verrätherisch hinter seinem Rücken ausgeführt und der für seine Patientin die traurigsten Folgen haben konnte.

„Wahnsinn? – Possen! – Krämpfe – Rückfall – Dummheiten.“

Was den Rückfall anbelangt, so hatte der Arzt sich leider nicht geirrt; von nun an blieb die Thür zur Cabine wie hermetisch verschlossen, und Walter hütete sich wohl, sie auch nur zu berühren, wenn er daran vorüber ging.

Nun legte das Schiff endlich in Liverpool an, und weiteres Versteckenspielen war nicht mehr möglich.

Es war gegen Abend, als die Fluth der Passagiere sich in die bereit gehaltenen Boote ergoß, um an das Ufer gebracht zu werden.

Nur Miß Walter zeigte sich noch immer nicht.

Eine geraume Weile wartete der junge Gelehrte geduldig vor ihrer Kajüte; endlich öffnete sich deren Thür. Walter war doch überrascht von der überaus zarten Gestalt, die schüchtern und sich fest an der voranschreitenden Mulattin haltend, über die Schwelle trat. Mehr als ihre Gestalt sah er freilich nicht. Ein weiter schwarzer Capuchon, an dem vorne ein dichter Schleier von derselben Farbe befestigt war, verhüllte sowohl die Form ihres Kopfes wie auch ihr Gesicht. Ihre Kleider waren schwarz und deuteten auf tiefe Trauer.

Mit einem leichten Neigen des Hauptes beantwortete sie seinen Gruß und trachtete dann an ihm vorbei rasch weiter zu kommen. Aber dieser erste Anlauf erlahmte schnell; sie mußte sehr schwach oder über alle Maßen geängstigt sein, denn ihr Gang war auffallend unsicher, und schon nach den ersten Schritten lehnte sie sich erschöpft an ihre Begleiterin.

Eben wollte Walter ihr seinen Beistand anbieten, als schon schallenden Schrittes der dicke Schiffsarzt heran kam; er zog ohne Umstände den Arm seiner Patientin in den seinigen und führte sie auf das Verdeck. Dem Ehemann blieb nichts übrig, als hinterher zu folgen. Und oben war es um nichts besser, denn da wartete schon der Capitain, um Abschied zu nehmen und seiner Schutzbefohlenen selbst in das Boot zu helfen, was er alles mit einer besonders aufmerksamen achtungsvollen Ritterlichkeit vollbrachte.

Beim Abschied küßte der dicke Arzt die junge Frau, ohne erst viel zu fragen, väterlich derb auf beide Wangen; zwar über dem Schleier, doch fand Walter, daß diese letztere Ceremonie füglich hätte unterbleiben können.

Erst am Ufer beim Landen kam er selbst zu seinem Recht. Er half ihr aus dem Boot und in den Wagen, und als er dabei jedesmal ihre kleine zitternde Hand für die Dauer einer Secunde in der seinigen hielt, überwallte ihn ein brüderlich warmes Bedauern, so scheu und furchtsam erschien ihm der leichte, flüchtige Druck. Der Mulattin erwies er denselben Dienst und nahm dann ihnen gegenüber seinen Platz.

Und nun auf der Fahrt nach dem Hôtel, ihr so nahe und in dem engen Raum bei jeder kleinen Bewegung mit ihr in Berührung gebracht, fühlte der junge Ehemann sich wunderbar beklommen. Jedesmal, wenn von den Gaslaternen auf ihrem Wege ein Lichtstrahl in den Wagen fiel, irrte sein Blick unwiderstehlich zu der ihm so nahe verbundenen verschleierter Gestalt hinüber. Sie hatte den Kopf ermüdet an die Schulter ihrer Nachbarin gelehnt; die auffallend kleinen Hände, von langen schwarzen Handschuhen bedeckt, ruhten matt in ihrem Schooße, und in der ganzen Haltung lag neben einfacher kindlicher Anmuth eine so tiefe, namenlose Traurigkeit, daß es ihrem durchaus nicht hartherzigen Gegenüber gewaltsam an die Seele griff.

Im Hôtel bestellte er die nöthigen Räumlichkeiten, und nachdem er, soweit es ihm möglich war, für die Bequemlichkeit seiner Begleiterinnen gesorgt und sich selbst durch ein Glas Wein gestärkt, ging er aus, um sich die fremde unbekannte Stadt noch ein wenig in der Abendbeleuchtung zu besehen.

Bei seiner Rückkehr erfuhr er, daß die Frauen sich bereits zur Ruhe begeben. Er fragte, ob seine Frau (wie geläufig das Wort ihm bereits von der Zunge ging!) sehr leidend gewesen?

„Sehr blaß habe sie allerdings ausgesehen – poor sweet young lady!“ schloß das nette Stubenmädchen mit einem theilnehmenden Seufzer.

Walter fühlte keine Neigung zum Schlafen. Ein helles Kohlenfeuer brannte im Kamin und spiegelte sich gemüthlich in der stählernen Einfassung ab. Er setzte sich bequem davor hin, verlangte noch eine Flasche Wein und Zeitungen, und von den leichten Wölkchen einer Havannah umspielt, entwarf er gemächlich seinen Lebensplan. Einmal mußte er doch gemacht werden. Die Heimath war nahe, und was bis jetzt einem phantastischen Traume geglichen, trat nun unabweislich in den Kreis des täglichen Lebens ein.

Zum ersten Male entschloß er sich also, den Thatsachen gerade in’s Gesicht zu sehen, und siehe da: es wurde ihm gar nicht so schwer. Er hatte eben, wie es zu geschehen pflegt, sich ganz unmerklich an sein Unglück gewöhnt. Freilich brachte er seiner Mutter eine Schwiegertochter mit, gegen die sie sich wahrscheinlich mit Hand und Fuß gesträubt hätte, wenn man sie vorher gefragt. Allein sie war nicht gefragt worden; die Heirath stand da als vollendete Thatsache. Das Mädchen war noch ein Kind, der Einwirkung erziehender Elemente in keiner Weise entwachsen; zudem war sie krank, und seine Mutter, wenn auch keine gelehrte, doch eine warmherzige Frau, welche mit Recht in allen rein menschlichen Fragen das volle Vertrauen ihres Sohnes genoß. Sie [779] würde, er zweifelte nicht daran, so sehr auch ihre eigenen Wünsche darunter leiden mochten, die Kranke mit offenen Armen empfangen und sie hegen und pflegen, als sei sie ihr eigenes Kind. Leugnen ließ sich ja doch nicht, daß Walter, in gewissem Sinne, allein der Trauung mit ihr sein Leben verdanke. An die Frage des gemischten Blutes dachte er nicht mehr. Er hatte zuletzt die Ueberzeugung gewonnen, daß die Mulattin, trotz aller zärtlichen Intimität, nichts als eine jener Dienerinnen war, einstige Ammen oder Wärterinnen, welche in den Häusern reicher Pflanzer bis zu ihrem Tode eine bevorzugte Stellung genießen. Und floß ein Tropfen schwarzen Blutes in den Adern seiner Frau und spielte ihr Teint in Folge dessen etwas mehr in’s Gelbliche, als es in Deutschland gewöhnlich ist – je nun, so war das für einen Botaniker, vor dem wie vor Gott alle Blumen gleich sein sollen, auch eben kein Unglück zu nennen; es würde ihm sogar, wie Walter sich scherzend sagte, seiner gelehrten Vorurtheilslosigkeit wegen in den Augen seiner Collegen ein imponirendes Relief verleihen. Für jetzt war man indessen noch nicht so weit. Es ließ sich sogar voraussehen, daß der verwöhnten und allem Anscheine nach auch sehr verweichlichten Creolin die bescheidenen Verhältnisse eines deutschen Gelehrtenlebens unerträglich, eng und drückend erscheinen müßten, und daß ihr zunächst jedes Mittel recht sein werde, um sich daraus zu befreien. Walter war auch darauf vorbereitet, nachdem er sie der Obhut seiner Mutter übergeben, das Seinige zur Herbeiführung der Scheidung beizutragen. Indessen – war sie nur einmal erst daheim bei ihm, so gewöhnte sie sich vielleicht an ein einfaches Leben, und da ihm Heirathen doch unabwendbares menschliches Schicksal zu sein schien, so konnte aus dem verrückten Zufall sich am Ende für Beide noch eine ganz erträgliche Zukunft gestalten.

Wahrhaftig! Es fiel ihm selbst auf, wie es heute schon das zweite Mal war, daß er sich auf dieser Wendung ertappte! Was war aus seiner unüberwindlichen Antipathie gegen die Ehe geworden? Wo war überhaupt sein Haß gegen die Weiber hin? Nicht einmal daran dachte er, daß gerade seine Frau durch ihre Kränklichkeit sich weniger noch als jede Andere für die Mühen eines botanischen Wanderlebens eignen dürfte, und plötzlich stand es sonnenklar vor seiner Seele, daß er sogar eine ganz gute Meinung von dem kleinen, überspannten, unbegreiflichen Ding eingesogen, das sich so eigensinnig jeder noch so bescheidenen Annäherung von seiner Seite entzog. Es fiel ihm ein, welche respectvolle Theilnahme sie Jedem eingeflößt, der mit ihr in Berührung gekommen, dem Capitain, dem Arzt und sogar dem Stubenmädchen hier im Hôtel, welches sie doch nur wenige Minuten hatte sehen können. Nicht einmal Melazzo’s wilde unbändige Natur hatte sich diesem Zauber zu entziehen vermocht. Daß er sie geschont, und zwar trotz aller für ihn damit verbundenen Fatalitäten, war hinreichender Beweis von ihrer Macht über ihn. Gewiß, sie mußte Eigenschaften besitzen, welche Liebe und Achtung einzuflößen vermochten, und zwar in nicht geringem Grade. Wie weit Manches, das er selbst von ihrer Persönlichkeit wahrgenommen, und Anderes, das er, ohne es sich gerade zu gestehen, als selbstverständlich voraussetzte, diesen günstigen Eindruck mitbegründeten, das erörterte er weiter nicht.

Spät schlief er ein, und spät erwachte er mit heftigen Kopfschmerzen. Es war ein unfreundlicher, naßkalter, nebeliger Morgen, ein Morgen, wie ihn so trübselig nur Englands Himmel seinen Kindern bescheert. Trotz der vorgerückten Stunde mußte Licht angezündet werden. Schon das gab dem Aufstehen etwas Fremdes, Unbehagliches, und Walter war so recht in der Stimmung, in der man eine schlechte Nachricht noch zehnmal schlechter findet, als sie ist.

An dieser sollte es denn auch nicht fehlen. Als der Kellner das Frühstück brachte, lag neben der Tasse verheißungsvoll ein zierliches Billetchen: feines englisches Papier von zartem Duft überhaucht, hübsche Damenschrift, und schon das Siegel deutete auf etwas Sentimentales hin: ein Grab und eine Trauerweide.

Walter betrachtete das Briefchen um und um, zog die Augenbrauen in die Höhe und sah den Kellner fragend an.

„Mistreß Walter wollte den Herrn nicht stören“, sagte Jener mit einer steifen Verbeugung.

Da es sich für einen Ehemann nicht schickt, über irgend etwas, was die Gemahlin unternehmen mag, in Unkenntniß zu scheinen, so nickte Walter nur mit echt britannischem Phlegma und winkte den Kellner hinweg.

Sie konnte also schreiben. Zwar hatte er sich die Frage nie vorgelegt, doch wäre es ihm ganz natürlich erschienen, wenn die Antwort darauf verneinend ausgefallen wäre. Nochmals betrachtete er das Billet und lächelte gutmüthig über die ängstliche, schülerhafte Eleganz der Schrift.

„Sie eröffnet also selbst die Unterhandlungen,“ dachte er, während er langsam und doch neugierig das Couvert aufschnitt.

Aber das Lächeln schwand von seinen Lippen, sowie er einen Blick in das Schreiben geworfen; er sprang zum Glockenzug.

„Um wie viel Uhr ist meine – meine Frau abgereist?“ fragte er den zurückkehrenden Kellner mit Fassung.

„Gegen vier Uhr Morgens,“ lautete der Bescheid.

Walter wendete sich dem Fenster zu.

„Und sie hat nicht hinterlassen, mit welcher Bahn sie reist?“

„Nein. Die Lady war nur sehr besorgt, daß Mr. Walter nicht gestört werde, da er sehr ermüdet von der Reise sei.“

Wieder wurde der Mann hinweggewinkt und Walter stand da, als habe sich plötzlich ein Abgrund vor seinen Füßen geöffnet.

Nochmals überlas er das Billet, aber da stand es noch immer. Eine Täuschung war nicht möglich.

„Nie werden Sie mich wiedersehen. Vergessen Sie mich, als hätte ich nie gelebt! Nie wieder werde ich Ihren Lebensweg durchkreuzen. Aber nie auch werde ich vergessen, daß Sie mich aus der Gewalt eines Scheusals befreiten, das seine Hände mit dem Blute meiner nächsten Angehörigen befleckt hat. Wo Sie auch sein mögen: meine innigsten Wünsche für Ihr Glück, mein Dank, mein Gebet werden Sie überall begleiten.“

Da stand es; keine Silbe ließ sich davon wegklügeln. Die Schrift mochte noch an einer gewissen Unsicherheit leiden, über das Geschriebene selbst, über den Inhalt hatte sie gewiß nicht geschwankt. Und auch diese Schrift, trotz ihrer schülerhaften Aengstlichkeit, zeigte doch auch einen unverkennbaren festen Zug.

Was halfen nun alle schönen Vorsätze, mit denen er sich so süß in den Schlaf gewiegt, in der angenehmen Ueberzeugung, ein höchst edler Mensch zu sein? Es ist sehr ärgerlich, wenn Einem die besten Vorsätze in so fatal rücksichtsloser Weise vor die Füße geworfen werden; es ist ärgerlich, und Walter ärgerte sich denn auch.

Und nicht allein dieser Umstand, sondern fast noch mehr die Wandlung, die mit ihm selbst vorgegangen war, verdroß ihn. Vor ein paar Wochen noch wäre ihm diese Lösung des aufgedrungenen Verhältnisses als ein Glück erschienen, und nun auf einmal kam er sich wie beraubt, wie verrathen vor. Es war, um an dem eigenen gesunden Menschenverstande zu zweifeln. Er konnte es gar nicht fassen, wie er sich in so kurzer Zeit, ohne es nur zu ahnen, so sehr an das ungezogene kleine Ding hatte gewöhnen können, mit dem er nie ein Wort gesprochen, von dem er – und das war das Aergerlichste – auch nicht die Spitze des Näschens gesehen.

Und dann kam die Sorge: Wo war sie hin? Was sollte aus ihr werden? Daß sie hauptsächlich vor ihm geflohen, weil sie den Mörder ihrer Verwandten auch in dem Gatten haßte, den dieser Mörder ihr aufgezwungen, das dünkte Walter unzweifelhaft. Hätte er sie doch nur aufzuklären gesucht! Wäre er nur einmal energisch durch den Wall anerzogener Rücksichten gebrochen, die ja doch nur den Werth von Spinngeweben haben, wo es das Glück eines Menschen betrifft! Hätte er ihr nicht schreiben können, wenn sie es durchaus zur mündlichen Besprechung nicht kommen ließ?

Betrübt nahm er das Briefchen wieder auf. Sein Blick fiel auf das Siegel mit dem Grab und der Trauerweide. Ja, so dürfte es wohl kommen! Fort, um unbehelligt von ihm in irgend einem unbekannten Winkel zu sterben! Armes Kind! So jung, so krank! Ohne Freunde, ohne Pflege, fremd unter Fremden! Und er wußte nicht einmal, ob sie hinreichend mit Geld versehen sei, und doch hatte er eine bedeutende Summe ihres Vermögens in der Hand!

Er raffte sich auf, kleidete sich an und eilte auf das Schiff.

Der Arzt war verreist, Niemand wußte wohin. Der Capitain war zugegen. Damit war jedoch wenig geholfen. Mrs. Walter war als Mrs. Walter eingetragen worden; er hatte sie nie anders genannt, nie anders nennen hören – weiter wußte er nichts. Die herbeigerufenen Stewards behaupteten dasselbe und gaben sich sehr wenig Mühe zu verbergen, daß sie den so völlig verblüfft dastehenden Ehemann überaus komisch fanden.

[780] Walter schämte sich und that, was er gleich hätte thun sollen: er wendete sich an die Polizei mit dem Auftrage, die Entflohenen zurückzubringen.

Die Sache verzögerte sich. Allerlei Formalitäten, von deren Erfüllung die Polizei ihr Eingreifen dem zugereisten Fremdling gegenüber abhängig machte, verhinderten ein rasches Aufnehmen der Spur, und nachdem so der junge Mann länger als eine Woche in vergeblichem Warten höchst unbehaglich zugebracht und nichts als falsche Meldungen erhalten, benutzte er den nächsten Zug nach London, unterrichtete seine Mutter durch ein paar Zeilen von seiner nahen Ankunft und schiffte sich ohne weiteren Aufenthalt nach Deutschland ein. Was ihn früher oft genug gepeinigt, daß nämlich kein Mensch in der Heimath auch nur die leiseste Ahnung von seiner unseligen Heirath hatte, war ihm jetzt, bei der lächerlichen Wendung, welche die Angelegenheit genommen, eine unsägliche Erleichterung.

Zu Hause fand er Zerstreuung. Es konnte nicht fehlen, daß der junge Forscher, als er die wissenschaftlichen Kreise Einblicke in die reichen Schätze seiner Entdeckungen thun ließ, mit Gunst und Ehren überhäuft wurde. Die Ernennung zum ordentlichen Professor der Botanik an der Universität des Ländchens, in welchem Walter’s Vaterstadt lag, war die erste reife Frucht, die vom Baum der Erkenntniß herab dem jungen Gelehrten in den Schooß fiel. Das lenkte auch die öffentliche Aufmerksamkeit auf ihn; der „Urwaldreisende“ wurde der Modeheld des Tages. Eine Reihe öffentlicher Bankete feierte ihn, und um dem Mädchenflor des Städtchens ebenfalls Gelegenheit zu geben, sich vor dem wohlbesoldeten jungen Professor zu entfalten, veranstaltete der galante Magistrat zuletzt noch einen Ball. Neben den officiellen Festlichkeiten fehlte es selbstverständlich nicht an privaten, und nachdem der dankbare Held derselben sich durch dies Alles hindurch gegessen, gesprochen und getanzt, dankte er Gott, als er endlich in sein Studirzimmer und in den ungestörten Kreisgang seiner Berufspflichten einlandete.

Es folgte nun eine Zeit ruhigen genußreichen Schaffens. Seine Notizen und Tagebücher durchzusehen, die Lücken auszufüllen das flüchtig Entworfene zu vollenden, manchen Irrthum zu berichtigen und die letzte ordnende Hand an seine Sammlungen zu legen, das war seine nächste Aufgabe, und mit voller treuer Liebe gab er sich ihr hin.

Das hinderte jedoch seine Gedanken nicht, von Zeit zu Zeit nach Englands grünen Fluren abzuschweifen und dort nach etwas zu suchen, das er nicht mit Namen zu nennen wußte, das aber jedenfalls in seinem letzten Tagebuche als „Meine Frau“ hätte figuriren sollen, wenn dasselbe ganz erschöpfend gewesen wäre.

Die letzte Nachricht, die er von dort erhalten, war, daß die Gesuchte nirgends zu finden sei. Zugleich sprach sich der englische Polizeichef sehr ungehalten über die Ungenauigkeit der Angaben aus, welche der suchende Ehemann hinterlassen. Hatten seine Organe doch mehrmals junge Mädchen aus angesehenen Häusern arretirt, blos weil sie sich mit Dienerinnen farbigen Blutes auf der Gasse gezeigt. Ein paar Aufrufe, welche Walter unter der Hand in größere europäische Zeitungen hatte einrücken lassen, lieferten keinen besseren Erfolg. Die Wunde, welche das Entweichen der Niebesessenen seinem Herzen geschlagen, war allerdings nicht sehr tief. Und doch blieb in ihm eine Leere, ein unbestimmtes Sehnen, nicht gerade nach der Entschwundenen, aber doch von ihr herstammend.

Und zu der geheimen Peinlichkeit seiner Lage gesellte sich noch das Komische, daß er, der früher nie an den Eindruck gedacht, den seine Persönlichkeit etwa da oder dort machen könne, jetzt in der beständigen Angst schwebte, selbst durch die geringste Aufmerksamkeit vielleicht ein Mädchenherz unglücklich zu machen für seine ganze Lebenszeit.

Er vermied daher Frauengesellschaft, wo es sich nur thun ließ, und wo es sich nicht thun ließ, zeigte er sich so vornehm wortkarg und so langweilig unnahbar, daß er für so viel Tugend sehr bald als Lohn den Ruf erntete, ein beschränkter, verbissener Weiberhasser und obendrein ein eitler Geck zu sein – zwei Behauptungen, die seiner Mutter eine arge Demüthigung und ein bitterer Kummer waren.

Sie selbst konnte nicht viel um ihn sein. Bei acht Kindern, welche fast sämmtlich wiederum Familien hatten, gab es für eine Mutter der Ansprüche gar viele zu befriedigen. Zudem war ihr die eine Tochter kürzlich gestorben, und deren vier kleine Waisen nahmen natürlich der Großmutter Zeit und Gedanken fast völlig in Anspruch. Walter sah förmlich mit einer Art von Neid, wie der Schwager, der doch ein geliebtes Weib verloren, in seinen Kindern und in der warmen Fürsorge, welche sich von den Verwandten her um diese und um den Wittwer sammelte, noch immer glücklicher war, als er, der Vereinsamte.

Das ärgerte ihn. Er war überhaupt in diesem Punkte sehr empfindlich geworden. Sogar die zwei kleinen pausbackigen Schreihälse, welche dem einst für ihn bestimmten, nun anderweit vermählten blonden Bäschen ihre lärmende Existenz verdankten, ärgerten ihn jedesmal, wenn er sie sah.

So lebte er denn in sein Studirzimmer gebannt, nur mit seinen Büchern beschäftigt, und stärkte sich an dem Troste: für einen Gelehrten sei dies das würdigste Loos.

Aber auch hier verschonte man ihn nicht mit Versuchen, ihn zu verheirathen. Von allen Ehestifterinnen war seine Mutter die eifrigste. Trotz der schwarzen Melancholie, welche ihre Schleier täglich dichter über sein Gemüth breitete, mußte Walter lachen über diese allgemeine Sucht, ihn unter die Haube zu bringen, dann ärgerte er sich, und zuletzt hielt er es nicht mehr aus. Was alles Zureden seines Arztes nicht vermocht hatte, das vermochten die guten Freunde und das Heer sehnender Schönen, das hinter ihnen drein marschirte – wenigstens in Walter’s Phantasie – und an einem schönen Sommermorgen beschloß er, nolens volens sich der über ihn verhängten wohlgemeinten, aber unerträglichen Plage durch eine Badereise zu entziehen.

[793] Der Arzt hatte die Seebäder von H. als besonders zweckdienlich empfohlen. Urlaub stand dem Professor zur Verfügung, und so nahm er denn Abschied und reiste zur Cur nach H.

„Wenn Du nur,“ klagte seine Mutter, als sie ihn weinend aus ihrer letzten Umarmung ließ, „wenn Du Dir nur eine recht gute Frau aus dem Meere fischen könntest!“

„Die Bibliothek kann er nicht mitnehmen, das Studirzimmer auch nicht – das ist immerhin etwas“ tröstete sie der Arzt.

Die Wandlung that Wunder. Schon der Kraftaufwand, den Walter die Ausführung seines Entschlusses gekostet, hatte ihm wohlgethan, und nun der Wechsel der Eindrücke, die frische, belebende Strömung menschlichen Wirkens und Schaffens, die von allen Seiten bei der unterbrochenen Veränderung des Ortes unaufhaltsam auf ihn eindrang! Ihm war, als erwache er aus einem schweren Traum. Himmel, Erde, Luft, zuletzt Meer und nebenher sein eigenes Selbst erschienen ihm auf einmal in einem neuen, goldenen Licht, und der verdrossene, abgestorbene Melancholiker war, als er erst ein paar Wochen in H. verweilt hatte, wieder ein lebendiger, liebenswürdiger und – für den Augenblick wenigstens – sogar ein glücklicher Mensch geworden.

Wie viel Antheil die Baronin Stoerbeck und ihre anmuthige verwittwete Schwester, zwei durch Distinguirtheit ihres Wesens unter den Badegästen ausgezeichnete Damen, an dieser Umwandlung hatten, das hätte der gelehrte Professor kaum zu sagen vermocht.

Er verkehrte täglich mit den Damen. Sie wohnten mit ihm in demselben Hôtel, in dem sie nur wenige Tage nach ihm eingekehrt waren. Die leichte, anmuthige, immer belebende, wenn auch mitunter ein wenig neckisch-boshafte Unterhaltung der schönen Baronin hatte ihn ungemein angezogen, vom ersten Tage ab, da die Table d’hôte ihn mit den Damen zusammengeführt. Die Baronin war dem Gelehrten, dessen wissenschaftliche Bedeutung sie genau zu kennen schien, mit einer ihn anfangs frappirenden Freundlichkeit entgegengekommen, die fast an Herzlichkeit grenzte und die um so schmeichelhafter für ihn war, als die Baronin, da ihr Gemahl sie nicht hatte begleiten können, sonst so viel wie möglich das Anknüpfen neuer Bekanntschaften mied; hatten sich ihm doch sehr bald sogar die elegant ausgestatteten Räume geöffnet, welche die beiden Damen bewohnten.

In diesem erquickenden Umgang vergingen ihm die Stunden wie Minuten; der Bücherstaub flog ab von der Welt seines Wissens, und wenn er von seinen Reisen und Erlebnissen erzählte, zogen die fernen Gegenden wie sichtbar an dem Geist seiner Zuhörerinnen vorüber und die Blumen, die er beschrieb, blühten und dufteten für sie gleichsam so frisch, wie draußen, wo er sie gefunden.

Daß die Baronin sich sehr gern mit dem Professor unterhielt, konnte keinem Zweifel unterliegen. Viel schwerer schien es, ihrer Schwester geistig näher zu kommen. Die junge Dame war ziemlich schüchtern und hatte dabei etwas so mädchenhaft Keusches und Liebliches in ihrem ganzen Wesen, daß Niemand, dem man es nicht ausdrücklich gesagt, sie für eine Wittwe gehalten haben würde. Sie hatte, wie man wissen wollte, dem geliebten Todten unwandelbare Treue gelobt und bereits mehrere vollkommen passende Anträge zurückgewiesen; der Wunsch, ähnlichen Versuchungen nach Möglichkeit auszuweichen, war – so behauptete man – der Hauptgrund der strengen Zurückgezogenheit, in welcher sie lebte. Im Uebrigen waren diese Zurückgezogenheit sowie die Farbe der Trauer in ihrer Kleidung und die tiefe Schwermuth, welche die anmuthigen Züge überschattete, die einzigen Spuren welche jene herbe Erfahrung ihr hinterlassen, und der Gram hatte ebenso wenig die holde Frische ihrer Jugend, wie ihre kurze Ehe den Reiz süßer verschleierter Jungfräulichkeit von ihrer Erscheinung abzustreifen vermocht.

Dem Professor war sie durch dies Alles ein beständiges liebliches Räthsel, in dessen Lösung er sich, ohne es zu bemerken, immer mehr vertiefte. Eine nie empfundene Ruhe, eine unbeschreiblich harmonische Befriedigung überkam ihn in ihrer Nähe; es war, als habe er lange, unter mühsamer Anstrengung, den Schlußaccord einer bekannten Melodie gesucht und nun auf einmal mühelos, unerwartet gefunden.

Ihre Augen waren wunderbar groß, dunkel und sanft, und der gelehrte Professor blickte so gern hinein; sie hingen so gespannt an seinen Lippen, wenn er sprach – kam die Anregung zu der bezaubernden Unterhaltungsgabe, die er so plötzlich entwickelte, ihm vielleicht gar aus der leuchtenden Tiefe dieser schönen Augen? Diese Augen, sie erinnerten ihn an diejenigen seiner Frau, obgleich er sie doch kaum gesehen. Und es waren nicht die Augen allein; das ganze Wesen der jungen Wittwe rief die Entflohene in seine Erinnerung zurück, so wenig die in blühender Gesundheit prangende Gestalt vor ihm an das zarte Geschöpf mahnte, das Melazzo’s Hand seiner ehelichen Fürsorge aufgezwungen hatte. War es, daß die Erscheinung der reizenden Wittwe ihn wirklich tiefer interessirte und daß ihm darum das Hemmniß in seinem Wege wieder deutlicher in’s Bewußtsein kam? Oder geschah das, weil die wehmüthige Vorstellung, daß all dieses süße, knospende [794] Jugendleben, diese frische, halb verborgene Fülle beglückendster Weiblichkeit unwiderruflich dem Cultus eines Todten gewidmet war, was ihr in seinen Augen eine gewisse Verwandtschaft mit seinem eigenen Schicksale verlieh?

Wie dem auch sein mochte, so viel ist gewiß, daß er noch nie so oft und so liebevoll der Entschwundenen gedacht hatte, wie jetzt, an der Seite Lucia’s.

Die Baronin schien nicht zu merken, wie der trübe Schatten immer mehr von der Stirn ihrer Schwester schwand, wie ihre erste scheue Blödigkeit, zwar langsam und zaghaft, aber doch immer mehr einer holden Vertraulichkeit wich; sie schien es nicht zu sehen, wie lieblich die junge Frau erröthete, wenn der gelehrte Freund eintrat, mit welchem glücklichen Lächeln sie die kleinen Aufmerksamkeiten aufnahm, die er ihr erwies, welch Hangen und Bangen in ihrem ganzen Wesen lag, wenn er einmal gar nicht oder nur später als erwartet erschien – oder wollte sie es nicht sehen? Manchmal, wenn der Professor sich gar zu sehr in der Betrachtung seiner anziehenden Zuhörerin versenkte, sodaß er darüber ganz die Gegenwart der Baronin vergaß, dann beobachtete ihn wohl die liebenswürdige Frau mit einem eigenthümlichen, zugleich warmen und schalkhaften Blick. Und eines Tages begegnete er zufällig diesem Blick der Baronin und wurde davon bis in die innerste Tiefe seines Gelehrtenstubengewissens getroffen. Er fand keine andere Erklärung für diese zärtlich lachenden, in seinen Anblick verlorenen Augen, als die eine zunächstliegende. – –

War es denn möglich? Hatte sie, die Baronin, wirklich seine achtungsvolle Aufmerksamkeit verkannt und ein wärmeres Gefühl für ihn gefaßt, für ihn, der doch an weiter nichts gedacht, als einige Stunden angenehm zu verplaudern? Sie, eine vernünftige Frau von dreißig Jahren, die noch dazu einen solchen Engel von Schwester an ihrer Seite hatte?

Ach, die Schwester! Ja, da saß es! Und mit einem Male wußte der Professor, wie es mit ihm stand. Die Leidenschaft, die bisher ruhig in ihm gelegen wie ein blauer lächelnder See, brauste plötzlich und wie eine Sturmfluth auf und riß Alles nieder, was an Besinnung und Widerstand in ihm noch übrig war. Kein Wunder, daß auch jeder Gedanke an die Herzensverirrung der Baronin total darin unterging.

Ueber diese wäre er ohnedies sehr bald beruhigt worden. Schon bei der nächsten Table d’hôte kam ihm die liebenswürdige Frau in heller Freude entgegen.

„Mein Mann kommt endlich in einigen Tagen!“ rief sie entzückt und drückte dabei dem Schuldbewußten auf das Herzlichste die Hand. „Vor ein paar Stunden kam der Brief – Sie glauben nicht, wie glücklich ich bin! Und wie freut er sich, Sie kennen zu lernen! Ich und Lucia“ – hier warf sie einen lächelnden Blick auf ihre tief erröthende Schwester – „haben ihm bereits so viel von Ihnen geschrieben – – Aber was haben Sie? Sind Sie krank?“ unterbrach sie sich, ihren Ton plötzlich verändernd. Und auch die junge Wittwe sah ihn so bang und besorgt an, daß er unwillkürlich einen Blick in den Spiegel warf und nun über sein verändertes Aussehen selbst erschrak. Aber vergebens nahm er sich zusammen und suchte seine frühere heitere Unbefangenheit wieder hervorzuzwingen; die Revolution in seinem Innern wollte nach außen ihren Ausdruck haben, und zum ersten Male, seitdem er die Cur begonnen, litt unser Botaniker an Sprach- und Appetitlosigkeit.

Als die Table d’hôte endlich überstanden war, nahm die Baronin scherzend seinen Arm.

„Ich nehme Sie gleich mit,“ sagte sie, „die Luft wird Ihnen wohl thun, und mir ist es Bedürfnis, meine Freude in’s Freie zu tragen.“

Sie verließen das Hôtel und wanderten langsam zum Strande.

„Sie wissen nicht, welch ein prächtiger Mensch mein Lothar ist,“ plauderte die Baronin heiter. „Es ist eigentlich kindisch von einer so alten Frau, nach einer kaum dreiwöchentlichen Trennung von ihrem Ehemanne sich so sehr auf das Wiedersehen zu freuen, aber selbst in meiner Brautzeit hätte ich mich nicht inniger nach ihm sehnen können. Wenn es wahr ist, daß die Ehe die Liebe tödtet, so hat der Himmel mit uns eine gütige Ausnahme gemacht. Ich bin nun zehn Jahre verheirathet, aber ich glaube, gerade jetzt könnte ich die größten Thorheiten begehen, wenn meiner Liebe Gefahr drohte, und ich denke nicht, daß Lothar viel vernünftiger ist. Aber Sie werden ihn ja sehen, und ich bin überzeugt, daß auch Sie Gefallen an ihm finden werden –“

„Und wie wird er sich über Lucia freuen!“ fuhr sie fort, ohne zu beachten, wie der Professor sie ob dieser intimen Beichte verwundert ansah. „Die Seebäder haben Wunder an ihr gethan“ – hier warf sie einen verstohlenen Seitenblick auf den Professor – „haben wir doch lange geglaubt, sie würde sich von dem furchtbaren Schlage niemals erholen, und eigentlich war es viel mehr ihretwegen, daß meine Nerven durchaus der stärkenden Seebäder bedurften. Nun, das Mittel hat angeschlagen,“ lachte sie fröhlich, „und ich hoffe, o, ich hoffe, daß Alles noch gut werden wird.“

Wieder streifte ein bedeutsamer Blick ihren Begleiter, jener Blick, der zugleich ein lustiges Geheimniß und ein warmes Herzensinteresse anzudeuten schien und der ihn gestern so unverständlich berührt hatte.

„Lucia ist so viel besser als ich,“ fuhr die schöne Frau nach einer Pause mit Innigkeit fort. „Ich war immer flatterhaft und voller Launen, und es bedurfte Lothar’s ganzes Erziehungstalent, um eine halbwegs vernünftige Frau aus mir zu machen. Aber mit Lucia war das ganz anders. Sie hat immer etwas Liebes und Ernstes gehabt, selbst als sie noch klein war, und was hat sie nicht Alles schon durchlebt!“

Wieder schwieg sie und sah vor sich nieder, wie in trübe Erinnerungen verloren.

„Es giebt wohl nichts Traurigeres für ein Kind,“ hub sie dann wieder an, „als kein eigentliches Elternhaus zu haben. Verwandte, mögen sie noch so zärtlich sein, ersetzen das nie. Mein leichter Sinn hob mich aber darüber hinweg, und ich habe wenigstens eine glückliche Kindheit gehabt. Als mein Vater starb, war ich acht Jahre alt, und als dann meine Mutter wieder, und zwar in das Ausland, heirathete und mich bei ihren Eltern zurückließ, noch nicht zehn. Sie hatte wenig Freude draußen. Schon die Trennung von mir, mehr noch die rohe Art des Stiefvaters zehrten an ihrem Leben, ein nie verlöschendes Sehnen führte sie langsam dem Grabe zu. Kaum ein Jahr nach Lucia’s Geburt, welche Zeit sie bei den Großeltern verbrachte, weinte ich an ihrer Leiche. Lucia blieb zunächst, wie ich, bei den Großeltern; ihren Vater habe ich seitdem nicht mehr gesehen – Sie können sich denken, was die Kleine für mich war. Eine niedlichere Puppe konnte ich mir gar nicht wünschen, und sie hatte den großen Vorzug, daß sie lebendig war. Uebrigens machte ihr herziges stilles Wesen sie bald zum allgemeinen Liebling, und das nahm zu, wie sie heranwuchs. Hätte mein Stiefvater sie uns doch gelassen! Gott sei Dank! sie hat nichts von ihm, als eine gewisse äußere Aehnlichkeit, im Gemüth, im Charakter gleicht sie ganz unserer sanften, vortrefflichen Mutter. Als sie kaum buchstabiren konnte, nahm der Vater sie von uns weg und ließ sie nach Frankreich in ein Kloster bringen, wo sie erzogen wurde. Bald nachdem sie es verlassen, fand ihre Vermählung statt und –“

Die Baronin stockte, eine tiefe Trauer überschattete ihr sonst so heiteres Gesicht.

„Es ist Schreckliches über das arme Kind gekommen“ fuhr sie nach einer Pause fort: „Ihr Vater starb auch, und so kam sie denn wieder zu uns, als Wittwe, gebrochen an Körper und Seele. Erst glaubten wir, sie werde ihr Unglück nicht überleben. Aber Gott ist gnädig, selbst in seiner Strenge. Er hat meinem Schwesterchen Hülfsquellen gegeben, die er meiner prosaischen Natur gänzlich versagte. Alles unter dem Himmel, Kleines und Großes, macht ihr Freude. Auch dem Unbedeutendsten weiß sie einen Reiz abzulauschen und es ist zum Staunen was sie Alles weiß. Sie sollten nur ihre Bibliothek zu Hause sehen, und besonders für die Botanik hat sie eine ganz eigene Passion.“

Hier blitzten wieder ihre Augen in heiterer Schalkhaftigkeit den Professor an, aber Walter fand noch immer nichts zu sagen.

„Sie hat seitdem immer bei uns gelebt,“ erzählte die Baronin weiter, „und ich kann wohl behaupten, daß sie uns recht unentbehrlich geworden ist. Mein Mann liebt sie fast wie ein eigenes Kind, und was mich betrifft, so weiß ich wirklich nicht recht, wie ich ohne Lucia im Hause fertig werden soll, aber doch würde ich mich von Herzen freuen, wenn endlich auch meiner armen kleinen, vielgeprüften Schwester ein wahres Glück erblühen könnte, wie ich es gefunden und wie sie es so sehr verdient.“

Die Baronin hatte Thränen in den Augen während sie das [795] Letztere sprach – und der Verstockte schwieg noch immer! Was sollte er auch sagen? Konnte er auf all diese deutlichen und so liebevoll gemeinten Winke mit der brutalen Antwort kommen: „Meine Gnädigste, ich verstehe Sie recht gut, aber mir ist es leider unmöglich, Ihrer reizenden Schwester ein solches Glück zu schaffen, denn ich bin seit vollen vier Jahren ein verheiratheter Mann, für den es nicht einmal eine Scheidung giebt, da ihn die Frau mit dem Ehecontract unwiederbringlich verlassen und so in die Lage gesetzt hat, nicht einmal seine Verheirathung beweisen zu können“?

Die Baronin hatte, wie es schien, keine Ahnung von den Qualen, die sie ihrem unglücklichen Zuhörer durch ihre freundlichen Mittheilungen bereitete. Der heilige Laurentius auf seinem Roste war unleugbar, so weit es den Körper betrifft, in einer weit fataleren Lage, als der Professor in diesem Augenblick, allein im Gemüthe bestand zwischen Beiden eine starke Aehnlichkeit, nur daß der Letztere sich mit weit weniger Heroismus in die Verhältnisse schickte. Der Spaziergang wollte dem Professor durchaus nicht bekommen; sobald man das Hôtel wieder erreicht hatte, schloß er sich in sein Zimmer ein und ließ sich für den Abend bei den Damen entschuldigen.

In unbeschreiblichen Herzensqualen verbrachte er die Nacht, und als er am andern Morgen seinen Nachbarinnen bei der Frühpromenade begegnete, starrte ihn die Baronin erschrocken an und die schönen Augen ihrer Schwester füllten sich mit Thränen, die sie nicht ganz zu verbergen vermochte. Ja, sie überwand nach längerem sichtlichem Kampfe ihre Schüchternheit so weit, daß sie plötzlich von freien Stücken ihre Hand in den Arm des leidenden Freundes legte. Unter dem Vorwande, ihm eine eigenthümliche Pflanze zu zeigen, die sie am vergangenen Tage bemerkt, führte sie ihn eine kleine Strecke abseits von der Gesellschaft, und mit welch holder Befangenheit, und zugleich wie innig bat sie ihn während der wenigen Schritte, doch ja auf seine Gesundheit Acht zu geben – es würde gewiß für Schwester und Schwager – und auch für sie selbst, setzte sie leiseren Tones und tief erröthend hinzu, ein großer Schmerz sein, wenn eine Krankheit ihn befallen sollte. Und mit welcher zärtlichen Besorgniß hatte sie dann einen flüchtigen Augenblick zu ihm aufgesehen! Der Professor war gerührt bis in das innerste Herz. Er fühlte es der lieben jungen Frau nach, wie viel der kleine Schritt ihrem zurückhaltenden Wesen gekostet haben müßte, und im festen Glauben, daß man dem verzagten Freier großmütig entgegen kam, empfand er es als heilige Pflicht, den liebenswürdigen Frauen die volle Wahrheit über sich und seine Verhältnisse zu sagen.

Aber dann, wie unendlich lächerlich kam er sich wieder bei der ganzen Geschichte vor! Wie würden sie seine Mittheilung aufnehmen? Würden sie ihm glauben? Und wenn – würde nicht die Baronin, würde nicht vor Allem Lucia sich mit Verachtung von ihm wenden? Er fühlte sich zerschmettert bei der bloßen Vorstellung. Den Gedanken, Lucia aufzugeben, vermochte er nicht einmal auszudenken. Es war ihm, als müsse das Leben für ihn auslöschen, wenn der süße Wohllaut ihrer Stimme, wenn das sanfte Licht ihrer Augen aufhören sollten, es zu verklären. Er dachte sich ihr stilles, umsichtiges häusliches Walten, das sich nie vordrängte, nie geräuschvoll auftrat, das aber immer vorgesorgt hatte, gerade wo es nöthig war. Wie war sie so ganz geeignet, das Leben eines ruhigen Gelehrten zu verschönern, der neben seiner Wissenschaft keine andere Welt suchte und wünschte, als die kleine Welt seiner Familie! Gerade ihre Mängel empfand er als Vorzüge; daß sie bei einer weit gediegeneren Bildung weniger von jenem glänzenden Esprit zur Verfügung hatte, welcher der Conversation der Baronin einen so pikanten Reiz verlieh, war ihm eine werthvolle Bürgschaft für den Frieden seiner Studirstube.

Ruhelos wanderte er den Vormittag über einsam am Strande hin, und das Resultat aller Ueberlegungen und Kämpfe war der feste Entschluß: er wollte beichten.

Es wurde Abend, bevor er den Entschluß ausführte. Die Baronin nöthigte ihn, wie gewöhnlich, nach dem Abendessen auf ihr Zimmer, und dort saß er, zwischen bunten Teppichen, gestickten Polstern, Albums und einem Allerlei von jenen farbigen, luxuriösen Spielereien, welche die elegante Welt zu ihren Bedürfnissen zählt, vor dem gedeckten Theetische. Ihm gegenüber hatten die Baronin und Lucia Platz genommen, jene in heller Sommertoilette, diese in schlichter schwarzer Seide. Die Letztere war angelegentlich mit einer Stickerei beschäftigt, und wie ein Schleier fielen ihr dabei die dunkeln, glänzenden Locken immer wieder eigensinnig in das gesenkte Antlitz.

Endlich – endlich nahm das Gespräch eine Wendung, welche ihm eine Anknüpfung verstattete, und mit wahrer Hast benutzte der Professor den Augenblick.

„Ja, ja! Man kommt zu vielen Uebeln unverhofft, am unverhofftesten manchmal zu einer Frau.“

Bei dieser Bemerkung des Professors hob sich das Gesicht der Stickenden ein wenig böse und leicht erröthend von der Arbeit, als jedoch ihre Augen denen des jungen Gelehrten begegneten, schrak sie mit erneutem Eifer wieder in das Zählen ihrer Stiche zurück. Die Baronin dagegen biß sich auf die Lippen und lachte dann plötzlich hell auf.

„Als unverheiratheter Mann haben Sie eigentlich kein Recht so zu sprechen,“ sagte sie dann, sich mühsam zum Ernst zwingend, „oder waren Sie vielleicht einmal mit dem schweren Uebel bedroht, eine Frau zu bekommen?“

Der Professor zögerte; sein Blick streifte, wie fragend, nach der jüngeren Schwester hinüber, doch sie hatte das Gesicht tiefer gebeugt, und er sah fast nichts als die störenden, verschleiernden Locken. Nur die Hand, mit der sie den Faden zog, zitterte merklich, und es konnte der Arbeit nur zu Gute kommen, daß sie plötzlich, wie ungeduldig, mit dem Nähen inne hielt und das schwierige Muster von neuem nachzuzählen begann.

Die Stirn des gelehrten Mannes umwölkte sich zusehends.

„Nun?“ fragte die Baronin, deren lachende Augen sein verrätherisches Gesicht nicht einen Augenblick verließen.

„Sie fragen, ob ich damit bedroht war? – Es ist weit schrecklicher, Baronin – ich bin verheirathet –“

Die Baronin nahm sich ersichtlichermaßen gewaltsam zusammen, um ihre merkwürdige Lachlust zu bändigen; ein bittender Blick aus Lucia’s Augen half ihr zum Siege.

„Mit welcher Grabesstimme Sie dies sagen!“ sprach sie endlich. „Bedenken Sie auch, wie wenig schmeichelhaft das ist für Ihre liebe Frau? Und wissen Sie außerdem, daß Sie gar nicht ehrlich sind? Was! seit fünf Wochen verkehren wir täglich mit einander, und wir und die ganze hiesige Badewelt hielten Sie noch immer für unvermählt. Haben Sie denn nie bedacht, welches Unheil Sie durch Ihr Schweigen anrichten konnten?“

Die dichten Locken der jungen Wittwe verbargen hülfreich ihr plötzliches heißes Erglühen bei der letzten Anspielung.

Auch der Professor war erröthet.

„Ich habe wirklich nicht daran gedacht,“ versetzte er einfach.

„Männliche Bescheidenheit!“ spottete die Baronin. „Aber warum nie ein Wort über Ihre Frau?“

„Weil ich selbst nichts von ihr weiß –“

„Sie scherzen.“

„Wollte Gott, es wäre ein Scherz!“ erwiderte er gepreßt.

„Sie sind doch nicht geschieden?“

Der Professor zuckte die Achseln.

„Ja und nein. Wenn Sie unter Scheidung Trennung verstehen, so sind wir allerdings geschieden, doch nach dem Gesetze sind wir es nicht.“

„Und das ertragen Sie?“

„Man muß eben ertragen, was man nicht ändern kann.“

„Haben Sie es denn versucht?“

„Nein. Es würde zu nichts führen. Auch wäre für mich allein der Gewinn die Anstrengung nicht werth.“

Die Baronin schüttelte den Kopf.

„Professor, Sie sind ein Schelm,“ sagte sie. „Gestehen Sie nur gleich, daß Sie Ihr Spiel mit uns treiben, und wir wollen Ihnen die Sünde verzeihen unter der Bedingung, daß Sie uns für Ihre lange Verschwiegenheit gebührend entschädigen. Machen Sie uns also zuerst eine bezaubernde Schilderung von Ihrer ersten Begegnung mit Ihrer lieben Frau, dann von dem Hangen und Bangen, das dieser Begegnung folgte, bis zur endlichen beseligenden Gewißheit, oder wir üben Rache, und die Folgen schreiben Sie dann sich selber zu!“

„Sie verlangen mehr, als ich zu leisten vermag,“ versetzte er nach einer kurzen Pause. „In der That, ich weiß nichts von meiner Frau. So unglaublich es klingt, ich habe ihr Gesicht kaum gesehen; ich kenne nicht einmal ihren Namen. Unsere erste Begegnung war ganz anderer Art, als Sie sich dieselbe vorstellen, [796] und das Hangen und Bangen dabei war nichts, als die feige Furcht vor einem drohenden gewaltsamen Tode. Seitdem ist sie mir gänzlich entschwunden. Lebt sie? Ist sie gestorben? Ich weiß es nicht. Das Letztere ist jedoch das Wahrscheinlichere. Nur Eines weiß ich sicher: daß ich leider mit ihr verheirathet bin – das ist aber auch Alles.“

Die hübsche Wittwe hatte, während er sprach, lächelnd den Kopf erhoben; nun strich sie die rebellischen Locken zurück und betrachtete den gelehrten Gast mit einem so heiteren, schelmischen Blick, daß der Professor förmlich zusammenfuhr. Die Baronin spielte indessen gedankenvoll mit ihrem Theelöffel.

„Ich will – ich muß offen sein,“ stieß der Arme endlich heraus. „Sie sollen Alles wissen.“ Und gesenkten Hauptes, als habe er nicht den Muth, die Wirkung seiner Worte zu beobachten, gab er eine wahrheitsgetreue Schilderung seines Abenteuers, in der, wo immer er von der Verschwundenen sprach, seltsamer Weise verrätherisch warme Töne klangen, je weiter zum Schluß hin, desto deutlicher.

Endlich war er am Ende seiner Erzählung, und als er mit fast schüchternem Aufblicke sein Urtheil in den beiden Frauengesichtern lesen wollte, erstarrte er förmlich: der Eindruck, welchen die Erzählung hervorgerufen, entsprach nach keiner Seite seinen Erwartungen. Die satirische Laune der lachlustigen Baronin sprach trotz der traurigen Beichte in Blitzen aus ihren Augen, und auch die reizende Wittwe schien den schweren Schlag mit vieler Fassung zu ertragen, wenngleich ihr Antlitz sich tiefroth gefärbt hatte – der Blick des Professors ruhte auch gar zu forschend auf ihr!

Dieser hätte nun durch die glückliche Gleichgültigkeit sich ungemein erfreut fühlen sollen, allein er empfand etwas ganz Anderes. Enttäuschung, Demüthigung, Zorn gegen sich und gegen sie, die schöne Verrätherin, und mehr noch, ein unaussprechlicher brennender Schmerz wogten wild in seiner Brust, und es war ihm, als müsse er nun aufstehen und gehen – fort von ihr, nur rasch, nur so bald wie möglich.

„Und Sie haben nie wieder etwas von Ihrer armen Frau gehört?“ brachte endlich die Baronin hervor, nachdem sie ein paar Augenblicke das Taschentuch vor ihren Mund gehalten. „Sie haben nie weiter versucht, etwas von ihr zu erfahren?“

„Was sollte ich thun? Ein paar Mal ließ ich Aufrufe in ausländischen Blättern veröffentlichen, allerdings in einer Form, die nur ihr verständlich sein konnte – doch es war ohne Erfolg.“

„O diese Männer!“ rief die Baronin in scherzhafter Entrüstung, „da lassen Sie ein armes Kind, das nichts vom Leben weiß, sich allein in die weite Welt verlieren und meinen, es sei genug gethan mit ein paar Aufrufen in den Zeitungen, als handle es sich um ein verlorenes Portemonnaie – ist das auch recht?“

„Sie vergessen, daß sie mich freiwillig verlassen hat,“ versetzte Walter etwas ärgerlich; „hätte sie es nicht gethan, so würde ich ganz gewiß mich wie ein Bruder ihrer angenommen haben. Sie hat es jedoch vorgezogen, sich ihren Weg allein zu suchen; sie mag dazu ihre Gründe gehabt haben – es thut mir leid – damit endet aber auch meine Pflicht.“

„Aber sie ist nun einmal Ihre Frau!“ warf die Baronin ein.

„Dagegen muß ich entschieden protestiren. Wenn ein paar Worte, unter dem Dolch des Mörders abgerungen, genügen könnten, mich für mein ganzes Leben an ein Wesen zu binden, das ich nicht kenne, das mir vollkommen gleichgültig ist und das, wenn ich es kennen würde, vielleicht weder Theilnahme noch Achtung verdient, dann wäre der Tod, dem ich durch jene haltlose Ceremonie entgangen bin, unter gewissen Umständen einem so traurigen Schicksal bei weitem vorzuziehen.“

„Aber hat Ihnen denn die Unglückliche Veranlassung zu einem so strengen Urtheil gegeben?“ fragte die Baronin.

„Durchaus nicht. Ich sagte Ihnen ja, gnädige Frau, daß ich sie nicht kenne; ich kann also kein Urtheil über sie haben. Ja, das Wenige, was ich von ihr weiß, hatte mich eher günstig für sie gestimmt. Ich stand freilich unter dem Eindruck des Mitleids. Wäre sie nur geblieben, so hätte sich wohl Alles durch eine rasche gesetzliche Scheidung noch zum Guten lenken lassen. Für sie wäre allerdings der Vortheil nur gering gewesen, denn die Aermste war schwer krank und wird, aller Wahrscheinlichkeit nach, längst gestorben sein.“

„Und wenn sie nicht gestorben wäre, wenn sie jetzt in dies Zimmer träte, gesund und blühend und mit allen Gaben geschmückt, die einen Mann bezaubern und beglücken können, würde da Ihr Herz nicht plötzlich für sie aufflammen, würden Sie nicht aufspringen, ihr die Arme öffnen und die Wiedergefundene mit Jubel als Ihre Frau anerkennen?“

„Nein, Frau Baronin!“ rief Walter beinahe heftig, denn diese Beharrlichkeit der Baronin, die seine Gefühle doch längst durchschaut haben mußte, zu Gunsten einer lästigen Unbekannten zu sprechen und noch dazu in Gegenwart der Geliebten, verdroß ihn über alle Maßen. „Nein! Ich würde mich freuen, daß es ihr wohl geht; ich würde, wenn es in meiner Macht stände, herzlich gern zu ihrem Glück an der Seite eines Andern beitragen, aber ein Mädchen als mein Weib anerkennen, das Monate lang in der Gewalt eines Menschen wie dieser Melazzo gewesen ist – niemals! Und ich glaube nicht, daß irgend ein Mann es thäte, dem seine Ehre heilig ist.“

Hier fühlte er den Tisch wie von einem elektrischen Schlage erschüttert. Die junge Wittwe, welche während der letzten Reden, die Stirn in der Hand gestützt, gedankenvoll gesessen, hatte sich rasch erhoben und verließ das Zimmer, ohne ein Wort zu sprechen, oder sich nur nach den Zurückbleibenden umzusehen.

Die Baronin sah ihr erschrocken nach, stand dann ebenfalls auf und mit einer flüchtigen Entschuldigung gegen ihren Gast folgte sie ihrer Schwester.

Auch Walter war in die Höhe gefahren und stand wie vom Donner gerührt. Hatte er sich denn geirrt? War die Ruhe, die ihn so schmerzlich verletzt, nur Verstellung gewesen, und hatte das Gefühl jetzt plötzlich die Oberhand gewonnen und zwar mit solcher Gewalt?

Die Baronin kehrte bald zurück.

„Verzeihen Sie, daß ich Sie nicht länger zurückhalte!“ sagte sie; „meiner Schwester ist plötzlich sehr unwohl geworden.“

„Großer Gott!“ stammelte Walter.

Alles Blut war nach seinem Herzen zurückgewichen.

„Aber ist es denn möglich?“ rief er. „Kann ich glauben, daß ich –“

„Verzeihen Sie! Ich muß zu ihr,“ unterbrach ihn die Baronin, und sie war schon an der Thür.

Walter nahm seinen Hut; er wollte fort und konnte nicht. Er wartete; er zögerte er horchte. Der Diener kam herein, um das Theegeschirr abzuräumen; der Professor zögerte noch immer. Der Mann kam und ging ein paar Mal und sah den hartnäckig weilenden Besucher verwundert an. Walter fühlte, daß er nicht länger bleiben durfte, und so, noch immer zögernd und auf der Schwelle noch sich umdrehend, entfernte er sich.

In seinem Zimmer wandelte er rastlos hin und her. An Schlaf war nicht zu denken. Alle Qualen, die er in den letzten Tagen und Nächten durchgemacht, kehrten in diesen Stunden mit verzehnfachter Kraft zurück. Er verwünschte seine unselige Heirat, die Feigheit, die ihm den Tod als das schrecklichste Uebel vorgespiegelt – er verwünschte sogar seine Wissenschaft oder vielmehr den Eifer, der ihn, um ihr besser zu dienen, in die Ferne getrieben. Warum war er nicht als prakticirender Arzt daheim bei den mütterlichen Fleischtöpfen geblieben? Er vergaß, daß er dann wahrscheinlich dem Drängen seiner Mutter nachgegeben und das blonde Bäschen heimgeführt hätte. Ach, er dachte so wenig an das blonde Bäschen wie an irgend eine der zahlreichen Blonden und Braunen, mit deren Anpreisung die unermüdlichen Ehevermittler ihn in die Flucht geschlagen – er dachte, fühlte, sann und begehrte nur die Eine, nur Lucia.

Und zwischen all diesem Elende zitterte doch manchmal mit unsagbarer Wonne die Ueberzeugung durch sein Herz, daß er geliebt werde, daß es diesmal keine Täuschung, sondern entzückende Wirklichkeit sei.

Noch nie war ihm eine Nacht so lang erschienen. Tausendmal fühlte er sich versucht, trotz Dunkel und Stille, zu der Baronin zu eilen, und sobald im Hôtel das Leben sich zu regen begann, ließ er sich nach Lucia’s Befinden erkundigen. Die Damen, hieß es, seien noch nicht sichtbar, und Walter mußte sich gedulden. Er benutzte die Zeit, um so viel wie möglich die Spuren seiner qualerfüllten Nacht an seinem Aussehen zu verwischen. Er kleidete sich um, nahm ein Bad, frühstückte, oder versuchte es vielmehr, und da weder die Baronin noch ihre Schwester sich auf der Morgenpromenade sehen ließen, ging er, sobald es die Stunde erlaubte, zu ihnen hinüber. [798] Allein die Baronin ließ sich entschuldigen: es sei ihr unmöglich, die leidende Schwester zu verlassen.

Da war leider nichts zu thun – er mußte warten. Auch am Nachmittag ließ er sich melden, erhielt jedoch denselben Bescheid. Koffer, Schachteln, Reisetaschen lagen und standen umher; die Zofe war eifrig mit Packen beschäftigt. Alles deutete auf eine schnelle Abreise. Auf seine Frage erfuhr Walter, daß die Baronin bereits in der Nacht ein Telegramm an ihren Gatten geschickt, um seine Ankunft zu beschleunigen.

Das war also die Antwort auf seine Enthüllung! Lucia betrachtete ihn als einen verheiratheten Mann und dachte nur noch daran, ihn zu fliehen.

Nein, so durfte es nicht enden! Sie mußte erfahren, daß er sie liebe, daß es außer ihr kein anderes Glück für ihn gab – er war sich plötzlich nicht so sicher wie früher, ob nicht eine Möglichkeit existirte, die ihn zum freien Manne machte, und Lucia durfte für ihn nicht verloren gehen, bevor er nicht ganz bestimmt wußte, daß seine Fesseln unlöslich waren.

Er kehrte in sein Zimmer zurück und schrieb an die Baronin. Seine ganze Seele strömte auf das Papier, seine Liebe, seine Kämpfe, die trostlose Vereinsamung seiner Zukunft, wenn er Lucia nicht erringen könne, und er bat zuletzt flehentlich, ihm eine Unterredung zu gewähren.

Beinahe umgehend kam die Antwort: die Baronin erwarte ihn. Mit laut pochendem Herzen und fast schwindelnd vor Aufregung legte er die wenigen Schritte bis zu ihren Zimmern zurück; er mußte sich an einer Stuhllehne halten, während die Zofe ihn zu melden ging.

Es dauerte eine kleine Weile – dann kam die Baronin. Die sonst so heitere Dame sah heute auffallend angegriffen und befangen aus.

„Und – und Lucia – Ihre Frau Schwester –?“ stammelte Walter.

Die Baronin lächelte schwach.

„Es geht besser,“ sagte sie; „hoffentlich wird es nichts von Bedeutung sein.“

Sie schwieg und schien mit sich zu kämpfen.

„Ihre Offenheit zwingt uns zu gleicher Offenheit,“ fuhr sie endlich fort. „Längeres Schweigen wäre ein Unrecht gegen Sie, und Lucia selbst dringt darauf, daß Sie die ganze Wahrheit über sie erfahren. Sie werden nicht vergessen, daß es ein Geheimniß ist, und zwar eines, welches unsere ganze Familie auf das Schmerzlichste berührt – das wir Ihrer Ehrenhaftigkeit anvertrauen.“

Hier machte sie in sichtlicher Verlegenheit eine neue Pause.

„Meine Schwester ist nicht Wittwe,“ sagte sie dann. „Ihr Mann lebt, aber leider lebt er von ihr getrennt.“

Walter erblaßte. Auf eine solche Eröffnung war er allerdings nicht vorbereitet.

„Zur Zeit ihrer Vermählung,“ fuhr die Baronin mit gesenkter Stimme fort, „befand sich meine Schwester mit ihrem Vater in Italien. Sie wissen, wie es vor einigen Jahren dort zuging. Die Trauung fand auf dem Lande statt, aber kaum war die Ceremonie vorüber, als die Kirche von einer Brigantenbande überfallen wurde; mein Stiefvater wurde im Gewühl niedergestochen und Lucia geraubt und in das Gebirge geschleppt; den Bräutigam ließ man ziehen, um für sich und seine Braut das Lösegeld zu beschaffen. Unglücklicher Weise war es uns nicht möglich, die sehr bedeutende Summe sogleich zusammen zu bringen, und als Lucia nach einigen Tagen ihrem Gatten zurückgegeben wurde, weigerte er sich sie aufzunehmen.“

Die Baronin drückte das Gesicht in die Hände, und brach in heftiges Schluchzen aus.

„Schändlich!“ murmelte der Professor. Sie schüttelte nur in stummer Verneinung den Kopf.

„Er handelte nach Grundsätzen; er glaubte, seine Ehre fordere das Opfer von ihm,“ versetzte sie traurig.

„Seine Ehre! Dieser Wicht, der einen solchen Engel so unerhört beschimpfen konnte!“

„Sie vergessen, daß Sie gestern ein ganz ähnliches Urtheil über das Ihnen angetraute Mädchen fällten.“

„Das war ein ganz anderer Fall! Bedenken Sie, welch ein roher gewissenloser Mensch dieser Melazzo war, und übrigens schleppte er jene Unglückliche bereits seit Monaten mit sich herum.“

„Dann war die Arme um so bedauernswerther, sonst ist es wohl ziemlich gleich, ob der Jammer acht Wochen oder nur acht Tage gedauert hat. Was aber die Gewissenlosigkeit betrifft, so dürfte Signor Geronimo, oder wie er sich sonst nennen mochte, jenem Melazzo schwerlich viel nachstehen, und der rohen Gewalt gegenüber sind wir Frauen am Ende Alle wehrlos.“

„Aber Lucia nicht! Wer nur einen Blick in ihre reinen Augen geworfen hat, der weiß, daß sie tausendmal den Tod einer gemeinen Erniedrigung vorziehen würde. Schreckte doch selbst die Gefangene Melazzo’s ihren Peiniger durch die Drohung, sich zu ermorden, siegreich von sich, und der Elende schwur mir, daß sie im Stande sei, es zu thun, wie vielmehr also Lucia!“

„Sie brauchen meine Schwester nicht bei mir zu vertheidigen,“ erwiderte die Baronin mit einem Anflug von Stolz. „Ich kenne Lucia; ich weiß, daß, wenn für sie eine beschämende Erinnerung sich mit jenem traurigen Ereigniß verbände, wir sie niemals wieder gesehen hätten, aber nicht Alle denken so –“

„Weil sie die Macht weiblicher Sittlichkeit nicht verstehen –“

„Und doch verdammten Sie jenes unglückliche Mädchen so schrankenlos,“ entgegnete die Baronin nicht ohne Bitterkeit.

„Weil ich blind, weil ich ungerecht war. Aber was kümmert uns jetzt dieses Mädchen, jetzt, wo –“

„Sehr viel. Denn eben jene schrankenlose Verurtheilung ist es, die meine arme Schwester so furchtbar erschüttert hat. Sie sah in jenem Mädchen, dessen Schicksal mit dem ihrigen eine so seltsame Aehnlichkeit hat, ihr eigenes Spiegelbild; sie sah, daß sogar von den Besten, zu welchen Lucia Sie unbedingt zählt, ihr Unglück ihr als eine Schuld angerechnet werden wird, und daß sie dadurch für immer aus dem Kreise menschlicher Theilnahme und Freuden ausgeschlossen sein wird –“

„Aber ich log ja – ich log,“ rief Walter ganz außer sich. „Was soll ich mehr sagen? Dachte ich denn überhaupt an jenes Mädchen? Es war der Zorn, der aus mir sprach. Man sagt, daß die Männer nicht eitel sind – glauben Sie es nicht, Baronin! In Jedem von uns steckt ein Stückchen dieses Erbübels, das so alt ist, wie das Menschengeschlecht. Ich war verbittert, verletzt – was weiß ich? – durch den lächelnden Gleichmuth, mit welchem Ihre Frau Schwester ein Geständniß anhörte, bei welchem mir das Herz im Stillen blutete. Nein, jenes Mädchen hat in keiner Weise eine harte Beurtheilung verdient – sie hat im Gegentheil in ihrer schwierigen Lage und bei ihrer großen Jugend eine zarte, scheue Weiblichkeit und zugleich eine Entschlossenheit bewiesen, die man von einem solchen Kinde kaum erwarten konnte. Jeder, der sie gesehen, war von ihr eingenommen; sie hatte es selbst den Rohesten wie mit einem Zauber angethan, und sogar ich, der ich sie weder gesprochen oder auch nur gesehen – nein, Frau Baronin, ich war weder gleichgültig noch theilnahmlos für sie. Liebe hatte sie mir allerdings nicht eingeflößt – Liebe kenne ich nur, seitdem ich Ihre Schwester gesehen, aber eine Art brüderlicher Zärtlichkeit lag doch in dem, was ich für das furchtsame kleine Ding empfand. Die Zukunft an ihrer Seite flößte mir kein Entsetzen mehr ein, ja, ich begann sogar zu hoffen, daß sie sich trotz Allem vielleicht für uns Beide noch freundlich gestalten könnte. Ich litt unter ihrer Flucht, unter der Vorstellung, daß sie ohne Freunde, vielleicht von dem Nöthigsten entblößt, ihr junges Leben verschollen in der Fremde enden müßte – ich hätte jedes Opfer gebracht, um wenigstens ihr Loos aus der Ferne erleichtern zu dürfen, und –“

Er schwieg. Die fast vergessene Empfindung war plötzlich so lebendig und scharf zurückgekehrt wie in jener ersten Stunde, wo die Entflohene ihm gleichsam vor den Augen verschwunden war.

„Von dem Allem sagten Sie uns gestern kein Wort,“ bemerkte die Baronin, die ihn aufmerksam beobachtete.

„Weil ich nicht daran dachte, weil ich ganz und gar nur unter dem Druck meiner peinlichen, unerträglichen Verhältnisse stand, die mich momentan auch gegen die unschuldige Ursache derselben reizten. War es denn überhaupt an der Zeit, während all’ mein Denken und Fühlen auf Ihre Schwester gerichtet war, ihr von meiner Empfindung für eine Andere zu sprechen, wenn auch diese Empfindung weiter nichts als ein starkes Mitleid war? Aber wie oft – glauben Sie es mir! – habe ich in den letzten Jahren an die arme Verlorene gedacht! Wie oft den leichten Druck ihrer kleinen Hand, als ich sie in den Wagen hob, im Traume nachgefühlt und auf der Straße nach einer Gestalt gespäht, die in der Bewegung, im Gang, in der netten Zierlichkeit der Füßchen ihr irgend ähnlich wäre! Ja, sogar Ihre Schwester, so unsinnig es klingt, erinnerte mich an [799] sie. Der Ton ihrer Stimme, die Farbe ihres Haares führten mir immer wieder jenes arme Kind zurück; in meiner Phantasie – lachen Sie nicht, Baronin! – nahm sie gegen meinen Willen, gegen alles Einreden meiner Vernunft, immer und immer Lucia’s Züge an; die beiden Gestalten verschwammen förmlich in einander und – wenn ich die ganze Wahrheit sagen soll – indem ich Ihre Schwester liebte, habe ich jenes Schattenbild der Entschwundenen mit in ihr geliebt –“

Er senkte den Kopf immer tiefer, während er sprach, und seine Stimme klang traurig und hatte eine ergreifende Innigkeit. Die Baronin stand mit der Hand vor dem Gesicht, als wolle sie ihre Augen vor dem zu grellen Strahl der Lampe schützen, wer aber hinter diese Hand hätte blicken können, der hätte zu seinem Erstaunen gesehen, daß die Dame lächelte.

Der Professor erhob den Kopf.

„Und nun,“ fuhr er ruhiger fort, „nun ich Ihnen so vollständig gebeichtet und nicht einmal meine eigenen Schwächen geschont habe, zeigen auch Sie Ihre gewohnte Güte, verehrte Frau, verzeihen Sie dem Sünder und sprechen Sie für mich bei dem Engel, den ich, ohne es zu wollen, beleidigte!“

„Das will ich gern thun,“ erwiderte die Baronin mild, „und ich bin überzeugt, daß Lucia Ihnen von Herzen verzeihen wird. Eigentlich gezürnt hat sie Ihnen ja nicht; nur ihrem eigenen unglücklichen Schicksal galten ihre Thränen. Sie kann unmöglich nachtragen, was ohne jede böse Absicht gesprochen war.“

„Und das ist Alles?“ rief Walter enttäuscht.

„Was wollen Sie noch? Sie sind gebunden; meine Schwester ist es; was läßt sich da weiter sagen?“

„Aber Sie sagten doch ein Mal – ich glaubte wenigstens zu verstehen, daß Sie eine neue Verbindung –“

„Allerdings, und das war auch meine Meinung. So wie die Sachen aber jetzt stehen, muß ich bezweifeln, daß Lucia jemals in eine Scheidung willigen würde.“

„Aber, großer Gott! Ist es denn möglich, daß sie jenen Menschen noch lieben kann?“

„Lieben?! Liebe ist ein sehr weiter Begriff, mein Freund. Die Hauptsache ist, daß sie furchtbar – über jede Beschreibung hinaus gelitten hat. Ich hielt sie für geheilt – ich freute mich darüber, allein an ihrem erschütternden Schmerz gestern Abend, an ihrer maßlosen Verzweiflung habe ich wohl erkennen müssen, daß die Wunde nur übernarbt gewesen; und ich weiß nicht, ob sie sich jemals hinreichend schließen wird, um in meiner unglücklichen Schwester auch nur den Glauben an die Möglichkeit eines neuen Glückes wieder zu erwecken.“

„O, wenn sie mich liebte!“ rief Walter glühend. „Wenn ich sie nur sprechen dürfte! Nur dieses eine Glück verschaffen Sie mir, Baronin; daß sie mich anhöre! Ihnen gegenüber sind meine Worte schwach gewesen; zu Lucia gesprochen, werden sie mächtiger sein. Geben Sie mir die Möglichkeit, sie dem Leben, der Freude, dem Glück, dem ihrigen und dem meinigen, wieder zu gewinnen, und wenn es nicht sein soll, lassen Sie mir in meiner Verzweiflung nicht auch noch den Stachel in der Seele, daß ich es nicht wenigstens versucht.“

Ein Geräusch ließ sich im Nebenzimmer vernehmen.

„Ich werde thun, was ich kann – warten Sie hier!“ sagte die Baronin und entfernte sich rasch.

Walter zählte die Secunden ihrer Abwesenheit nach seinen Empfindungen, und jede derselben dünkte ihm eine schmerzende Ewigkeit. Endlich kam die Baronin zurück. Sie war sehr erregt und hatte Thränen in den Augen.

„Lucia willigt ein, Sie zu sehen,“ sagte sie, „doch nur in meiner Gegenwart.“

„In Gegenwart der ganzen Welt, wenn sie es verlangt!“ erwiderte Walter lebhaft, und gleich darauf führte die Baronin ihre Schwester herein.

[824] War das wirklich die gestern noch so blühend rosige junge Frau? Wie bleich, wie zaghaft, wie verweint sah sie aus! Was mußte sie in diesen wenigen Stunden durchlitten haben! Walter vermochte kein Wort hervorzubringen. Er, der so sehr geprahlt, welche siegende Beredsamkeit er vor der Geliebten entfalten würde, fand, nun er sie vor sich sah, auch nicht den armseligsten Ausdruck für das, was er empfand. Stumm ging er ihr entgegen, nahm ihre beiden Hände in die seinigen und sank schweigend auf die Kniee. Mit einem traurigen, aber unendlich sanften Lächeln sah sie einen Augenblick auf ihn nieder.

„Stehen Sie auf, mein Freund!“ sagte sie dann mit ihrer weichen Stimme, in welcher der verhaltene Schmerz leise zitterte. „Stehen Sie auf! Eine solche Stellung ziemt sich nicht für Sie.“ Und während Walter sich nun erhob, fuhr sie erröthend fort: „Ich habe Ihr Gespräch mit meiner Schwester gehört, verzeihen Sie mir diese Indiscretion –“

Walter wollte sie freudig unterbrechen, doch sie ließ es nicht zu. [826] Und dem Befehle gehorchend, mechanisch, Silbe für Silbe, las Walter erst seinen Namen und dann langsam, als traue er noch immer seinen Augen nicht, „Lucia de Saintpré“.

„Lucia! – Sie!“ stammelte er und das Blatt entsank seiner Hand. Was er bei der unerwarteten Entdeckung empfand, konnte nicht mehr Seligkeit heißen; es war zu jäh, zu erdrückend; es steigerte sich zum seelischen und physischen Schmerz, und er war nahe daran, wie vernichtet auf einen Stuhl zu sinken. Allein bei dem Anblick seiner jungen Frau, die sich zitternd und todtenblaß an ihre Schwester klammerte, besann er sich rasch eines Besseren; er trat vor, öffnete die Arme und die längst Anvermählte, Verlorene und so unerwartet Wiedergefundene lag weinend an seiner Brust.

„Und werden Sie es nie bereuen?“ flüsterte sie, als sie endlich Worte fand und noch unter Thränen zu ihm aufblickte.

Er antwortete nicht, wenigstens nicht mit Worten. Er küßte die blassen bebenden Lippen, die unter der Berührung wieder Leben und Wärme bekamen, und nun erst löste sich allmählich der Krampf der Freude in seiner Brust zu einer Empfindung reinen, höchsten Glückes auf.

„Und ich werde den Priester vorstellen,“ sagte die Baronin halb scherzend und halb gerührt, indem sie die Hände des endlich vereinigten Paares in einander legte, „ich weihe Euch hiermit zu einem langen Leben voll Liebe, Frieden und Einigkeit.“

„Und von ganzem Herzen gebe ich meinen Segen dazu!“ sagte eine Stimme von der Thür her.

Alle wendeten sich erschrocken dahin; es war der Baron, welcher, nachdem er die laute jubelnde Freude seiner Frau entgegen genommen, auf den neuen Schwager zueilte und ihm warm die Hand schüttelte.

„Sie glauben nicht, wie herzlich es mich freut, daß diese vertrackte Geschichte noch ein so gutes Ende genommen hat!“ sagte er. „Begreiflicher Weise schien es uns zunächst mehr als zweifelhaft, daß die Wahl jenes ehrenwerthen schwarzen Vetters gerade auf den einzigen anständigen Menschen gefallen sein sollte, welcher sich zufällig damals in den amerikanischen Urwäldern herumtrieb. Darüber waren wir freilich bald beruhigt; ich habe gründlich Nachrichten über Sie eingeholt, war sogar ein paar Mal persönlich in Ihrer Universitätsstadt – und was ich mitbrachte, gereichte meiner kleinen Schwägerin zur großen Genugthuung,“ setzte er mit einem neckischen Seitenblick auf die Erröthende hinzu, „der man nie genug von ihrem Mann erzählen konnte, wie gleichgültig sie sich auch zu stellen suchte. Und trotzdem – welche Sorge hat sie uns noch gemacht im Hinblick auf eine volle Ausgleichung der Verwirrung! Kaum daß wir sie bewegen konnten, mit hierher zu gehen, nachdem wir erfahren hatten, daß Sie gleichfalls das Bad zur Cur aufsuchen würden – denn irgendwo auf neutralem Boden mußten wir die feindlichen Kräfte doch zusammenbringen!“

„Aber wie in aller Welt haben Sie ausgekundschaftet, wer der verlassene Gatte war?“ fragte der Professor.

„Sie vergessen, daß wir den Contract mit Ihrer Namensunterschrift in Händen hatten. Und was da noch an offenen Fragen übrig blieb, beantworteten unsere Nachforschungen in England. Ja, ja – Sie wollten Lucia’s Spur finden, indeß ich in deren Interesse auf der Ihrigen war.“

„Sie waren damals in England?“

„Lucia hatte uns noch am Abend ihrer Landung telegraphisch über Ankunft und Ursache ihrer Reise benachrichtigt, allerdings ohne ihrer Verheirathung zu gedenken. Sie können sich unseren Schrecken bei Empfang des Telegramms vorstellen. Natürlich reisten wir sofort nach London ab. Dann kam der zweite Schrecken, als das arme erschöpfte Kind ihrer Schwester wie todt in die Arme sank, und dann ein dritter, als wir erfuhren, daß und unter welchen Umständen sie die Frau eines fremden Mannes geworden. Wir hatten ein förmliches Ballspielen von einer unangenehmen Empfindung zur anderen auszuhalten. Uebrigens logirten wir bei Verwandten, welche unserer dortigen Gesandtschaft zugehören; das hat die Damen, während ich Ihnen nachforschte, vor der von Ihnen in Anspruch genommenen Polizei gesichert.“

„Der Schiffsarzt hat telegraphirt, daß Du es nur weißt,“ fügte Lucia lächelnd hinzu. „Ich hatte ihn zuletzt in mein Vertrauen gezogen, und er war es auch, der mich zu meiner Schwester brachte.“

„Ei der Tausend!“ rief Walter in komischem Zorn, „ich hätte dem dicken Kerl die Perfidie gar nicht zugetraut. Vier Jahre Glück aus einem kurzen Menschenleben gestohlen – ich weiß nicht, ob ich es ihm jemals verzeihen kann.“

„Er hielt eine zeitweilige Trennung für durchaus geboten,“ entschuldigte der Baron. „Daß vier Jahre daraus geworden sind – nun daran trägt, wie gesagt, meine liebe Schwägerin die Schuld. Das unvernünftige Mädchen war die Zeit her nicht zu bewegen, auch nur den kleinsten Schritt zu einer Annäherung zu thun, und von der Auflösung ihrer Ehe wollte sie auch wieder nichts hören. Ihr Herzchen war eben doch von Anfang an gefangen,“ schloß er mit einem lächelnden Blick auf seine erröthende Schwägerin.

„Und ist es mir denn anders gegangen?“ sagte Walter, indem er mit einer ihrer langen dunklen Locken spielte.

„Ja,“ erwiderte Lucia, und ihr Gesicht glühte in holder Verschämtheit auf, „dieses törichte Herz hat für Dich gesprochen – früher, als Du glaubst, Geliebter – schon eine geraume Zeit, bevor Melazzo seinem Schicksal nachhalf.“

„Aber wie ist das möglich?“ fragte Walter erstaunt. „Hast Du mich denn vor der Trauung überhaupt gesehen?“

Ein Schatten flog über ihre Augen. „Da muß ich Dir wohl mein ganzes Schicksal erzählen, ehe ich eine Dir verständliche Antwort geben kann.“

„Nicht doch – ich weiß mehr davon, als Du glaubst – und zwar aus authentischster Quelle, nämlich von Melazzo selber.“

„Ach!“ sagte sie. „Nun, es war kurz nachher, als der Schreckliche mich zur Gattin verlangte und mir in meiner Hülflosigkeit und Verzweiflung nichts übrig blieb, als der feste Entschluß, in dem Augenblick, da ich keine Rettung vor diesem Schicksal sehen würde, mein Leben zu endigen. Ich sprach das aus, und ich muß es wohl in einer Weise gethan haben, daß es Eindruck machte und daß er seine Absicht aufgab. Wenigstens ließ er mich in Ruhe. Bald danach hieltest Du Dich einige Tage an dem Orte auf, wo wir uns eben befanden. Du streiftest öfter um unsere Hütte herum, und hinter dem Gitter unserer Fenster konnten wir Dich ganz gut beobachten, Du aber warst immer in Deine Gedanken vertieft und sahest gar nicht nach uns hin. Wir hörten auch durch unsere Wächter Manches von Dir. Einen derselben hattest Du vor längerer Zeit einmal verbunden, als Du ihn zufällig mit schwer verletztem Beine im Walde gefunden. Aber auch der Neger, der bei Dir war, hatte unseren Leuten gerühmt, wie gut Du seiest und wie bereit, Jedem zu helfen, so gar nicht, wie die Weißen in der Gegend. Einst hattest Du Dich nicht sehr weit von uns niedergesetzt, um Deine Pflanzen zu ordnen. Wir konnten deutlich erkennen, wie müde und erschöpft Du warest, und doch zeigtest Du Dich so ruhig, fleißig und gewissenhaft aufmerksam bei Deiner stillen Beschäftigung, als hättest Du vorher nicht die geringste Beschwerde gehabt. Es war mir ein förmliches Labsal, auf Dich zu blicken und zu denken, welch ein Segen solch ein friedlicher Beruf sein müsse, der Niemandem schade, sondern Gutes schaffe rund umher und der selbst in einer so wilden Einsamkeit solchen Genuß gewähre. Ich faßte auch gleich ein rechtes Vertrauen zu Dir und war überzeugt, stände es irgend in Deiner Macht, so würdest Du uns helfen.

Dann waren ein paar Wochen vergangen – da kam Melazzo eines Tages wieder zu uns. Er wolle mich los sein, sagte er; ich sei für ihn eine Last und eine beständige Gefahr. Nun treibe sich gerade ein deutscher Doctor in den Wäldern herum; er werde ihn leicht in seine Gewalt bringen, werde mich mit ihm verheirathen und uns zusammen nach Europa schicken. Ich drückte die Hände vor das Gesicht und wandte mich ab, indem ich meinem Peiniger erklärte, daß mir Alles recht sei, wenn ich nur für immer von ihm befreit würde.

Aber als er dann fort war, wollte ich schier verzweifeln. So kindisch ich auch war, ich hatte doch schon im Kloster gelernt, daß die Ehe heilig sei, und mir bangte entsetzlich davor. Doch Annita bestürmte mich fort und fort, und ich war auch so krank. Ich dachte, ich würde gewiß bald sterben und dann sei Alles vorbei – und nur ein Grab in Europa zu haben, schien mir schon eine unaussprechliche Wohlthat.

Bei der Trauung war ich mehr todt als lebendig. Ich war überzeugt, Du könntest mir den Zwang, den man Dir anthat, niemals verzeihen und müßtest mich ewig hassen. Auf dem Schiffe wagte ich nicht, Dir unter die Augen zu treten, und je mehr Güte Du mir erwiesest, um so mehr schämte ich mich. Da [827] faßte ich endlich den Entschluß, Dich um jeden Preis von einer so widerwärtigen Last zu befreien. Und nun – nun mußt Du doch sehen, wie Du mit der Last auskommst, Du Lieber!“

„Mein Weib, mein süßes Weib!“ sagte der Glückliche, indem er sie umschlang und an sich zog, daß ihr Köpfchen an seiner Brust ruhte.

„Und wie steht’s mit Annita? Lebt sie noch?“ fragte er nach einer Pause.

„O, die wartet bei mir daheim auf die glückliche Lösung, an der sie doch zweifelt,“ sagte lachend der Baron. „Meint sie doch, auf Erden sei kein Mann gut genug für ihre Lucia. Ich warne Sie, Professor. Sie bekommen da eine Schwiegermutter in’s Haus, die nicht mit sich spaßen läßt.“

„Nein, Annita ist immer gut,“ vertheidigte Lucia sanft.

„Ja, vorausgesetzt, daß man Dir immer den Willen thut,“ lachte die Baronin. – –

Schon in der nächsten Nacht schrieb Walter seiner Mutter einen entzückten Brief und bat sie seine Wohnung für den Empfang einer jungen, feingewöhnten Frau in passenden Stand zu setzen.

„Dein Wunsch ist prophetisch gewesen,“ schloß er nach den nöthigsten Eröffnungen, „das Meer hat mir in der That eine Gattin gebracht, wie selbst Du, theuerste Mutter, sie dem geliebten Sohn nicht holdseliger und liebender wünschen kannst.“

Am nächsten Tage trennten sich die Ehepaare. Der Baron reiste mit seiner Gemahlin auf seine Güter, und Walter kehrte nach einer langen Hochzeitsreise mit seiner jungen Frau in die Heimath zurück. Dort hatte Walter’s Brief an die Mutter wie eine Bombe eingeschlagen. Die gute Frau las aus jeder Zeile seines Briefes, daß er glücklich war, und ihr mütterliches Herz strömte über von Dank und Freude.

Anders verhielt es sich freilich mit den Ehevermittlern und jenen hartnäckigen Ehecandidatinnen in ihrer Umgebung, welche die Hoffnung noch nicht aufgegeben hatten. Da rümpfte man gewaltig die Nasen, und die Gesichter wurden merklich länger.

„Also schon längst verheirathet? Nun, das hätte er früher sagen können. Freilich, was mußte das für eine Frau sein, die er so lange hatte verheimlichen müssen! Das hatte gewiß seine besonderen Gründe. Wie konnte es auch anders sein – eine Creolin! Und er hätte es so gut haben können. Der arme, verblendete, unglückliche Mann!“

Als jedoch das junge Paar Besitz von der festlich geschmückten Wohnung genommen, als die anmuthige Professorin ihre ersten Besuche gemacht, als sie ihrerseits anfing Besuche zu empfangen, da war es merkwürdig, auf welch unbedeutendes Maß die Befürchtungen für das Glück des verehrten Mannes plötzlich herabgesunken waren. Die junge Frau war so bescheiden und anspruchslos trotz ihrer überseeischen Abstammung, ihrem Reichthum und ihrer hochvornehmen Geburt und Erziehung. Sie kam mit so freundlicher Güte jeder kleinen Verlegenheit entgegen, sie wußte so vortrefflich Rath in der heiklen Frage der Toilette, sie veranstaltete so gemüthlich-reizende Soiréen, sie gab vor Allem so vortreffliche Diners!

Fast zugleich mit ihrer Herrin war auch die Mulattin Annita in dem Universitätsstädtchen erschienen, und es trug ungemein dazu bei, das Ansehen der jungen Frau zu erhöhen, daß sie eine Person von so fremdartigem Aussehen zur Verwalterin ihres Hauswesens hatte. Es versteht sich, daß die treue Seele in Walter’s Familie so ziemlich die Rechte einer Schwiegermutter genoß, und sie gab in dieser schwierigen Stellung durch kluges Verschwinden, wenn es an der Zeit war, und durch rücksichtsvolles Auftauchen, wenn es gefordert wurde, ein Beispiel, das man nicht genug der Nachahmung empfehlen kann.

Von Melazzo hat man nie wieder etwas gehört, wie oft auch Walter sich nach ihm erkundigt hat. Die Wogen des Zufalls, die den seltsamen Menschen einen Augenblick emporgetragen, haben ihn, wie tausend andere werthvollere Existenzen, auch wieder spurlos hinweggespült. Der einzige Mensch vielleicht auf Erden, der ihm eine dankbare Erinnerung und sogar eine Art von Anhänglichkeit bewahrt, ist, seltsamer Weise, unser Professor. Es ist ihm, trotz aller blutigen Thaten des abenteuerlichen Mulatten, nicht möglich, ihm so feind zu sein, wie er es, wenn man die Sache vom sittlichen Standpunkte aus betrachtet, eigentlich sein sollte, er verdankt ihm nun einmal das Beste, was das Leben ihm geboten hat – seine Frau.