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Titel: Vergiftet und erschossen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 4, S. 35–39
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[35]

Vergiftet und erschossen.

Eine englische Mordgeschichte ohne Blutvergießen.


„Und der Hochzeitstag ist also wirklich festgesetzt?“

„Festgesetzt auf Lebenszeit in Eisen! Ohne Aussicht auf Gnade und endliche Befreiung!“

„Glücklicher Cranston! So eine ausgesuchte Schönheit! So ein capitaler Schatz!“

„Was sind fünfzehnhundert Pfund jährlich für meinen Tod, meinen Tod, Frank? Begraben ist ein unangenehmer Zufall, der Jedem im Leben passiren kann; aber heirathen. d. h. sich mit Absichtlichkeit selbst lebendig begraben, ist schlimmer, als sich aus Unvorsichtigkeit hängen.“

„Nun Du kommst wenigstens in kein einsames Grab. Dein Grab wird während der Parlamentssitzungen in ihrem Schlosse am Belgrave-Square, dem vornehmsten unter den Londoner Parks, im Herbst und Winter aber in Lincolnshire oder zwischen den Akazien, Statuen und Fontainen der Alameda von Malaga sein.“

„Also drei Särge! Doch was thut der zweite Sohn einen englischen Lords, dito Lieutenant von Ihrer Majestät schweren Dragonern nicht, um sich endlich mit einem Wesen von Rosenduft und junger Sahne in goldener Schüssel zu vereinigen, um gemeinsam mit ihr sauer zu werden, nachdem sie allein seine Schulden bezahlt hat. Ich hatte keine Wahl mehr; die Liebe siegte, denn nur meine Verlobungskarte bewog den Wüthendsten meiner geldhungrigen Shylocks, mir das bestimmte Logis in Queensbeech[1] nicht gewaltsam aufzudrängen.“

„Du bist sehr witzig, Cranston, aber ich denke, Du hast zu viel Witz, als daß Du nicht bessere Stoffe finden solltest, als Deine Braut.“

„Ich räche mich mit den Pfeilen des „Punch“ und „Diogenes“[2] gegen die Amors, womit sie mich verwundet.“

„Ungleiche Waffen! Ein Lordssohn und Vertheidiger des Thrones Ihrer Majestät“ –

„Reize mich nicht, Frank! Bin ich nicht schon lächerlich genug als kaingestempelter Ehemann? Und Du erinnerst an meine Vaterlandsvertheidigung unter lauter Elihu Burrit’schen Friedenstauben und baumwollen gestopften Puppenbälgen von Menschen! Was hatten wir bewaffnet in der Besikabai als unsere Augen? Was sind wir? Opernguker! Farbloses Frauenglas in rothgesottener Krebsfarbe mit russischer[3] fauler Bärenhaut auf dem Kopfe, unsere russenfreundliche, in den Haaren lebendige Gesinnung vor Schnupfen zu schützen!“

„Hast Du keine scharfe Haarbürste, Cranston?“

„Ha! ha! ha! Sehr gut, Frank! Aber was hilft uns die Reinlichkeit auswendig, wenn aus den großen Raupen, die wir im Kopfe hatten, solche sibirische Schmetterlinge ohne Flügel herauskriechen?“

„Das mache mit Aberdeen und Cobdenoffsky ab. Ich wollte Dir nur rathen, Dich in Bezug auf Deine Braut mehr wie ein Gentleman auszudrücken. Miß Sandford ist unsere beiderseitige Verwandte. Was Dir Dein Herz nicht sagt, laß Dir von Deinem Vetter und Freunde rathen.“

„Ah mein Mentor! Meine bessere Hälfte auch von einer andern Seite. Die leibhaftige Kunst, sich in guter Gesellschaft beliebt zu machen.“

„Im Ernste, Karl, Du willst sie wirklich blos Deiner Schulden wegen heirathen?“

„Im Ernste, lieber Cousin, denkst Du wirklich, daß ich mit meinen achtundzwanzig Jahren, meinem Schnurrbarte, meinem Witze und Leichtsinn, der Löwe von ein Dutzend Saisons, expreß so schön aufgewachsen, um die Schönsten vor mir niederfallen zu sehen (denn die Häßlichen bring ich auf, damit sie nicht fallen), daß ich mich mit Miß Sandford gegen alle diese Casus verschließen –“

„Nimm mir’s nicht übel, aber wenn ich bedenke, daß ein Mensch von Deinem Talent und Deiner ehemaligen ehrenhaften Gesinnung, der eine Zierde der guten Gesellschaft hätte werden können, ich meine in moralischer Beziehung –“

O ich merke! Mal still! Laß uns doch sehen, was Sr. Ehrwürden, mein Bischof von London mit 100,000 Pfund jährlich sein könnender Cousin Alles aus mir hätte fabriziren können! Ah! Sonntagsschulen, Versammlungen zur Unterstützung von Missionären im Innern Afrika’s und allgemeine Verdienste um die Menschheit mit jährlich zehn Schillingen für die Lumpenschulen. Nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft in hochkirchlichem Glanze mit weißem Halstuche und baumwollenem Regenschirm. Und was für irdische Freuden neben diesen himmlischen? O, ich weiß! Auserwählte und gebildete, makellose Gesellschaft, ehrwürdige Männer mit einer Reihe von Knöpfen[4], und Damen – oh! – all’ Eure anbetungswürdigen Miß und Missus in blaustrümpfiger [36] Heiligkeit. – Still, laß mich ausreden – Heiligkeit in Gesellschaft ehrwürdiger Matronen und Candidatinnen Hymens zwischen 40 und 60, jede mit 4 bis 5 Hunden und 6 bis 10 Katzen – jede mit einer besondern Biographie und Krankengeschichte – reizende Reunions, frühes Nachhausegehen, nützliche Unterhaltung, schwacher Thee. Berliner Stickmuster, gebutterte Toaste und allgemeines Wohlwollen zweimal die Woche. Ja, ja, Frank, ich wollte, Du hättest aus mir gottlosen Dragoner einen frommen Küster gemacht, wenn ich Dir gefolgt wäre.“

„Mit solchen Gesinnungen darfst Du Miß Sandford nicht heirathen. oder Du bist ein –“

„Bewohner von Queensbeech.“

„Nein, ein – Schuft.“

Frank war roth vor Zorn aufgesprungen und ging. Cranston folgte ihm mit geballter Faust. Frank wendete sich um, sah ihn fest an und schien auf das Aergste gefaßt zu sein. Cranston konnte den Blick nicht aushalten, kehrte um und warf sich verächtlich in einen großen Federstuhl. Mit den Worten: „ein Schuft“, noch einmal in zischender Wuth durch die Zähne gepreßt, schloß Frank die Thür, durch welche er gegangen war.

Cranston blieb eine Weile blaß und zitternd in seinem prächtigen Sammetstuhle halb liegend sitzen und drehte eifrig den Schnurrbart. Endlich sprang er auf. zündete sich eine andere Cigarre an, besah sich im Spiegel und verglich sich dann mit seinem Portrait, das in lebensgroßer, männlicher, blühender Schönheit auf ihn herabsah. Dann fing er an zu lesen, warf aber das Buch bald wieder auf den Tisch, pfiff Reminiscenzen einer neuen Polka and zog dabei ein zierliches Briefchen aus dem Taschenbuche, um es pfeifend noch einmal zu überlesen. Dies veranlaßte ihn, plötzlich zu klingeln und dem Diener zu befehlen, daß man seine „Fliege“[5] vorfahre.

Die Offiziere der Pferde-Garde[6] gaben ja heute Abend den ersten Künstlern und Künstlerinnen des kleinen St. James-Theaters ein Soupé, ein splendides Nachtmahl, und er war eingeladen, und die schönste Prinzessin der Idealwelt von St. James hatte ihn in dem erwähnten Billetchen inständigst gebeten, doch ja zu kommen, damit sie sehe, ob er aus seiner neuen Bräutigamsrolle nicht durchfallen werde.

Und täuschte sich Miß Sandford denn wirklich so sehr in den wahren Gesinnungen und Sitten ihres Verlobten? Sie gehörte der strengsten, guten Gesellschaft Englands an, wo der kleinste sittliche Makel, sobald er bekannt geworden, die Thüren verschließt. Und Cranston’s Ruf war in ihren Kreisen kein Geheimniß mehr. Auch hatten es Tanten und namentlich jungfräuliche Blaustrümpfe in der ersten Blüthe ihrer Vierziger durchaus nicht an herzergreifenden tugendhaften Warnungen und Hinweisen auf schmachtend lauernde bessere Partieen fehlen lassen. Man könnte sagen: sie liebte ihn einmal und er trug eine Offiziersuniform; aber erstens stehen die Uniformen in England grade in dem Rufe, daß, sobald ein Mädchen aus der höhern Gesellschaft sich mit einem Offizier gefunden hat, letzterer vor allen Dingen seine Uniform auszieht und seinen Abschied nimmt, zweitens liebte sie wirklich und zwar mit der reinsten Flamme, die nichts auslöschen kann, als die Entweihung des Mannes, die Entweihung seiner Liebe und Ehre. Sie liebte ihn um so inniger, weil sie in ihrer Liebe die Verpflichtung und Macht erkannte, ihn, den schönen, ursprünglich edeln Mann von dem Abgrunde zurückzuziehen, in den er ohne sie stürzen würde. Seine Liebe zu ihr, an die sie fest glaubte, war gerade das einzige Band, mit dem er mit seinem frühern bessern Selbst (und sie hatten sich von Kindheit an gekannt) wieder in Verbindung trat. So wies sie alle Warnungen und Verläumdungen ab und hatte nach Veröffentlichung ihrer Verlobung sich alle dergleichen Zuträgereien so ernst verbeten, daß sie jedesmal das Zimmer verließ, wenn wohlmeinende Freundinnen „von reiferer Erfahrung“ sich auf diese Weise nützlich machen wollten. Cranston stellte sich alle Tage zweimal ein und scherzte in der liebenswürdigsten Weise mit ihr über seine Unwürdigkeit vor den Augen gewisser hochkirchlichen Tugend-Tanten, die Miß Sandford auch nicht liebte, da ihre Tugend und Reinheit ächt war, so daß sie in der Verachtung der kirchlichen Heuchelei, welche wie ein Gift durch die gute Gesellschaft Englands schleicht, wirklich mit ihrem Verlobten übereinstimmte. Cranston’s Besuche blieben regelmäßig, bis er eines Morgens von einem Diener abgewiesen ward: Miß Sandford sei so ernstlich erkrankt, daß sie Niemanden sehen dürfe. Sofort verdoppelte er seine doppelten Besuche jeden Tag und ließ es auch nicht an Briefen fehlen, die aber alle unbeantwortet blieben. Das war sehr beunruhigend für einen Bräutigam, der zwischen dem Himmel der Ehe und der Hölle des Schuldgefängnisses keine Wahl mehr hatte, besonders beunruhigend aber, als er bestimmt erfuhr, daß Cousin Frank, der ihr früher sehr stark aufgewartet hatte, und mehrere andere nähere Freunde bei Miß Sandford Zutritt gefunden hatten. Jetzt schrieb er mit den Qualen verschmähter Liebe, mit bengalischen Flammen, und bat bei Allem, was ihr heilig sei, um Erklärung. Auch dieser Brief blieb ohne Beachtung. Nur noch eine Woche blieb übrig bis zu dem beiderseitig verabredeten Hochzeitstage, und zugleich stellten sich Freunde und Feinde, Juden und Heiden und Christen mit Rechnungen von verschiedener Länge und lauter sehr hohen Graden von Zudringlichkeit ein mit dem Bemerken, daß sie gehört hätten, der beabsichtigte heilige Bund mit 1500 Pfund jährlicher, sicherer Rente solle nicht geschlossen werden. So ein paar Tage später beinahe zum Wahnsinn getrieben, ergriff er wieder die Feder und bat, beschwor, raste und forderte bestimmt und trotzig eine schleunige Antwort. Diese erhielt er denn auch sehr schnell und sehr kurz.

               – „Square – – 1853.

Sie bewarben sich um mich und erhielten mein Wort. Das will ich getreu halten – fürchten Sie nichts. Ich will Sie an dem bestimmten Tage zur bestimmten Stunde in der Kirche sehen, aber nicht eher. Beschwichtigen Sie Ihre Ungeduld und zärtliche Bekümmerniß bis zu dieser Stunde, in welcher Sie jede Auskunft erhalten werden von           Alice Sandford.“

Es wäre vergebens, das Erstaunen, die Furcht, die Zweifel, die Hoffnungen, die Legionen von versuchten Auflösungen des Räthsels, kurz den Seelenzustand Cranston’s nach dieser Epistel zu malen. Der Hochzeitstag kam und auch die Stunde und die Equipagen mit den Hochzeitsgästen und Zeugen, alle aus der hohen Gesellschaft, in doppelter und dreifacher Anzahl, abgesehen von Tausenden Neugieriger, die Zufall und Hoffnung auf effektvollen Scandal herbeigetrieben hatte.

Miß Sandford war pünktlich. Sie trug sich durchaus weiß, aber im auffallendsten Grade einfach, ohne eine Spur von Schmuck. Sie trug sich nicht wie eine Braut und sah auch nicht so aus. Außerdem begleitete sie Niemand, als ihr ehemaliger Vormund, der sie vor den Altar hinstellte wie eine Bildsäule. Cranston wollte sich ihr nähern, der Vormund winkte ihn aber zu sich, indem er zugleich dem Prediger ein Zeichen gab, vor den Altar zu treten. Sobald dieser dastand, schob er den Bräutigam vor und die Traurede begann. Die ganze Kirche voll Zuschauer und Zeugen besonders weiblichen Geschlechts schien gleichsam auf den Zehen zu stehen und athemlos zu horchen und lange Hälse über einander weg zu machen, worin besonders einige ungläubige Gläubiger ein so schreckliches Talent entwickelten, daß sie ihrer natürlichen Lunge eine volle Elle zuzusetzen schienen und die Vatermörder, im natürlichen Zustande bis an die Nase reichend, leer in die Luft starrten, da der unterste Theil des Gesichts hoch über ihren höchsten Spitzen erst allmälig anfing.

Aber die Trauungsfeierlichkeit ging ohne alle äußerliche Störung vor sich. Wenigstens bemerkten nur die Näherstehenden, daß sich die Braut zu Ende der Feierlichkeit an ihren – Mann mit vollem Gesichte umwandte, ihm ein niedliches Portefeuille einhändigte und ihm etwas in’s Ohr flüsterte.

Nachdem der Geistliche das letzte Wort gesprochen und Cranston ihr den Arm bot, wandte sie sich rasch an ihren Vormnnd, der sie so schnell zur Kirche hinausführte, als das Gedränge irgend erlauben wollte. Jetzt drängte die Menge zugleich so fanatisch hinter ihr her, daß es Cranston unmöglich war, sofort zu folgen. Als er sich endlich mit steigender Wuth und Verzweiflung durchgearbeitet hatte, konnte er sie nur eben im vollen Fluge der Pferde davoneilen sehen. Er rief ihr nach, doch natürlich vergebens. So sprang er in seinen Wagen und befahl nachzufahren. Ihre Equipage hatte einen so bedeutenden Vorsprung, daß er ihr schwerlich nachgekommen wäre, wenn nicht in einer Hauptstraße ein unendliches Gewirr von Omnibussen, Lastwagen, Droschken und hunderterlei verschiedenartiger Karren alles Räderwerk des Verkehrs gehemmt [37] hätte. Er holte sie ein, sprang heraus und trat mitten in dem Wagengewühl an ihre Equipage heran, die aber in englischer Manier keine Seitenfenster hatte, so daß er sie weder zu sehen noch zu sprechen vermochte. Inzwischen entwirrte sich das Wagenlabyrinth und der Kutscher vorn trieb die Pferde wieder an. Cranston sprang vor und griff ihnen in die Zügel. Der Kutscher winkte einem Policeman, von denen Keiner in London in Bezug auf die Hemmung des Verkehrs Spaß verstehen darf. So riß er ihn unsanft zurück auf’s Trottoir und er sah seine junge Gemahlin wieder davoneilen. Während er ihr in seinem Wagen wieder nachsetzte, sah er bald, daß sie ihre Richtung nach einem Eisenbahnhofe inne hielt. Dieser war bald erreicht. Er versuchte ihr beim Einsteigen in den Weg zu treten, wurde aber hier von Frank, der ihr entgegeneilte, erst mit Worten, dann entschieden körperlich aufgehalten, sich ihr zu nähern. Er wollte mit Wuth und Verzweiflung ihn von sich schleudern, aber Frank hielt fest und wiederholte: „ich schütze sie nöthigenfalls mit meinem Leben vor Dir, wie ich versprochen.“ Die Menge, welche sich sofort um diese Scene drängte, veranlaßte Beide, sich in die Grenzen des äußeren Anstandes zurückzuziehen. Cranston nahm sogar eine sehr herrische Haltung an und schien Frank keines Blickes zu würdigen. Er behielt nur den Ausgang aus den Passagierzimmern erster Klasse im Auge und schien im Uebrigen so gleichgültig auszusehen, wie alle vornehmen Engländer.

Als schon die Thüren der Waggons geschlossen wurden, stürzte sich die sonderbarste aller eben getrauten jungen Frauen heraus und verschwand in einem der Coupees. Cranston riß sich jetzt von den Armen Frank’s mit Riesengewalt los und war im Nu in dasselbe Coupee gesprungen. In demselben Augenblicke flog aber auch Miß Sandford, wie wir sie noch nennen müssen, heraus und da der Zug sich schon in Bewegung gesetzt hatte, schloß ein Einsenbahnbeamter, entrüstet die paar möglichen Schritte noch neben her laufen zu müssen, das Coupee, indem er Cranston unwillig zurückstieß. Der Neuvermählte war so im davonrasenden Zuge gefangen und Miß Sandford fuhr mit ihrem ehemaligen Vormunde und Frank in ihrem Wagen schleunigst davon. –

Nach einigen Stunden war Cranston natürlich zurück und tobte im Hause seiner „Frau“ wie ein ächter Ehe-Tyrann herum, maltraitirte männliche Diener, schickte weibliche Dienstboten aus dem Dienste, da Keiner sagen wollte oder konnte, wo seine „Frau“ geblieben sei und schien im Ganzen beinahe kein menschliches Wesen mehr, geschweige ein liebender Gatte. Alles um ihn herum verlor den Kopf und folgte zitternd dem seinigen. Der ehemalige Vormund, der sich am hartnäckigsten zeigte, ward als ein „ungebetener Hochzeitsgast“ mit Polizei aus dem Hause gewiesen und überhaupt Alles hinausgeworfen, was die geringste Widersetzlichkeit kund gab. Mit einigen Dienern, die sich gefügt hatten, traf er neue Arrangements nach seinem Geschmack im Hause und begab sich dann in seine alte Junggesellenwohnung. Hier erwarteten ihn verzweifelte Gläubiger, die er aber alle glücklich machte, indem er das Portefeuille zog, welches ihm bei der Trauung in die Tasche geglitten war. Bei dieser Operation entdeckte er erst zwei Briefe von weiblicher Hand, den einen von ihr, den andern von der Schauspielerin, der ihm also vom Zimmer gestohlen worden war. Sie schrieb ihm, daß in dem Portefeuille Alles enthalten sei, was ihm an ihr liebenswürdig und des Besitzes werth erschienen; für’s Uebrige wollten und müßten sie in seinem Interesse für ewig geschieden sein. Er ward blaß, stellte seine Zahlungen ein und blieb wohl eine Stunde allein. Draußen entstand Heulen und Zähneklappern, denn es hieß, die Quelle des neuen Lebens sei erschöpft, der Mann habe allen Werth verloren. Als er aus dem Hause kam, traten ihm die noch übrigen Geschäftsfreunde in den verschiedensten Positionen in den Weg, wohl wissend, daß sie auf der Straße kein Recht hatten, sich auf eindringliche Weise bemerkbar zu machen. Er aber kehrte stolz und leicht mit ihnen um und ließ die Banknoten fliegen, wie einer der Tausende die Zettel, worin Aerzte, Schuster und Hutmacher ihre billigsten und besten Waaren im Königreiche empfehlen, auf den Straßen beinahe gewaltsam dem Publikum aufdringt.

Später sahen ihn die Leute fortfahren, und schon am folgenden Morgen hieß es in der guten Gesellschaft, Miß Sandford habe sich vergiftet, Cranston aber erschossen. Man anklagte ihre Seelen, die nun in ihren Sünden und mit einer Todsünde hinübergefahren seien, und lief und fuhr umher, um zu erfahren, ob sich Miß Sandford wirklich mit Lorbeergeist oder blos mit gewöhnlicher Blausäure vergiftet habe.

Mit Hülfe einiger Sovereign’s, denen in England Niemand so leicht widersteht, hatte Cranston indeß den Aufenthalt seiner Frau bald erfahren. Entschlossen, sich ihr gegenüber als Mann geltend zu machen und den Gründen auf die Spur zu kommen, aus denen so romantische Verwüstung hervorgegangen, suchte er sie auf und folgte dem Diener auf dem Fuße, ohne auf irgend eine Förmlichkeit Rücksicht zu nehmen. Rasch trat er ein und dicht vor Alice hin, die ihn ohne Ueberraschung kalt ansah und dann die Thür suchte. Er ergriff fest ihre Hand und sagte vorwurfsvoll: „Alice, Du hast als schwaches Weib gehandelt, ich als starker Mann und so will ich auch ferner. Du darfst Dich nicht entfernen, ohne Deine Schuld an mich abzutragen.“

„Alles, was Ihnen zukommt, war in dem Portefeuille enthalten.“

„Alice, denke Deiner würdiger. Kannst Du einem Manne Herz und Hand gegeben haben, der so niedrig steht? Du hast mich geliebt, Du liebst mich, sonst ständest Du niedriger, als ich jetzt in Deinen Augen. Deshalb, Alice, mußt Du zunächst selbst anerkennen, daß Du Dich in Deinem Herzen verpflichtet fühlst, vor allen Dingen das Aergerniß, das Du Dir und mir öffentlich gegeben, zu erklären.“

„Gut denn. Sie wollten durch die Kirche und meine Kasse dem Schuldgefängniß entgehen. Ich habe Sie so sehr geliebt, daß ich mich entschloß, Ihnen diesen Wunsch zu erfüllen. Sie bekamen durch den Trauungsakt ein Recht auf mein Vermögen. Dieses erhielten Sie. Auf meine Person haben Sie keine Ansprüche.“

„Doch Alice! Doch!“

„Ich werde jeden Anspruch zurückweisen und mich in dem Augenblicke tödten, wo ein Mensch, den ich verachte, der auf der niedrigsten Stufe anlangte, sich – sich –“

„Jetzt sag’ mir deutlich und schlicht, warum Du mich verachtest.“

„Ich will es. Ich will auch diese Erniedrigung noch ertragen. Ihnen in’s Gesicht zu sagen, was ein moralisch nicht ganz verworfener Mann einem Weibe von Ehrgefühl erspart haben würde. Sie haben auf dem Wege zum Altare mit mir einer Schauspielerin öffentlich und in Gesellschaft ewige Treue geschworen und auf Ehre – auf Ihre Ehre geschworen, sie bei mir einzuführen. Und jetzt entfernen Sie sich!“

Mit diesen Worten wandte sie sich um, um in ein Nebenzimmer zu gehen.

„Noch nicht, Alice! Das Verhör ist noch nicht zu Ende. Du hast mir noch mehr Sünden zu beichten. Alice! Bleib! Ich sage Dir, bleib! Heraus mit der Sprache! Ich versichere Dich von vorn herein einer vollständigen, herzlichen Amnestie!“

Er hielt sie gewaltsam zurück. Sie riß sich los und zog in höchster Angst und Erbitterung an der Klingel. Ein Diener kam herein. Cranston befahl, er solle sich sogleich entfernen. Alice befahl, er solle bleiben. Er zögerte. Cranston sagte: „Mein Freund, ich hoffe. Sie haben so viel Lebensart, zu verstehen, was Sie bei diesem Doppelbefehl von Mann und Frau thun müssen. Ich wünsche jetzt mit meiner Frau allein zu sein.“ Der Diener entfernte sich, wie eine wandelnde Wachsfigur, ohne auf den Befehl und das folgende Angstgeschrei Alice’s Rücksicht zu nehmen.

„Jetzt höre, Alice! Du weißt ganz genau, wie ich war und bin. Ich habe Dir keine meiner jugendlichen Fehler verschwiegen, auch als Du noch nicht das süßeste Recht auf mein volles Vertrauen hattest. Du weißt, ich war, so zu sagen, ein lockerer Bursche. Ich habe es Dir mehrmals geklagt, aus tiefstem Herzen ehrlich und bitter, daß mich, meine äußerliche materielle Lage nöthigte, unsere noch nicht ganz aufgeblühte Liebe in die Ehe hinein zu treiben, die Ehe, deren Eingangsformalitäten, deren jetzige Form in der „guten Gesellschaft“ mir so ungeheuer nüchtern vorkömmt, daß ich mich mit Witz und Ironie und Spott mit Kräften dagegen sträubte. Sie kam mir vor wie eine Entweihung unserer Liebe, da sie sich noch nicht naturgemäß bis zu der Innigkeit und materiellen Reife entwickelt hatte, wo solch ein Bund der Welt wegen der holden Braut namentlich nicht mehr zu früh erscheint. Das weißt Du Alles. Von der geistreichsten, liebenswürdigsten Dame, die ich nach Dir kenne und die des Gegensatzes wegen die passendste Freundin für Dich sein wird, habe ich oft zu Dir gesprochen und mehrmals den Wunsch geäußert, sie mit Dir bekannt zu [39] machen. Ich habe ihr öffentlich und herzlich ewige Treue geschworen, d. h. Treue meiner Bewunderung, meiner Heiterkeit gegen sie, Treue zu mir selbst in dem Sinne, daß ich mich mit Händen und Füßen gegen den gewöhnlichen Ehemannscharakter wehren würde, der am Kaminfeuer sitzt und der Frau und den Grazien und der Kunst den Rücken zukehrt. Treue geschworen in Gegenwart ihres vortrefflichen Bräutigams, des Majors –“

„Mein Gott, mein Gott, wie thöricht! Wie unsinnig!“

„Alice! Hast Du mir nicht versprochen, Alles, was Du von mir Nachteiliges hörst und Dich beunruhigt, mir ohne Ausnahme bis auf das letzte Jota mitzutheilen, damit keiner der vielen Eheteufel, die jedes Paar zum Altare umschwärmen – “

„Es waren die besten Freundinnen, die es so furchtbar, so wahr darzustellen wußten –“

„Wie alt sind diese holden Damen?“

„O mein Gott, wie verblendet –“

„In der Blüthe der Vierziger, Oberste der Teufel!“

„Und Alles so mütterlich, heimlich, beweisend“

„Niemals verheirathet, scharfe Mundwinkel, spitzige Nasen, geschliffene Zungen, ungeschliffene Tugend, rother Zorn, gelber Neid, blaue Strümpfe, grüne Galle, schwarze Hysterie, weiße Jungfräulichkeit, Gold im Munde, damit die Zähne nicht ausfallen, Silber unter der falschen Tour, englische, hochkirchliche Tugend in Kupfer gestochen, gußeiserne Säulen des Himmels –“

Alice schluchzte jetzt so laut, daß Cranston sich plötzlich unterbrach und die so plötzlich von ihren Leiden Befreite in seine Arme schloß. Da sie jetzt nicht davonlief und auch nicht klingelte, haben auch wir keinen Grund, sie aus diesen Armen herauszureißen und überhaupt keinen anständigen Grund, diesen Dialogen der Arme und Lippen weiter Gehör zu geben.




Dieses tragische Doppel-Ereigniß hielt indessen Freunde und Freundinnen der angeblich Ermordeten nicht ab, schon den folgenden Abend einer Einladung der Offiziere der königlichen Garde zu Pferde zu einer außerordentlichen Privatvorstellung von Dilettanten im Saale des St. James-Theaters zu folgen, um so mehr, da man bei dieser Gelegenheit Näheres über den außerordentlichen Doppelselbstmord zu erfahren hoffte. Die Equipagen rollten zu und ab und dienstbare Geister mit künstlichen Waden unter ihren weißseidenen Strümpfen, unförmlichen Blumensträußen vor der Brust, weißen Halstüchern und puderstarren weißem Haar sprangen herab, öffneten die Thüren, spannten Regenschirme auf und schützten die herausspringenden Schönheiten mit weit vorgehaltenem Arm vor dem Naß von Oben, während kostbare Teppiche sich jedesmal, wie durch einen Zauber von der Thür des Theaters bis an den Wagenschlag rollten, sobald eine andere Schönheit vorfuhr, damit sie mit ihrem überirdischen Fuße nicht den gemeinen Bürgersteig zu betreten brauche.

Oben sah es gar nicht aus, als sollte Theater gespielt werden. Der Saal war ganz gemüthlich zum Essen und Trinken eingerichtet. Man wunderte sich und sprach von ungewöhnlichen Ueberraschungen, die sich denn auch bald in dem Erschossenen und der Vergifteten nebst der erwähnten Schauspielerin vorstellten. Cranston führte beide Damen am Arme, gab Zeichen, daß er sprechen wolle, so daß sich sehr schnell Alles so arrangirte, daß er mit den beiden Damen der ganzen Gesellschaft gegenüberstand.

Not so bad, as we seem[7]“, fing er an, „dies ist das Stück, welches Sie heute in einer sehr abgekürzten freien Travestie anzuhören gebeten werden. Personen: Cranston, ehemals Schuldner und Junggeselle von angenehmem Aeußern und noch angenehmerem Herzen, der Zeit verheirathet. Moralischer Werth: 1500 Pfd. jährlich. Mrs. Cranston. geb. Miß Sandford, vergiftet durch Briefpapier und durch die Zungen einiger tugendhaften Klapperschlangen, vollständig hergestellt durch einen Wunder- und Wundenbalsam, den wir beide gemeinschaftlich erfunden und gehörig rührten, nicht wahr, Alice? Miß R…, erste Liebbaberin am St. James-Theater (mehrere tugendhafte Seufzer in der Gesellschaft) und erste Freundin von Mrs. Cranston (tugendempörtes Schluchzen). Später noch eine andere Person als Bräutigam.“

„Sie erlauben uns wohl die einzelnen Akte nicht vorzuspielen. Es kommt viel Dummes, viel Lächerliches, aber auch viel Trauriges darin vor. Cranston erschießt, Mrs. Cranston vergiftet sich und trotzdem bleibt das Ganze ein Lustspiel, obwohl giftige Zungen und alte Weiber bestens für eine Umwandlung zu einem Trauerspiel gesorgt hatten. In den Zwischenakten aber, hinter den Coulissen ging der rothe Faden der Intrigue verloren, aus dem Trauerspiel formte die Liebe ein Lustspiel. Nur den vierten Act dieses Lustspiels lassen Sie uns vollständig auflösen. Dieser beginnt so eben. Mein Koch soll sehr gut sein und ich bitte die verehrten Herren und Damen, den braven Mann auch als untergeordneten Mitbruder zu ehren und die Früchte seiner erhabenen Kunst mit Appetit und Heiterkeit ihrer Bestimmung entgegen zu führen.“

Cranston drückte dabei sein junges seliglächelndes Weib an sich und führte sie zu Tische. Alles jubelte und lachte und selbst die giftigen Zungen zogen ihre Gesichter in freundliche Falten.


  1. Schuldgefängniß.
  2. Die beiden englischen Witzblätter.
  3. Rothe Uniform und große Pelzmützen.
  4. Quäker.
  5. Eine Art leichter Equipage (Fly).
  6. Das eleganteste Militär in England.
  7. „Nicht so schlecht als wir scheinen“, ein beliebtes Stück von Bulwer, das namentlich oft zum Besten des neuen Unterstützungsfond (mit Dickens in der Hauptrolle) für Schriftsteller privatim aufgeführt ward.