Textdaten
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Autor: Max Ring
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Titel: Vater und Sohn
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 20, S. 305–308
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Kriminalfall
Aus dem Tagebuche eines Arztes
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[305]

Vater und Sohn.

Aus dem Tagebuche eines Arztes.

In der Nähe der polnischen Grenze, wo ich mich als praktischer Arzt längere Zeit aufhielt, bieten „Land und Leute“ vielfache Gelegenheit zu interessanten Beobachtungen und Studien. Die Folgen der früheren Erbunterthätigkeit und Hörigkeit sind noch keineswegs verschwunden; die ehemalige Knechtschaft hat Herren und Unterthanen in gleicher Weise demoralisirt und dadurch die abnormsten Zustände und Verhältnisse herbeigeführt. Trotz der im Jahre 1809 erfolgten Aufhebung der Erbunterthänigkeit hat sich im Laufe der Zeit wenig verändert und noch heute zeichnet sich das Volk an der Grenze durch seine sclavische Gesinnung, durch Trägheit, Leichtsinn und Trunksucht aus, während der Adel der Provinz durch seine tyrannische Willkür, Verschwendungssucht und seinen Uebermuth an das Leben und Treiben jener alten Magnaten und ihre so verrufene „polnische Wirthschaft“ erinnert. Hier findet man noch hochgestellte Familien, die sich durch den unsinnigsten Luxus, durch Spiel und Ausschweifungen aller Art in kürzester Frist ruiniren, Männer und Frauen, welche jedes menschliche und göttliche Gesetz frech mit Füßen treten und in ihrer wilden Leidenschaftlichkeit vor keinem Verbrechen, keiner Unthat zurückschrecken, obgleich die frühere Straflosigkeit längst aufgehört hat und die bessere Rechtspflege den Schuldigen nicht mehr wie sonst schont, wo der Edelmann sich ungescheut Alles erlauben durfte und das vornehme Verbrechen weder Kläger noch Richter fand. Ich selbst fand in meiner Eigenschaft als Hausarzt öfters Gelegenheit, manches erschütternde Familiendrama, manches grauenvolle Geheimniß, manche zerrüttete Verhältnisse durch eigene Anschauung kennen zu lernen.

Unter andern Patienten schenkte mir Graf Xaver G…in, einer der angesehensten und vornehmsten Magnaten der Provinz, sein ganzes Zutrauen, obgleich mir seine Persönlichkeit nichts weniger als sympathisch erschien. Derselbe war der Typus des dortigen Adels, eine höchst interessante und blendende Erscheinung, der unermüdlichste Sportsmann, Jäger und Reiter, der verwegenste Spieler, vor Allem aber berühmt oder vielmehr berüchtigt durch seine galanten Abenteuer. Mit jener männlichen Schönheit, welche man nicht selten in den höheren Ständen der slavischen Race findet, verband der Graf eine hinreißende Liebenswürdigkeit, eine wunderbare elastische Geschwindigkeit, eine gewisse romantische Ritterlichkeit, die wohl geeignet war, ihm bei einer oberflächlichen Bekanntschaft alle Herzen zu gewinnen. Aber ein tieferer Blick, wie er mir als Hausarzt gestattet war, ließ gar bald unter der glänzenden Hülle eine grenzenlose Frivolität, den gänzlichen Mangel aller moralischen Grundsätze, seine Unzuverlässigkeit und Charakterlosigkeit erkennen, welche unter diesen Umständen doppelt gefährlich und besonders dem schwachen Geschlechte verderblich werden mußte, das sich nur zu leicht von seiner verführerischen Außenseite täuschen ließ. Wehe dem Mädchen oder der Frau, auf deren Eroberung er es abgesehen hatte, sie wurde fast immer ohne Widerstand die Beute und das Opfer des rücksichtslosen Wüstlings.

Nachdem der Graf durch seine ungezügelte Verschwendungssucht sich so gut wie ruinirt hatte, gelang es ihm trotz seines zweideutigen Rufes die Hand einer jungen und reichen Erbin zu gewinnen. Sie war eine sanfte, herzensgute und fein gebildete Dame, blond und zart, von jener ätherischen Schönheit, die für den aufmerksamen Arzt leider das fast untrügliche Zeichen der beginnenden Schwindsucht ist. Sie liebte den Grafen mit der zärtlichsten Hingebung und Treue, welche er zum Erstaunen der [306] Welt in eben demselben Maße zu erwiedern schien, so daß man ihn allgemein für einen gebesserten Sünder hielt. Ich selbst ließ mich anfänglich täuschen und glaubte an die günstige Umwandlung seines Charakters, da er seine Frau mit der größten Aufmerksamkeit behandelte und mich vielfach, selbst bei ihren kleinsten Leiden, zu Rathe zog, indem er mit rührender Sorgfalt über ihre Gesundheit wachte. Weit entfernt, seine egoistischen Beweggründe zu durchschauen, freute ich mich über seine anscheinende Besserung durch eine glückliche Ehe, da ich die gute liebenswürdige Frau von Herzen lieb gewonnen hatte. Meinen ärztlichen Bemühungen gelang es auch, ihr Leiden, wenn auch nicht gänzlich zu heben, doch wesentlich zu bessern. Für meine geleisteten Dienste war sie mir überaus dankbar, so daß sie mir bald ihr volles Zutrauen schenkte. Eine Badecur, die ich ihr verordnet hatte, war ihr so gut bekommen, daß ich mich selbst von ihrem frischen Aussehen täuschen ließ und bei einem zweckmäßigen Verhalten jede Gefahr beseitigt hielt. Um ihr Glück vollständig zu machen, fühlte sich die Gräfin seit einiger Zeit Mutter und erwartete ihre Niederkunft. Ihr Gatte überhäufte sie mit verdoppelter Zärtlichkeit und zeigte sich hoch erfreut über die bevorstehende Geburt eines Erben.

Nicht ohne Besorgniß sah ich dem immer bedenklichen Augenblick entgegen, da ich nur zu oft die Erfahrung gemacht hatte, daß sich verborgene Brustleiden unter diesen Verhältnissen öfters mit rapider Schnelligkeit zu entwickeln pflegen. Leider sollten meine Befürchtungen nur zu bald in Erfüllung gehen; die Gräfin brachte zwar leicht und glücklich einen gesunden, wenn auch etwas schwächlichen Knaben zur Welt, kränkelte aber seitdem fortwährend und verlor mehr und mehr ihre Kräfte. Rasch entwickelte sich ein zehrendes Fieber, das meiner Kunst nicht weichen wollte, dazu gesellte sich ein quälender Husten mit den übrigen Symptomen der unaufhaltsamen Schwindsucht. Eine Reise und der längere Aufenthalt in südlichen Gegenden vermochte nicht die Fortschritte des Uebels aufzuhalten; sie kehrte ungebessert zurück, um in der Heimath zu sterben. Auf ihrem Todtenbette empfahl sie mir, über das Leben ihres Kindes zu wachen, dessen zarte Constitution allerdings Besorgnisse erregte. Wider Erwarten entwickelte sich der schwächliche Knabe unter der Aufsicht eines tüchtigen Hofmeisters geistig und körperlich so trefflich, daß ich nur selten wegen seiner Gesundheit zu Rathe gezogen wurde. Später kam er in eine vornehme Pension nach der Schweiz, wo er zu einem durch Geist und Schönheit ausgezeichneten Jüngling heranwuchs, indem er die Liebenswürdigkeit des Vaters mit dem herrlichen Gemüthe seiner verstorbenen Mutter vereinigte.

Graf Xaver lebte nach dem Verluste seiner Frau einige Monate in strenger Zurückgezogenheit, so daß Niemand an der Aufrichtigkeit seines Schmerzes zweifeln konnte. Nach und nach jedoch kehrte er zu den Zerstreuungen seiner Jugend zurück und bald überließ er sich wieder dem Strudel seiner früheren Vergnügungen, nur mit dem Unterschiede, daß er jetzt mehr als früher den äußeren Anstand zu wahren suchte. Durch den Tod der Gräfin war er in den Besitz eines bedeutenden Vermögens gelangt, das er zu gleichen Theilen mit seinem Sohne geerbt hatte. Dasselbe setzte ihn von Neuem in den Stand, seiner ungezügelten Verschwendungssucht zu fröhnen. Auf seinen Gütern führte er ein wahrhaft fürstliches Leben, an seiner Tafel floß der edelste Ungarwein und Champagner, sein Stall enthielt die kostbarsten Rennpferde, die er für ungeheuere Summen in England ankaufen ließ, in seinem Schlosse fand der vornehme Adel und besonders die Jeunesse dorée der Provinz eine den Slaven eigenthümliche Gastfreundschaft. In den glänzend decorirten Sälen wurde hohes Spiel gespielt, Tausende an einem Abend gewonnen und verloren und manche wilde Orgie gefeiert. Im Winter lebte der Graf in Paris oder Neapel, wo er durch seinen ungemessenen Aufwand und durch seine Liebenswürdigkeit selbst in den ersten Kreisen Aufsehen erregte und zahlreiche interessante Bekanntschaften mit Männern und Frauen der vornehmen Welt anknüpfte.

Unter diesen Umständen war es nicht zu verwundern, daß selbst die bedeutende Hinterlassenschaft der Gräfin für ein solches Treiben nicht ausreichte und in wenig Jahren zusammenschmolz. Trotz der dringenden Anzeichen seines nahen Ruins konnte sich der Graf weniger als je zu einer Veränderung seiner Lebensweise entschließen, indem er mit gewohntem Leichtsinn seine Verschwendung fortsetzte. Bald war er wieder in die Hände christlicher und jüdischer Wucherer gefallen, die seine Verlegenheit benutzten und vollends die Zerrüttung seiner Verhältnisse beschleunigten. Seine Lage wurde um so peinlicher, da er im Begriffe stand, sich zum zweiten Male mit einer angesehenen, aber unvermögenden Dame zu vermählen, für die er die glühendste Leidenschaft gefaßt hatte. Auf seiner letzten Reise hatte er in Paris eine reizende Wittwe kennen gelernt, deren bezaubernde Schönheit ihn unwiderstehlich fesselte. Durch die feinste Koketterie wußte sie den blasirten und verwöhnten Schmetterling anzuziehen, während der unerwartete Widerstand, den sie seinen Wünschen entgegensetzte, seine Leidenschaft zur Raserei anfachte. Um jeden Preis mußte er das verführerische Weib besitzen, so daß er vor keinem Hinderniß zurückschreckte.

Um diese Zeit war auch der Sohn des Grafen, der indeß sein achtzehntes Jahr erreicht hatte, aus der Schweiz zurückgekehrt, um auf einer deutschen Universität seine Ausbildung zu vollenden. Derselbe hatte die Sanftheit und Herzensgüte seiner Mutter geerbt, mit der er auch in seinem Gesichte die auffallendste Aehnlichkeit zeigte. Mit gleicher Liebe hing er an seinem Vater, an den er sich trotz der Verschiedenheit ihres Charakters mit schwärmerischer Zärtlichkeit anschloß. Der Graf hatte sich eine seltene Jugendfrische zu bewahren gewußt, während der Sohn einen gewissen Ernst zeigte, der ihn älter erscheinen ließ, als er wirklich war. Zwischen Beiden herrschte dem Anschein nach das innigste Verhältniß und fast täglich sah man den Grafen in Gesellschaft des liebenswürdigen Jünglings. Unterdeß rückte die Zeit immer näher, wo der Graf sich zum zweiten Mal vermählen sollte. Dieser Schritt nöthigte ihn, sich zuvor gerichtlich mit seinem Sohn auseinander zu setzen und laut testamentarischer Verfügung dessen Vermögen sicher zu stellen.

Er wußte nur zu gut, daß dies nicht möglich war, ohne seine Zahlungsunfähigkeit einzugestehen und einen öffentlichen Concurs herbeizuführen. Theils um seine Verschwendung fortzusetzen, theils um seine dringendsten Gläubiger zu befriedigen und seinen Credit aufrecht zu erhalten, hatte er sogar das Erbtheil seines Sohnes, dessen Verwaltung seinen Händen anvertraut war, angegriffen. Die Entdeckung eines derartigen Vergehens bei der bevorstehenden Rechnungsablage mußte ihn vollends zu Grunde richten und unausbleibliche Schande nach sich ziehen. Der verzweifelnde Mann sah keinen Ausweg aus diesem furchtbaren Labyrinth und verfiel widerstandslos den finstern Mächten der Hölle.

Eines Tages wurde ich plötzlich durch einen reitenden Boten nach dem Schloß des Grafen gerufen, wo sich ein großes Unglück ereignet hatte. Von dem bestürzten Diener erfuhr ich nun, daß der junge Graf bei einem Ritt auf das benachbarte Vorwerk in der Nähe eines Steinbruchs von seinem scheuen Pferde abgeworfen worden sei und sich eine lebensgefährliche Verwundung zugezogen habe. Bei meiner Ankunft fand ich das ganze Schloß in der höchsten Aufregung; der Graf empfing mich mit allen Zeichen der tiefsten Erschütterung und größten Besorgniß. Seine Wangen waren bleich, seine Stimme zitterte und sein ganzes Wesen verrieth eine unter diesen Umständen nur zu gerechtfertigte Verwirrung. Er selbst führte mich an das Bett seines leidenden Sohnes, den ich fast ohne Besinnung in Folge seiner schweren Verletzung fand. Bei der Untersuchung des Patienten wendete sich der Graf ab, als könnte er den Anblick des Unglücklichen nicht ertragen. Mit ängstlicher Spannung erwartete er meinen Ausspruch, der leider nicht allzu tröstlich lautete. Die schwere Verwundung am Hinterkopf, verbunden mit einer bedeutenden Gehirnerschütterung, gab nur wenig oder gar keine Hoffnung. Als ich den Grafen mit schonenden Worten auf die Gefahr aufmerksam machte, sah ich ihn wanken, so daß er sich an einem nahe stehenden Stuhle festhalten mußte, um nicht zu fallen.

„Also verloren, rettungslos verloren!“ murmelte er, während seine Zähne hörbar an einander schlugen.

„Leider kann ich mich nicht für die Wiederherstellung des Kranken verbürgen, obgleich ich noch nicht alle Hoffnung aufgeben möchte.“

„Und wird der Arme noch lang zu leiden haben?“ fragte der Graf mit einem tiefen Seufzer.

„Das kann ich nicht genau bestimmen, da sich der Umfang der stattgefundenen Gehirnerschütterung nicht so leicht feststellen läßt.“

„Glauben Sie, Herr Doctor, daß das Bewußtsein noch wiederkehren wird?“

„Die Möglichkeit ist nicht ausgeschlossen, wenn die Congestion gehoben werden kann.“

[307] „O! Das wäre schrecklich, entsetzlich!“ rief der Graf mit sichtlichem Schaudern.

Ich war nur zu geneigt, diese Fragen so wie das gestörte Wesen des Grafen seinem väterlichen Schmerze zuzuschreiben und fand in seinem Benehmen daher nichts Auffälliges. Nachdem ich meine Untersuchung des Patienten beendet hatte, forderte ich ihn auf, zur genaueren Aufklärung des Thatbestandes mir die näheren Umstände des Unfalls zu erzählen, da mir die Art und Weise der Verletzung manche räthselhafte Erscheinung bot und es mir darauf ankam, so speciell als möglich unterrichtet zu sein, ehe ich die nöthigen Verordnungen treffen wollte. Nach den Mittheilungen des Grafen war der Verwundete in Begleitung eines alten bewährten Reitknechts nach dem nahen Vorwerk geritten, um daselbst den neu erbauten Schafstall in Augenschein zu nehmen. Dicht vor dem Steinbruch scheute das Pferd vor einem großen Block, der zum Theil die Straße versperrte. Der junge Graf wollte das Thier zwingen über das Hinderniß zu setzen und gab ihm die Sporen und Peitsche zu kosten. Das sonst sanfte und gehorsame Thier bäumte sich und schleuderte den Reiter gegen einen Steinhaufen, wo ihn der schnell herbeieilende Diener bewußtlos fand und nur mit Mühe nach dem Schlosse zurückbrachte. Auf meinen Wunsch, den Reitknecht selbst zu sprechen, um einige nöthige Fragen an ihn zu richten, verfärbte sich der Graf und schien sichtlich verlegen.

„Sie werden schwerlich mehr erfahren, als ich Ihnen mitgetheilt habe. Der Mensch ist zwar treu wie Gold, aber im höchsten Grade bornirt und hat durch das Unglück vollends alle Besinnung verloren.“

„Es kommt mir hierbei auf die unbedeutendste Einzelheit an, und deshalb bitte ich Sie, den Reitknecht rufen zu lassen, damit ich ihn genauer examinire. Seine Aussagen können mir wichtige Fingerzeige über die Natur der Wunde und über die von mir einzuschlagende Behandlung liefern.“

Wie ich bemerken konnte, ergriff der Graf nur mit Widerstreben die silberne Glocke; worauf er dem hereintretenden Kammerdiener den Befehl ertheilte, den Reitknecht Jurek zu rufen. Nach einigem Zögern erschien der gewünschte Mann, dessen äußere Physiognomie allerdings das Urtheil des Grafen bestätigte und einen gewissen stupiden Ausdruck zeigte, wie er bei den unteren Ständen der slavischen Race nicht selten angetroffen wird. Die niedrige Stirn, umgeben von dem kurz geschnittenen blonden Haar, das platte Gesicht verrieth einen hohen Grad geistiger Beschränktheit, wogegen die grünlich schimmernden, schief geschlitzten Augen jene Verschmitztheit bekundeten, die sich mit einer mäßigen Bornirtheit ganz gut vertragen kann und gleichsam das Surrogat für die mangelnde Intelligenz abgiebt. Mit sclavischer Unterthänigkeit näherte er sich dem Grafen, dessen Rockzipfel er küssend an seine Lippen führte, während er mir einen mißtrauischen Blick zuwarf. Unwillkürlich erinnerte er mich an den Kettenhund, der die Hand seines Herrn mit Zärtlichkeit leckt, dagegen jedem Fremden die scharfen Zähne grimmig zeigt.

Nachdem der Graf ihn aufgefordert, mir die gewünschte Auskunft zu ertheilen, erzählte er den Vorgang in gleicher Weise mit überraschender Geläufigkeit, als sagte er eine auswendig gelernte Lection her. Um so stockender und mangelhafter beantwortete er die an ihn gerichteten Fragen über die näheren Details, womit ich seinen Redefluß unterbrach. Trotz aller Mühe konnte ich aus ihm nicht mehr herausbringen, als ich bereits durch den Grafen wußte; weshalb ich nach manchen vergeblichen Anstrengungen von allen weiteren Erkundigungen Abstand nahm, da mir die Beschränktheit des Reitknechts wirklich unbesiegbar schien. Das Wenige, was ich von ihm erfuhr, wurde ihm gleichsam tropfenweise und nur mit Hülfe des Grafen abgepreßt, der allein im Stande war, diese verstockte Maschine in Bewegung zu setzen, indem er wie ein Magnetiseur den Geist seines stupiden Dieners zu beherrschen und durch unsichtbare Zeichen zu leiten schien.

Unter diesen Umständen mußte ich mich mit diesen mangelhaften Resultaten begnügen und die nöthigen Anordnungen treffen, worauf ich das Schloß verließ, ohne dem bekümmerten Vater irgend eine Hoffnung auf die Rettung seines einzigen Sohnes geben zu können. Dringend ersuchte er mich, meinen Besuch zu wiederholen, indem er mir zu gleicher Zeit ein nach der Sitte jenes Landes übliches Honorar in die Hand drückte, das alle meine Erwartungen überstieg und wonach ich seine Liebe für den theueren Kranken zu bemessen glaubte. Als ich am nächsten Morgen meine Visite abstattete, fand ich den Patienten zwar bewußtlos, aber wider Erwarten noch am Leben; auch hatte sich die Congestion unter der fortdauernden Anwendung von Eisumschlägen und Blutentziehungen kaum merklich gebessert. Mehrere Wochen schwebte so der Kranke zwischen Leben und Tod, bis endlich seine jugendlich kräftige Constitution den Sieg davon trug und die Gefahr wie beseitigt schien, obgleich ein großer Schwächezustand ihn noch längere Zeit auf dem Lager gefesselt hielt. Während dieser Zeit zeigte der Graf die zärtlichste Besorgniß für seinen Sohn, indem er Tag und Nacht bei ihm wachte und ihn auch nicht einen Augenblick verließ. So oft ich kam, fand ich ihn in dem Krankenzimmer, wo er außer dem ihm treu ergebenen Reitknecht keinen Fremden duldete. Er selbst reichte dem Patienten die verordnete Medicin, machte ihm die nöthigen Umschläge und pflegte ihn mit einer Geduld und Ausdauer, wie sie sonst nur die liebevollste Mutter bei ähnlichen Gelegenheiten besitzt. Ich selbst bewunderte diese Hingebung und Opferfreudigkeit, die ich ihm am wenigsten zugetraut hatte, und beeilte mich, mein Urtheil über den mir früher so antipathischen Charakter im Stillen zu berichtigen.

Um so auffallender mußte mir selbst bei meinen flüchtigen Besuchen das Verhalten des in der Genesung begriffenen Sohnes gegen seinen Vater erscheinen. Sichtlich duldete der Erstere nur mit Scheu und Widerwillen die Gegenwart des Grafen, dessen Zärtlichkeit und Liebe keineswegs die verdiente Würdigung fand. Bei jeder Gelegenheit zeigte der junge Mann eine erhöhte Reizbarkeit, abwechselnd mit einer düsteren Melancholie, die ich jedoch auf Rechnung der schweren Verletzung und damit verbundenen nervösen Aufgeregtheit schrieb. Oefters überraschte ich ihn bei meinen Besuchen, wie er mit wahrhaft ängstlichen Blicken seinen Vater anstarrte, bei dem Tone seiner Stimme plötzlich zusammenfuhr und dann unerwartet sich seine Augen mit Thränen füllten, die er vor mir zu verbergen suchte. Der Graf sprach mit mir über diese räthselhafte Erscheinung, welche ihn von Neuem besorgt machte. Er sprach bei dieser Gelegenheit wiederholt die Befürchtung aus, daß die bedeutende Gehirnerschütterung wohl eine geistige Störung des Patienten zurückgelassen haben könnte, worüber ich ihn jedoch nach meiner besseren Ueberzeugung zu beruhigen suchte.

Natürlich hatte der traurige Vorfall in der ganzen Umgegend Aufsehen erregt und eine große Theilnahme gefunden. Man interessirte sich lebhaft für das Schicksal des Verunglückten, der wegen seiner Liebenswürdigkeit und Bescheidenheit zahlreiche Freunde gefunden hatte, während der Graf nichts weniger als beliebt war. Boshafte Zungen behaupteten sogar, wenn auch anfänglich nur leise und mit Vorsicht, daß ihm der Tod seines Sohnes erwünscht gewesen wäre, da er als nächster Erbe desselben mit einem Male allen seinen bekannten Verwirrungen und Zerrüttungen seines Vermögens überhoben worden wäre. Merkwürdiger Weise fanden diese Verleumdungen immer mehr Glauben und gestalteten sich mit der Zeit zu der furchtbaren Beschuldigung: daß der eigene Vater den Mord des Sohnes veranlaßt habe.

Bald nahmen diese nur vagen Gerüchte eine festere Gestalt an, als sich ein Zeuge in der Person eines Arbeiters fand, der sich in dem Steinbruch beim Suchen eines verlorenen Hammers verspätet hatte und unwillkürlicher Zuschauer eines entsetzlichen Verbrechens geworden war. Nachdem dieser Wochen lang aus Furcht und Respect vor dem angesehenen und mächtigen Grafen geschwiegen hatte, trat er jetzt plötzlich öffentlich mit einer Anklage hervor, die zur Ehre der Menschheit kaum glaubhaft schien. Nach der Aussage des Mannes war der junge Herr in der Nähe des Steinbruches von dem Reitknecht des Grafen überfallen, mit Gewalt vom Pferde gerissen und gegen die am Wege liegenden Felsblöcke absichtlich geschleudert worden, während der Graf selbst in einiger Entfernung der Ausführung des von ihm wahrscheinlich veranlaßten Verbrechens beiwohnte. Diese furchtbare Beschuldigung wurde noch durch eine Reihe mir leider jetzt entfallener Nebenumstände, vor Allem aber durch seine bekannte pecuniäre Lage und das Interesse am Tode seines Sohnes so wesentlich unterstützt, daß sich die Staatsanwaltschaft veranlaßt, sah die Untersuchung gegen den Reitknecht wegen beabsichtigten Mordes und gegen den Grafen wegen intellectueller Urheberschaft desselben Verbrechens einzuleiten.

[308] Im Laufe des Processes wurde das Hauptgewicht auf die Aussage des unglücklichen Sohnes gelegt, der deshalb vom Gericht als Zeuge vernommen werden mußte. Derselbe war bereits so weit genesen, um ohne Gefahr die nöthige Auskunft ertheilen zu können, obgleich ich in meinem Gutachten seine nervöse Reizbarkeit und die damit verbundene geistige Aufregung pflichtgemäß hervorhob. Er selbst berief sich auf das verwandtschaftliche Verhältniß zu seinem Vater und bat, deshalb von seiner Vernehmung abzustehen. Das Gericht billigte vollkommen diese Gründe, forderte aber sein Zeugniß gegen den Reitknecht, das er auch nicht länger verweigern konnte, obgleich die Schuld des Letzteren nothwendiger Weise die Verurtheilung des Grafen herbeiführen mußte.

An dem Tage, wo die öffentliche Gerichtsverhandlung stattfand, war der Andrang des Publicums so stark, daß der Zuschauerraum die herbeigeströmte Menge nicht zu fassen vermochte. Die Seltenheit des Falles, die Größe und Unnatürlichkeit des Verbrechens, die hervorragende Stellung und die bekannte Persönlichkeit des Angeschuldigten mußten das größte Interesse erregen und die höchste Spannung hervorrufen. Als die Angeklagten hereingeführt wurden und auf der Sünderbank ihren Platz nahmen, herrschte in dem weiten Saale eine Todtenstille. Alle Augen waren auf den Grafen gerichtet, der einfach, aber elegant gekleidet, nur etwas bleicher als gewöhnlich erschien, doch sonst seine vornehme, ruhige Haltung bewahrte. Das immer noch schöne Gesicht des wohl conservirten Mannes verrieth auch nicht die geringste Bewegung, nur als er unter den anwesenden Zeugen seinen Sohn erblickte, glaubte ich ein leichtes nervöses Zucken seiner Muskeln zu beobachten. Beide wechselten einen Blick, der wie ein Blitz den Abgrund zweier Seelen beleuchtete, aber eben so schnell vorüberfuhr, worauf ein Lächeln der Befriedigung um die fein geschnittenen Lippen des Grafen schwebte. Neben seinem aristokratischen Herrn saß der plumpe Reitknecht mit stumpfen, gleichgültigen Zügen, die sich neu belebten, wenn das Auge des Grafen auf ihn fiel, oder dessen Stimme zu ihm klang, so daß er gleichsam unter dem magnetischen Zauber seines Gebieters zu stehen schien. Nachdem die beiden Angeklagten gehört worden waren, schritt der Präsident zur Vernehmung der vorgeladenen Zeugen. Zuerst legte der Steinarbeiter seine Aussagen ab, die nichts wesentlich Neues enthielten und von ihm beschworen wurden. Hierauf wurde der junge Graf aufgefordert, der Wahrheit gemäß den Vorgang zu erzählen. Seine Erscheinung steigerte die schon vorhandene Spannung auf das Höchste und erfüllte die Seele der Zuschauer mit banger Erwartung. Mit sichtlicher Anstrengung erhob sich der junge Mann von seinem Sitz, um die geforderte Auskunft zu ertheilen. Leichenblässe überzog das interessante, sanfte Antlitz und ein nervöses Zittern flog durch seine Glieder. Mit niedergeschlagenen Augen und leiser, von Seufzern unterbrochener Stimme beantwortete er die an ihn gerichteten Fragen. Während er sprach, wagte kaum ein Mensch zu athmen, um nicht ein Wort seiner so wichtigen Aussage zu verlieren.

Nach und nach jedoch schwand seine anfängliche Aufregung und mit fester, wenn auch tonloser Stimme erzählte er den Vorgang in einer Weise, welche den Reitknecht seines Vaters von aller Schuld freisprach, indem er wiederholt versicherte, von seinem scheuen Pferde herabgeworfen worden zu sein, so daß kein Dritter ihn beschädigt habe. Vergebens machte ihn der Präsident auf die Widersprüche seiner Angaben mit den Aussagen der übrigen Zeugen aufmerksam und ermahnte ihn zur Wahrheit, da er seine Worte beschwören müsse. Er blieb bei seiner Behauptung stehen und ließ sich durch nichts davon abbringen. Nur als der Gerichtshof sich zurückzog, um die Zulässigkeit seiner Vereidigung zu berathen, kehrte die frühere nervöse Unruhe zurück, doch ein Blick auf seinen angeklagten Vater gab ihm bald die nöthige Fassung wieder. Mit festen Schritten trat er auf Befehl des Präsidenten an den Tisch, auf dem ein gußeisernes Crucifix stand, um den ihm zuerkannten Zeugeneid zu leisten. Noch einmal machte ihn der Vorsitzende pflichtgemäß auf die Wichtigkeit eines solchen Schrittes aufmerksam und drohte ihm mit den zeitlichen und ewigen Strafen des Meineides. Einen Augenblick schien der junge Mann tief erschüttert zu zögern und einen innern Kampf zu kämpfen, dessen Ausgang die Versammlung und vor Allen der Angeklagte mit banger Spannung erwartete, da von seinen Worten der Ausgang der ganzen Verhandlung, die Ehre und das Glück seines Vaters abhing. Es war ein wahrhaft aufregender Moment und die kurze Pause dünkte Allen gewiß eine Ewigkeit. Der Graf sah auf seinen Sohn und das krampfhafte Zittern seiner Hände verrieth mir seine tiefe Bewegung. Mit einem schmerzlichen Blick auf seinen Vater sprach dieser mechanisch die bekannte Schwurformel mit erhobenen Fingern dem Präsidenten nach, während eine lange, feierliche Stille in dem Saale herrschte. Erst als der junge Graf auf seinen Sitz zurückkehrte, sah ich ihn wanken und fast zusammenbrechen, wobei sein Gesicht sich mit wahrer Todtenblässe überzog, so daß ich einen Sterbenden zu erblicken glaubte. Aber auch dieser Anfall[WS 1] einer erklärlichen Anwandlung von nervöser Schwäche ging so schnell vorüber, daß ihn außer mir wohl keiner der Anwesenden bemerkt hatte.

Unterdeß nahmen die Verhandlungen ohne weitere Störung ihren Verlauf, noch andere Zeugen wurden vernommen, deren Aussagen die zerrütteten Vermögensverhältnisse des angeklagten Grafen bekundeten und über seinen Charakter und seine Lebensweise ein keineswegs günstiges Licht verbreiteten. Auch mein ärztliches Gutachten wurde gefordert und meine Ansicht über die Natur der Wunde gehört. Ich gab mein objectives Urtheil ab, verschwieg aber keineswegs die mir aufgestoßenen Bedenken über die räthselhafte Verletzung, welche allerdings den Verdacht eines Verbrechens nicht ausschloß. Nach Beendigung des Verhörs ergriff der Staatsanwalt das Wort und hielt die Anklage sowohl gegen den Grafen wie gegen den Reitknecht aufrecht, indem er mit bewunderungswürdigem Scharfsinn die Schuld Beider trotz der beschworenen Aussage des entlastenden Hauptzeugen darthat. Mit Recht betonte der Redner die nahe verwandtschaftliche Stellung des Sohnes zu seinem Vater und die dadurch verminderte Glaubwürdigkeit seiner Aussagen, wogegen er das Interesse des Grafen an dem Tode des jungen Mannes unwiderleglich folgerte und dessen intellectuelle Urheberschaft an dem beabsichtigten Morde durch eine Kette eng mit einander verbundener Indicien und Thatsachen begründete. Dagegen suchte die nicht minder geistvolle Vertheidigung den Eindruck dieser Worte zu schwächen und die Beweise zu entkräften, indem sie sich auf das in der That bestehende liebevolle Verhältniß des Grafen zu seinem Sohne, so wie auf das gewichtige Zeugniß des Letzteren stützte, dessen volle Gültigkeit dem ihm fremden Reitknecht gegenüber nicht bezweifelt werden könnte, ohne einen Meineid vorauszusetzen. Während dieser ganzen Verhandlung beobachtete der Graf eine merkwürdige Ruhe, als wenn es sich um die Angelegenheit eines Dritten handelte. Er verzog keine Miene und schien auch nicht einen Augenblick seine Freisprechung zu bezweifeln.

Nachdem der Vorsitzende noch einmal eine kurze lichtvolle Zusammenstellung der Verhandlungen gegeben und die Fragstellung festgesetzt worden war, zogen sich die Geschworenen zurück, um ihren Wahrspruch zu fällen. Die Berathung dauerte längere Zeit; ein Beweis, daß die Meinungen über den Fall getheilt waren. Endlich öffnete sich die Thür, das Gericht nahm wieder die verlassenen Plätze ein und das laute Getöse der Versammlung verstummte, der würdige Obmann der Geschworenen verkündigte mit bewegter Stimme das Urtheil, welches für beide Angeklagte auf „Schuldig“ lautete. In demselben Augenblick ertönte ein herzzerreißender Schrei; nicht der verurtheilte Graf, sondern sein armer Sohn hatte ihn ausgestoßen und wurde ohnmächtig fortgetragen, während der entehrte Vater in sein Gefängniß wankte, wo man ihn am nächsten Tage als Leiche an den Gitterstäben seines Fensters hängen fand.

Zwar gelang es mir, den unglücklichen jungen Mann, der in Folge der unausbleiblichen Erschütterung in ein Nervenfieber verfiel, am Leben zu erhalten, aber sein Geist war so gestört, daß er in einer bekannten Irrenanstalt untergebracht werden mußte. Aus seinen verwirrten Reden konnte ich mit Gewißheit entnehmen, daß er, um seinen Vater zu retten, einen falschen Eid geschworen hatte. Durch die Bemühungen des ausgezeichneten Irrenarztes wurde er mit der Zeit wiederhergestellt, aber eine tiefe Schwermuth begleitete ihn durch das fernere Leben. Wie ich später erfuhr, hat er seine Güter verkauft und den Ertrag derselben einer frommen Stiftung überwiesen. Er selbst soll in einem französischen Kloster die ersehnte Ruhe und Versöhnung mit seinem Gewissen gefunden haben, das er mit dem, wenn auch hier verzeihlichen, Verbrechen des Meineides belastet hatte.

Max Ring.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Unfall