Urwaldspuk
[548] Urwaldspuk. (Zu dem Bilde S. 545.) Wie mancher, der sich frei von Aberglauben weiß und ein mutiges Herz in der Brust hat, wird nicht auch heute noch von unheimlichem Schauer ergriffen, wenn er sich in einem pfadlosen dichten Walde verirrt hat und in dessen Finsternis, über Baumwurzeln stolpernd, von den geheimnisvollen Stimmen des Waldes geneckt und gehöhnt, von täuschenden Lichteffekten irregeführt, den Ausweg sucht. Kein Wunder, daß in der Vorzeit, als noch weite Gebiete deutschen Bodens von Urwald bedeckt waren und finsterer Aberglaube die Gemüter in Bann hielt, die Phantasie unserer Vorfahren den Wald mit unheimlichen Wesen, Gnomen, Zwergen, Alräunchen und Schrateln bevölkert hat, die darauf ausgingen, die Menschen irre zu führen, zu Fall zu bringen und zu verhöhnen. Unsere Sagenwelt ist reich an Ueberlieferungen dieser Art, und noch in unseren Tagen ist so manche besonders unheimliche Waldgegend verrufen, weil ein ganz bestimmter Kobold darin sein bedrohliches Wesen treibt. Durch Scheffels „Trompeter von Säkkingen“ ist als solch boshafter Waldgeist neuerdings zu besonderer Berühmtheit der „Meisenhart Joggi“ gelangt, der in den entlegenen Revieren des Hauensteiner Schwarzwalds nach dem Glauben der Anwohner der Urheber alles Unheils ist, das ihnen im Wald widerfährt. Mit vielem Humor hat Scheffel in seinen Reisebildern aus dem Hauensteiner Schwarzwald über diesen Kumpan geplaudert, „dessen amtliche Stellung im Geisterreich darin besteht, heimkehrende Biedermänner irre zu führen oder sonst durch mannigfachen Schabernack auf die Verwirrung ihrer Begriffe hinzuarbeiten.“ Hebel aber, als aufgeklärter Rationalist und genauer Kenner der vom Meisenhart Joggi heimgesuchten Bauernschädel, bat für den Ursprung dieser Art Gespensterseherei in seinem „Geisterbesuch auf dem Feldberg“ die rechte Erklärung gegeben: aus dem Weine stamme der irreführende Kobold. Ohne solche rationalistische Skepsis, vielmehr mit echt Scheffelschem Humor hat sich A. Schmidhammer in seinem Bilde „Urwaldspuk“ des Themas bemächtigt. Nichts Böses ahnend ist da ein harmloser Spielmann des Weges gekommen, und die über den Pfad sich schlängelnden Baumwurzeln haben ihn nicht gehindert, sich im Wandern mit sinnigem Flötenspiel die Zeit zu vertreiben. Dieses süße Getön ist offenbar gar nicht nach dem Geschmack des dort ansässigen Waldgnoms gewesen. Behend hat er sich auf einen starken Eichenast geschwungen, unter welchem der Weg des Spielmannes hinführt. Und gerade als der in schönen Weisen schwelgende Flötenbläser unter ihm angelangt ist, schlägt der Kobold ein schauriges Hohngelächter auf, so daß der Wanderer erschrocken innehält und entsetzt zu dem Ast emporblickt, von wo ihm das schadenfrohe Gesicht des Gnomen höhnisch entgegengrinst.