Ursprung und erste Gestalt des Epigramms

Textdaten
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Autor: Johann Gottfried Herder
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Titel: Ursprung und erste Gestalt des Epigramms
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aus: Zerstreute Blätter (Zweite Sammlung) S. 113-124
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Erscheinungsdatum: 1786
Verlag: Carl Wilhelm Ettinger
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Erscheinungsort: Gotha
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[113]
2. Ursprung und erste Gestalt des Epigramms.


Wenn wir der Geschichte nachgehen und das Epigramm als Aufschrift bis zu seinem Ursprunge verfolgen, wie erscheints in diesem Ursprunge? Rein historisch. Die Alten, d. i. Griechen und Römer schmückten ihre Gebäude und Denkmale, ja selbst ihre Waffen, Tafeln, Gefäße und Hausrath mit Inschriften; die Inschrift bemerkte aber nichts, als etwa wer diesen Tempel, wer dies Denkmal errichtet habe? wem und worzu es errichtet sei? u. f., also lauter Dinge, die der Gegenstand durch seine natürlichen Zeichen selbst nicht sagen konnte. Dies war der Natur der Sache gemäß: denn sobald jener rohe Mahler ein Schaaf känntlich zu zeichnen wußte, so durfte er nicht mehr hinzuschreiben, daß es ein Schaaf sei; wollte er aber noch einen Nebenzweck erreichen, z. B. seinen Namen verewigen oder den Zweck angeben, wozu er sein [114] Gemählde aufgestellt habe; so bedurfte es freilich dazu einiger beigeschriebenen Worte. Historische Aufschriften dieser Art hat man eine unzählige Menge: [1] Nachrichten von ihnen reichen nicht nur in die ältesten Zeiten, in denen man Buchstaben kannte; sondern der älteste Gebrauch der Buchstaben selbst war Epigramm d. i. eine Auf- oder Denkschrift für zukünftige Zeiten. Man schrieb sie auf Stein, Metall, Holz, Waffen, Geräthe u. f. und die Alten nannten solche Aufschriften, der Bedeutung des Worts nach, wirklich Epigramme, wie Petron sogar das [115] Brandmal auf der Stirn des entlaufnen Knechts ein Epigramma nannte. Jedermann siehet aber, daß Epigramme dieser Art des Epigramm, wovon wir reden, nur noch in seiner rohesten Gestalt enthalten; daher man jene lieber mit einem eignen Namen (επιγραφαι τιτλοι) Bei- In- Auf- Ueberschriften benennen und dem Epigramm diesen Namen nicht geben sollte.

Indessen ists unläugbar, daß jene Epigraphen nicht nur Vorgänger, sondern auch wirkliche Vorbilder der ältesten poetischen Epigramme wurden: denn auch diese enthielten zuförderst nur historische Umstände, die das Denkmal selbst in seiner stummen Sprache nicht sagen konnte. a)[2] Bald aber ward die Poesie auch hier ihres Vorzugs inne. Indem sie den Gegenstand [116] oder denjenigen, der ihn gesetzt hatte, nur mit einiger Empfindung nannte: so entstand unvermerkt hieraus eine schönere Exposition, die der Grund und gleichsam die Urform des griechischen Epigramms ist, ob sie gleich lange mit aller historischen Einfalt vorgetragen wurde. So sind die kleinen Epigramme, die man einer Sappho und Erinna, einer Myro, Noßis und Anyte, oder dem Anakreon, Simonides und andern alten Epigrammatisten zuschreibt: meistens nichts als eine simple Exposition des Gegenstandes. Den griechischen Grabschriften, den Weihgeschenken an die Götter, ja allen andern Gelegenheiten, wo das Denkmal selbst gleichsam zu reden hatte, blieb diese Form noch bis auf späte Zeiten eigen, so daß ich das Epigramm, das eine bloße Exposition enthält, die Urform des griechischen Epigramms zu nennen wage. Ueber Geschmack und Gefühl läßt sich nicht streiten; ich bekenne aber, daß manche dieser simpeln Expositionen für mich viel mehr Hohes, Ruhrendes und Reizendes [117] haben, als die geschraubte epigrammatische Spitzfündigkeit späterer Zeiten. Dort sprechen Sachen statt der Worte; die Worte sind nur da, jene vorzuzeigen und mit dem Siegel einer stummen Empfindung, wie mit dem Finger der Andacht oder der Liebe zu bezeichnen.

Beispiele werden auch hier das Beste thun und die Anthologie ist voll derselben. Wenn Sappho einem armen Fischer die Grabschrift setzt: a)[3]

„Dem Fischer Pelagon hat hier sein Vater
Meniskus Ruder und Reisig hingesetzt, ein
Denkmal seines mühseligen Lebens.“

welches sinnreichern Schlusses bedürfte das Epigramm weiter? Das arme Denkmal auf dem Grabe spricht statt aller Worte, so daß die Zunge der Dichterin nur eine Dollmetscherin dessen seyn darf, was das Symbol selbst zum Gedächtniß des Todten und seines mühseligen Lebens und der Empfindungen seines ihn überlebenden armen [118] Vaters sagen wollte. – Wenn eben diese Sappho einer verstorbnen Braut die Grabschrift setzt: b)[4]

„Dies ist der Timas Asche. Vor der Hochzeit gestorben,
ging sie ins dunkle Brautbett der Proserpina hinunter.
Alle Mädchen von gleichem Alter schnitten, da sie todt war,
sich die liebliche Locke des Hauptes ab mit neugeschliffenem Stahl.“

so wird, dünkt mich, das Grab der Braut durch diese simple Exposition mehr gefeiret, als durch lange Lobsprüche von Sentenzen. Das Brautbett der Jungfrau hat sich eben vor ihrer Hochzeitfreude ins dunkle Bett der Proserpina verwandelt; d. i. sie ward wie jene die Braut des Orkus. Alle ihre Gespielinnen fühlen das Traurige dieses Falles und weihn voll mitleidigen Schreckens ihrer todten Freundin den Schmuck ihrer jungfäulichen Jugend. Statt sich zu ihrem Feste zu krönen, liegt jetzt die Locke auf ihrem [119] Grabe. – Jeder kennet die Grabschrift des edlen Simonides auf die bei Thermopyle erschlagenen Spartaner: c)[5]

„Geh o Wandrer und sag’s den Lacedämoniern,
daß ihren Gesetzen gehorchend wir hier liegen.“

und welch ein scharfsinniger Schluß, welch ein ausschmückendes Beiwort könnte hinzugesetzt werden, das nicht sogleich die einsylbige spartanische Heldenbotschaft entnervte? Cicero in seiner Uebersetzung fügt nur die heiligen Gesetze des Vaterlandes hinzu und der rauhe Spartaner spricht sogleich weicher. So sind die Epigramme, die Geschenke an die Götter begleiten; meistens simple Darstellungen dessen, was man dem Gott weiht, etwa mit einer Ursache, warum man’s ihm weihte oder mit einem Wort das Danks, des Wunsches, der Bitte, der Freude, und war dies nicht alles, was der Sterbliche dem Unsterblichen sagen konnte?

[120]

„Diesen krummen Bogen und diesen Köcher
hängt Promachus dem Phöbus zum Geschenk auf;
des Köchers Pfeile flogen in der Schlacht umher und
trafen die Herzen der Krieger, ihnen ein bittres Geschenk.“


„Dem Glaukus und Mereus, der Ino und dem
Melicertes, dem Zevs der Fluthen und den Samothracischen
Göttern weihet Lucilius, im Meer gerettet, sein Haupthaar
hier. Weiteres hat er nichts mehr.“


„Diese jugendlich-blühende Locke seines Haupts
und dies Milchhaar, den Zeugen kommender männlicher
Jahre weiht Lykon dem Phöbus; sein erstes Geschenk.
Möge er ihm auch einst sein graues Haar so weihen.“

Was fehlt diesen Zuschriften an Kürze, Würde und rührender Einfalt? Wem sie mit ihrer simpeln Exposition nichts sagen; was werden sie ihm durch vieles Wortgepränge zu sagen vermögen?

[121] Indem ich also diese erste Form des griechischen Epigramms, die nur Exposition ist, für die Grundform der ganzen Gattung halte; so wünschte ich, daß wir noch viele der schönsten Epigramme dieser Art machen könnten oder machen wollten. Sie setzen nämlich rührende Denkmale, merkwürdige Personen, Geschichten und Sachen voraus, denen man nur Sprache geben darf und sie werden dem Geist oder dem Herzen vernehmlich. Die Exposition derselben darf nur rein und klar, natürlich und menschlich gefühlt seyn, so wird sie, selbst in Prose, eine Poesie für alle Gemüther.

Auch dünkt mich ists gerade diese Gattung, die sich, ihrer natürlichen Form nach, dem Dichter von selbst aufdringt, ja die ihn sogar abhält, eine künstlichere zu erwählen: denn wenn er von der Empfindung einer Geschichte, wenn er vom Leben oder der Anmuth und Würde einer Person und Sache durchdrungen ist, was wird, was kann er thun, als uns diesen Gegenstand mit seiner Leidenschaft – vorführen und schweigen. [122] Der wahre Affect ist allemal stumm; er verschmäht die Worte, weil er fühlt, daß diese doch alle unter der Fülle seiner Empfindung bleiben und spricht lieber durch Sachen und Thaten. Es thut uns daher wehe, wenn in manchen Sinngedichten einiger Neuern gerade die Gegenstände, die nur vorgezeigt werden dürften, damit sie durch eine ihnen einwohnende Erhabenheit und Würde rühren, mit Worten gleichsam erniedrigt und vernichtiget werden; denn der Eindruck, den sie durch sich selbst machen könnten, gehet damit halb oder ganz verlohren. Man lese z. B. in unserm Wernike, den ich übrigens wegen seines Scharfsinns und poetischen Fleißes sehr hochschätze, den größten Theil seiner Ueberschriften über Gegenstände der alten Geschichte; wer irgend in Grichen und Römern selbst diese erhabenen Bilder kennen gelernt und bewundert hat, wird er die gezwungene Art, mit der sie hier aufgeführt werden, lieben? Welche undeutliche Exposition! welche überladne Anwendung! Der edle Römer kriecht unter einer [123] Bürde scharfsinniger Antithesen wie ein Gefangener einher und je blendender der Raub ist, mit dem ihn der Dichter beschwerte, desto mehr wird er selbst unter diesem drückenden Gepäck gleichsam unsichtbar. Es war nicht unsers fleißigen Dichters sondern seiner Zeit Fehler: denn man weiß, wohin durch einen falschen Geschmack im vorigen und im Anfange unsres Jahrhunderts die epigrammatische Kunst gesetzt wurde. Glücklicher Weise hat der Strom der Zeit auch hier vielen Schlamm abgesetzt und dadurch seine Welle geläutert. Die scharfsinnigsten ältern Epigrammatisten unsrer Sprache sind beinah vergessen oder für uns schwer zu lesen; gerade nur die, die in der klaren leichten Exposition dem griechischen Geschmack nahe sind, Opitz und Logau sind und zwar in eben den Stücken am gefälligsten, in denen sie sich der griechischen Einfalt nähern. Auch die schönsten Sinngedichte Kleist, Ewalds, Gleims, Kästners, Leßings sind von dieser Art. Sobald ihr Gegenstand in Einfalt vortreten und gleichsam durch [124] sich selbst wirken konnte, ließen sie ihn wirken und waren entfernt, seinen reinen Stral durch ihr Prisma in ein unkräftiges Farbenspiel aufzulösen. Wenn Kleist z. B. seine Aria vorführt: so thut er zu ihrem edelen Worte kein Wort hinzu:

– Mit heiterm Angesicht
gab sie den Dolch dem Mann und sprach: „es schmerzet nicht.“

denn was ließe sich hinter diesem Wort der Aria sagen? Wenn Gleim seine Niobe als ein Vorbild hoher Mäßigung aufführt, leitet er zwar durch eine edle Anwendung ein, schließt aber ganz einfach:

– Sieh ihre stillen Leiden,
sie duldet, aber weinet nicht.

So jenes Kästnersche Senngedicht auf Gustav Adolph:

Und thränend rächete den Märterer der Sieg. Für mich haben gerade diese Gedichte, die nichts als Exposition sind, in ihrer ungeschminkten Schönheit die größesten Reize.


  1. a) Außer denen, die die alten Schriftsteller selbst, z. E. Pausanias, Strabo u. a. anführen, s. das Verzeichniß ihrer Sammlungen in Christs Abhandlung über die Literatur und Kunstwerke des Alterthums. Leipz. 1776 Abschn. 3. – Mafei ars critica lapidaria Luc. 1765. sollte eine kritische Geschichte derselben werden, ist aber, auch nicht als opus posthumum betrachtet, ein äußerst unvollkommener Anfang; so daß uns ein Werk dieser Art noch ganz fehlt.
  2. a) Die ältesten nicht erdichteten Vorbilder des historisch-poetischen Epigramms sind wohl die, die Heraklides Ponticus aus Homer selbst angeführt; de vita Homeri p. 401. in Gale opuse. mythol.
  3. a) Brunk analect. T. I. p. 55.
  4. b) ib.
  5. c) ib. p. 131.