Anmerkungen über das griechische Epigramm

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Autor: Johann Gottfried Herder
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Titel: Anmerkungen über das griechische Epigramm
Untertitel: Zweiter Theil der Abhandlung
aus: Zerstreute Blätter (Zweite Sammlung) S. 103–112
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Erscheinungsdatum: 1786
Verlag: Carl Wilhelm Ettinger
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Erscheinungsort: Gotha
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[103]
II.
Anmerkungen
über
das griechische Epigramm.
––––––
Zweiter Theil der Abhandlung.
–––
[105]
1. Einleitung.


Als Leßing seine Sinngedichte neu herausgab, [1] begleitete er sie mit zerstreuten Anmerkungen über das Epigramm und einige der vornehmsten Epigrammatisten, unter denen die griechische Anthologie den letzten Platz einnimmt. Er geht in dieser Abhandlung, wie auch Vavaßor und andre vor ihm gethan hatten, [2] vom wirklichen Denkmal und seiner [106] Aufschrift aus, welche letzte er als einen Aufschluß zu jenem betrachtet. Hieraus entwickelt er die beiden nothwendigen Theile des Epigramms, die einige seiner Vorgänger zwar bemerkt, aber nicht scharf genug unterschieden hatten und nennt sie Erwartung und Aufschluß. Mit philosophischem Scharfsinn setzt er beide ins Licht und zeigt insonderheit die Fehler dieser Art von Gedichten, sobald ihnen das eine oder das andre Stück mangelt. Seine Abhandlung verräth auf allen Blättern den feinen Geist, der ihn auch bei der kleinsten Materie nicht verließ und über die einzelnen Dichter sind gelehrte Amerkungen eingestreuet, die auf manche weitere nützliche Untersuchung führen. Indessen wirds vielleicht mehreren



Franc. Vavassor de epigrammate liber. 12. Paris. 1669. 1672. und in seinen Opp. Fol. Amst. 1709. p. 85. Es ist also sonderbar, daß Vavaßor Cap. 2. seiner Abhandlung sagen konnte: es habe vor ihm, außer den Schriftstellern über die Poetik überhaupt, noch niemand besonders vom Epigramm geschrieben.

[107] Lesern wie mir gegangen seyn, daß sie nemlich diese Entwicklung des Epigramms nicht so umfassend und genetisch gefunden haben, als manche andere vortrefliche Theorieen dieses philosophischen Dichters.

Denn zuerst: wenn Leßing das Epigramm für ein Gedicht erklärt, in welchem „nach Art der eigentlichen Aufschrift“ unsre Aufmerksamkeit erregt, gehalten und befriedigt werden soll und er die Worte nach Art der Aufschrift dahin erläutert, daß wie bei der wirklichen Inscription das Denkmal selbst Aufmerksamkeit gebietet und die Aufschrift diese erregte Neugierde nur befriedigt: so müßte, dünkt mich, in der Erklärung des künstlichen Epigramms, das beide Theile, Erwartung und Aufschluß vereinen soll, auch des Denkmals selbst Erwähnung geschehen. Mithin hieße es, dieser Theorie zu Folge: nach Art des Denkmals und seiner Aufschrift.

Aber warum nach Art der Aufschrift? Sind manche, zumal die ältesten Epigramme [108] nicht wirkliche Aufschriften gewesen? sind nicht viele der schönsten in der Anthologie als Aufschriften gedacht und verfertigt worden? Gleichviel ob sie auf Gräbern und Bildsäulen, auf Bädern und Tempeln wirklich standen oder nicht standen; wurden sie als Inscriptionen erfunden: so blieben sie solche auch in der Schreibtafel des Dichters.

Zweitens. Das Epigramm soll wie ein Denkmal Aufmerksamkeit erregen und wie die Aufschrift desselben diese erregte Erwartung befriedigen; von welcher Art ist aber die Aufmerksamkeit, die ein Denkmal erregt und seine Aufschrift befriedigt? Es wäre übel, wenn dies bloße Neugierde seyn sollte: denn diese Neugierde, die flüchtigste und flachste aller Bewegungen unsrer Seele wird oft durch ein Nichts gereizt und durch ein Nichts befriedigt. Jedes edlere Denkmal, jedes Kunstwerk insonderheit, will auf tiefere, schönere Empfindungen wirken und warum sollte das Epigramm, das dieser Theorie zufolge, dem Denkmal nachbuhlet, sich also mit [109] jenem Flüchtlinge, der Neugierde begnügen? Die schönsten Gedichte Martials, Catulls, der griechischen Anthologie und der neuern Epigrammatisten setzen sich oft ein edleres Ziel; mithin werden die Worte Erwartung und Aufschluß, die sich über dem nicht völlig entsprechen, auch in solche verwandelt werden müssen, die mehrere Empfindungen in sich fassen und ihre Befriedigung ausdrücken. Oder das Epigramm würde zu einem ermüdenden Spiel, zu einer verfliegenden Seifenblase.

Und welches wären etwa diese mehrfassenden Worte? Mich dünkt, auch wenn ich diese Theorie annehme, keine andere, als Darstellung (Exposition) und Befriedigung. [3] Das Denkmal selbst würde uns vorgeführt, es wirkte [110] auf alle Empfindungen, auf die es seiner Natur nach wirken konnte, bis es den Umfang derselben erfüllet hätte und dies wäre das Ziel der Aufschrift. Ueberdem sind Erwartung und Aufschluß dem Epigramm nicht ausschließend eigen; sie müssen bei einem jeden Werk, das die menschliche Seele unterhalten soll, statt finden. Wehe der Epopee, dem Drama, ja selbst wehe der Geschichte, der philosophischen Abhandlung, sogar dem mathematischen Lehrsatz, der keine Erwartung zu erregen weiß oder diese nicht durch einen völligen Aufschluß befriedigt! Wehe aber auch einem jeden Werk der Kunst und Dichtkunst, oder des Unterrichts und der Lehre, das nur Erwartung erregen und in ihr die Neugierde befriedigen wollte: denn überall müssen diese Empfindungen nur Ingredientien seyn und bleiben. Sie sind das weiche, lockere Band, das bald länger bald kürzer gehalten, das mehr oder minder angestrengt, sowohl die Theile des Werks, als unsre Empfindungen zwar verbindet, nicht aber sie ausmacht.

[111] Endlich. Warum müßte es blos ein Denkmal seyn, das mit seiner Inschrift zusammengenommen, die natürlichen Theile des Epigramms gäbe? Mich dünkt, ein Denkmal, zumal der Kunst, spreche am vollkommensten durch sich selbst und bedürfe keiner Inschrift als einer nothwendigen Hälfte seiner Hauptwirkung. Der Künstler, der eine Bildsäule, einen Tempel, ein Schild dahin stellt, redet durch diese in natürlichen Zeichen und er hätte seine beste Wirkung verfehlt, wenn diese Zeichen nicht schon durch sich befriedigend auf den lebendigen Menschen genugthuend wirkten. Was die Schrift dem Kunstdenkmal hinzuthun kann, gehöret nicht eigentlich zur Kunst, die durch sich spricht und in willkührlichen Zeichen der Rede sehr unvollkommen dargestellt würde. Meistens ists also nur ein historischer Umstand, der zwar zum äußern, nicht aber eigentlich zum innern Verständniß des Denkmals gehöret, indem er sein Wesen nicht aufschließt, sondern nur seine Geschichte erläutert. Kurz, warum wollen wir des Denkmals erwähnen, [112] da jeder Gegenstand in der Welt, lebendig oder todt, gegenwärtig oder abwesend, ein Werk der Kunst oder der Natur, mir angenehm oder widrig, ein Object der Inschrift werden kann, sobald ich mir solchen als gegenwärtig denke und ihn für mich oder für andre bezeichne. Als Aufschrift betrachtet, wird also das Epigramm nichts als die poetische Exposition eines gegenwärtigen oder als gegenwärtig gedachten Gegenstand zu irgend einem genommenen Ziel der Lehre oder der Empfindung.

O daß Leßing lebte! Er sollte der Erste seyn, der diesen Abschnitt läse und der unpartheiische Forscher des Wahren, der gegen sich selbst am strengsten war, würde auch in dieser Kleinigkeit unpartheiisch entscheiden.


  1. a) Leßings vermischte Schriften, Th. 1. Berlin 1771.
  2. b) Thom. Correas de toto eo poëmatis genere, quod Epigramma dicitur. 4. Venet. 1569.
      Io Cottunius de conficiendo Epigrammate. 4. Bonon. 1632
      Vincent. Galli opusculum de epigrammate. 12. Mediol. 1641.
      Nicol. Mercerius de conscribendo epigrammate. 8. Paris. 1653.
      Franc. Vavassor de epigrammate liber. 12. Paris. 1669. 1672.
    und in seinen Opp. Fol. Amst. 1709. p. 85.
    Es ist also sonderbar, daß Vavaßor Cap. 2. seiner Abhandlung sagen konnte: es habe vor ihm, außer den Schriftstellern über die Poetik überhaupt, noch niemand besonders vom Epigramm geschrieben.
  3. c) Vavaßor nennt sie expositionem et clausulam, die ältern Theoristen des Epigramms nennen sie indicationem oder narrationem et conclusionem. Der Verf. der Gedanken von Deutschen Epigrammatibus Leipz. 1698. nennt sie pratasinund apodosin, welches alles auf Eins hinausläuft.