Unter der Linde (Wilhelm Jensen)

Textdaten
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Autor: Wilhelm Jensen
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Titel: Unter der Linde
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 27–30, S. 464–467, 479–483, 496–499, 509–512
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Unter der Linde.

Novelle von Wilhelm Jensen.

Eine Zeit zum Lachen und zum Weinen war’s, die Zeit ums Jahr 1848, wer sie miterlebt hat und ihrer gedenkt, kann beides nicht voneinander trennen. Ernst und Posse verschwisterten sich, Klugheit und Narrheit, Leute, deren Geist alles Wissen der Menschheit, alle Tiefen des Denkens umspannte, wollten einen großen Neubau errichten, doch sie wußten nicht, daß man ein Fundament dazu brauche. Nach Gutdünken trug jeder das Material, das ihm geeignet schien, herbei, Bruchsteine, Findlingsblöcke, alte und neue Lehmziegel, Holzklötze und Eisenwerk. Damit bauten sie tiefsinnig und begeisterungsvoll auf einem Sandhaufen. Fast jeder wollte nach einem anderen Bauriß bauen und alle wetteiferten in Aufzeichnung der prächtigsten Fassaden; staunend und jubelnd drängte sich die Volksmenge herbei, die künftig drin wohnen sollte. Aber noch ehe das Wunderwerk unter Dach stand, warf’s ein kräftiger Windstoß mit dem schleunigst aufgepflanzten dichtbebänderten Richtbaum über den Haufen. Die Mauern fielen zusammen wie die angeblasenen Wände eines Kartenhauses, und das Traglager polterte mit allen herrlichen Zukunftswohnräumen auf den Schutt; das war zum Lachen. Aber Stein und Holz hatten nicht das luftige Gewicht von Kartenblättern sondern sie schlugen hart nieder, zerschmetterten gar manche Köpfe von drunten Stehenden, die sich nicht rasch genug vor dem Einsturz weggeflüchtet; hier brachte er Tod, dort langjähriges Siechtum mit sich, und das war zum Weinen.

Einer, der bei jenem Zusammenbruch nicht getötet, doch verwundet worden war, schleppte sich an einem Junitage des Jahres 1849 mühsam durch dunkle Bergwälder. Sein rechter Arm hing kraftlos herab, denn er hatte eine Kugel im Fleisch, die ihn bei einem nachmittäglichen Gefecht im Gebirg getroffen und bewußtlos zu Boden geworfen hatte. Als er zu sich kam, lag die Nacht um ihn. Stille und Leere, nur Eulen schrieen im Tannendickicht. Seine Gefährten waren gefallen oder versprengt, die Sieger hatten auch ihn, in seiner Ohnmacht, unbeachtet liegen lassen. Doch er kehrte neu ins Leben zurück, und mit der Wiedererlangung der Besinnung verband sich ihm die klare Erkenntnis, die Sache, für die er sein Leben eingesetzt, sei hoffnungslos, von Uebermacht erdrückt. Dies Gefühl hatte er schon in den letzten Tagen in sich getragen, und lieber hätte er der Kugel sein Herz geboten.

Aber es schlug und er atmete, und jetzt sträubte sich doch seine Jugend gegen den Tod, mehr noch gegen Schlimmeres, das ihm drohen konnte, ein verschmachtendes Weiterleben hinter düsteren Mauern mit eisenvergittertem Fenster. Mechanisch that er Schärpe, Schwertgurt und Hut des Freischärlers von sich ab und hob sich schwankend auf die Füße. Ohnmacht wollte ihn wieder anwandeln, doch seine junge Kraft ward ihrer Herr. So schritt er durchs Dunkel davor wolkenlos lag das Himmelsdach über ihm, und die Sternbilder deuteten ihm die Richtung nach Süden. Dorthin mußte er sich wenden, um auf kürzestem Weg über die deutsche Grenze fort zu gelangen.

Nun war er ein Flüchtling, genötigt, offene Straßen und Ortschaften zu meiden, unbegangene Bergpfade des südlichen Schwarzwaldes zu suchen. Während des Tageslichts mußte er sich mehrmals lange Stunden hindurch verborgen halten. Nur in einsamen Berggehöften kehrte er zur Stärkung des Hungers ein, die Leute drin nahmen ihn willig auf, sorgten für seine Bedürfnisse. Sie wußten wenig von der draußen um ihre Abgeschiedenheit liegenden Welt, hatten zumeist kaum von den Vorgängen des letzten Jahres gehört, was sich dort zutrug, ging ihr Leben nichts an, für sie blieb es gleich, welcherlei Regiment drunten im Lande bestand. Vielleicht mutmaßten da und dort einige, welche Bewandtnis es mit dem vorsichtig bei ihnen Einkehrenden auf sich haben möge, doch sie befragten ihn nicht drum, und es hielt sie nicht ab, ihm Beistand zu leisten. Außerdem kam er nicht als Bettler, sondern bezahlte das, wonach er begehrte. Er besaß keinen Reichtum, doch so viel, um für geraume Zeit nicht in Not zu geraten. Vor einem Jahre hatte er sein Examen als Philologe glänzend bestanden, sein Name war Alban Hartlaub. In seinen Zügen, seinem Gesamtwesen, lag etwas Poetisches, aus den hellen Augen leuchtete Begeisterungsfähigkeit. Die hatte ihn fortgerissen, vielleicht besserer Verstandeseinsicht entgegen, für eine ideale Vorstellung mit zu den Waffen zu greifen. Sie waren nur ein Kinderspielzeug gewesen und gleich solchem zerbrochen; in einem der Gehöfte legte er nun auch seine verdachterregende Freischärlerbluse ab und kaufte sich dagegen einen abgetragenen einfachen Bauernkittel. So machte er aus der Entfernung den Eindruck eines wandernden jungen Fuhrmannes, doch in der Nähe stand sein Aussehen nicht im Einklang mit der ländlichen Tracht.

Allmählich kam trotz der Niederlage der Sache, für die er gestritten, und der Lähmung seines Armes doch ein jugendlicher Frohmut wieder in ihm auf. Der Pfad hatte ihn eine langgestreckte Anhöhe des Gebirges hinangeführt, plötzlich wich das Tannendunkel ihm zu Seiten und eine weite Landschaft öffnete sich seinen Blicken. Vor ihm flachte sich der Vordergrund zur Fläche ab, über der im Süden riesenhaft am Horizont das Alpengebirge, zu weitem Halbbogen gestreckt, mit seinen Pyramiden, Zacken, Gletschern und Schneehörnern aufstieg. Ein wunderbarer Anblick mußte es für jedes Auge sein, doch war’s in noch erhöhtem Maße für das des jungen Flüchtlings. Dort unter den leuchtenden Hochgipfeln lag die Rettung, die Freiheit, schon weit vor ihnen, gleich drüben, jenseit des sonnenspiegelnden Wasserbandes, das im Vordergrund der Rhein durch das grüne, lachende Gefild zog! Alban blickte mach einem kreisenden Bussard empor, liehe der ihm nur für Minuten seine Flügel, so wäre er hinüber. Doch, seine Luftbahn weiter dehnend, zog der Vogel wie zum Spott hochschwebend über die schimmernde Wasserbreite dahin.

Nun galt’s, die Vorsicht zu erhöhen, denn unfraglich ward die Flußgrenze bei Tag wie im Nachtdunkel scharf bewacht, und ein mißlingender Versuch, hinüberzukommen, war das Verderben. Dem aber wollte er jetzt entrinnen. Er ließ nichts, an dem sein Herz hing, hinter sich zurück, keine Eltern, keine Geschwister, nur einige Freunde, deren Schmerz über seinen Verlust die Zeit bald beschwichtigen würde. So lag ihm keine Pflicht ob und er trachtete nicht danach, sich für andere zu retten, aber die weißen Glanzberge blickten ihn so wundersam an, als hielten sie noch etwas geheimnisvoll Schönes für ihn aufbewahrt. Dem klopfte die eilige Blutwelle in ihm entgegen, und sehnsüchtig, um seiner selbst willen, verlangte er noch zu leben.

Jetzt, auf den Straßen des flachen Landes durfte er sich nicht mehr getrauen, seinen Weg bei Tage fortzusetzen, er that’s nur in Nachtstunden. Ein Zufall bestätigte ihm seine Voraussicht – ein irgendwo auf der Straße fortgeworfenes Zeitungsblatt, das der Wind an einen Waldrand hingetragen. ‚Kurze Mitteilung’ stand darauf, man habe abwärts am Rhein zwischen Schaffhausen und Basel eine Anzahl von Freischärlern, die in die Schweiz zu entkommen suchten, ergriffen und dingfest gemacht, eine zweite Nachricht sprach von der standrechtlichen Erschießung anderer in Rastatt. Nur die Thatsachen waren verzeichnet, kein weiteres Wort daran geknüpft. Man fühlte zwischen den Lettern den gewitterschwülen Druck dumpfer Schreckbetäubung, der jetzt über Land und Bevölkerung lastete!

Diese Meldungen ließen Alban von dem Vorhaben abstehen, am Hohen Randen das über den Rhein vorspringende Gebiet des Kantons Schaffhausen zu gewinnen, vermutlich wurde gerade dort an der scheinbar leichter zu überschreitenden Grenze mit besonderer Wachsamkeit auf Flüchtlinge gefahndet. So bog er vorsichtig an dem ihm verführerisch nah winkenden Schweizer Gebiet vorüber nach Nordosten ab, den Kegelbergen des Hegaus zu, dann östlich weiter. Da dehnte der Bodensee seine weite Spiegelfläche aus, gebot ihm Halt.

Er mußte einen Entschluß fassen; seit dem letzten Tage schon hatte er mehrfach die Empfindung gehabt, daß er da und dort Verdacht erregt habe, von spähenden Augen beobachtet worden sei. Hier herrschte nicht mehr die politische Unwissenheit und weltabgeschiedene Treuherzigkeit der Bewohner des hohen Schwarzwalds. Kundschafter, Leute, die durch Angeberei eine ausgesetzte Belohnung zu erzielen trachteten, waren zu fürchten. Das Verborgenbleiben tagsüber ward schwierig, der gefahrlose Einkauf von Nahrungsmitteln kaum mehr möglich. Längeres Zögern [466] vernahm Alban Hartlaub das Geschrei. Im ersten Augenblick war’s ihm gewesen, als käme seitwärts her ein sich schnell im Dunkel verlierender Lichtschimmer vom Boden herauf, aber nur die Erregung seiner Sinne mußte es ihm vorgetäuscht haben. Das Herz hämmerte an seine Brustwandung; was eigentlich geschehen sei, kam ihm noch nicht zum Verständnis. Halb bewußtlos stand er in der schwarzen Lichtlosigkeit, ihm war’s, als sei er noch im Wald und habe geträumt, daß er, verfolgt, von einer Hand gefaßt und fortgezogen werde. Nun war er aufgewacht und befand sich in der nächtigen Waldeinsamkeit allein, ein Schauer überlief ihm den Rücken.

Doch da kam warm die Hand zurück, die aus der seinigen verschwunden war, faßte diese wieder, und eine flüsternde Stimme klang. „Ich habe meine Laterne, mit der ich mir sonst hinaufleuchte, ausgelöscht, damit sie von draußen keinen Schein sehen. Aber ich brauche sie nicht, haltet meine Hand, ich führe Euch, daß Ihr gegen nichts anstoßt.

Einige Dutzende von Schritten ging’s über hallenden Steinboden, dann tönte die Stimme wieder flüsternd, ganz leise: „Hier fängt die Treppe an und muß ich Euch loslassen, weil ich sonst das Bier für den Vater verschütte. Haltet Euch links am Seil und geht langsam, Ihr werdet’s nicht gewohnt sein.“

Eigentümlich war’s, in einem engen Stiegenhaus, dessen Wände zu beiden Seiten die Arme streiften, ging es steinerne, ausgeschürfte, steile und kurze Stufen hinan. Doch Alban dachte kaum über das Absonderliche des Gebäudes, in dem er sich befand, nach. Er folgte seiner vor ihm aufsteigenden Führerin, die er nicht sah, auch ihren leichten Fußtritt vernahm er nur beim Anhalten, doch ein leises Geräusch ihres die Wand berührenden Kleides sagte ihm, sie sei da. Es konnte kein Zweifel sein, sie hatte ihn vor der sicheren Ueberwältigung draußen gerettet, brachte ihn irgendwohin, um ihm weiter behilflich zu sein. Warum, ließ sich nicht begreifen, denn er war ihr wildfremd. Aber sein Herz war von warmem Dank für sie durchdrungen und ein Verlangen ward in ihm wach, sie sehen zu können.

Die Treppe hob sich in enger Windung weiter und weiter, allmählich befremdete ihn doch ihre Höhe. Er mußte schon mehr als hundert Stufen gestiegen sein , ihm zur Rechten that sich einmal eine schmale, scheibenlose Fensteröffnung auf, durch sie sah er blitzende Sterne, und als nochmals eine gleiche kam, lag tief unter ihm das Lichtergeflimmer der Stadt. Immer ging es noch aufwärts; zuletzt stand er im Begriff, eine Frage zu thun, wo er sei. Doch gerade wie er die Lippen öffnen wollte, schlug von oben herab durch die lautlose Finsternis, ihn beinahe betäubend gleich einem wirklichen Schlag, ein machtvoll donnernder Ton auf ihn nieder. Ein paar Augenblicke überkam’s ihn wie Schwindel, dann hörte er durch den lang aussummenden Klang die Stimme seiner Führerin: „So, nun sind wir oben, Ihr werdet müde sein!“

Gleichzeitig blinkte ein Lichtschein auf, in dem er ihren Schattenumriß wahrnahm. Ihn befiel’s plötzlich mit einer widerlichen Empfindung, daß er lieber noch weiter im Dunkel hinter ihr aufgestiegen wäre, die Befürchtung kam ihm auf einmal, wenn er ihr Gesicht sehe, werde es häßlich und alt sein. Sie hatte eine Thür geöffnet, und nun stand er in einem niedrigen Stubenraum, ein großer Mann mit grauem Haar und Vollbart saß drin, bei einer kleinen Lampe in einem Buch mit jahrhundertaltem Einband lesend. Verwundert blickte er den Eintretenden an, dessen voraufgegangene Begleiterin jetzt, einen mit Bier gefüllten Krug auf den Tisch stellend, kurz mitteilte, was sie gethan habe. Der Alte hörte zu, unter seinen buschigen Brauen sammelte sich ein Glanz an, als sie ausgesprochen sagte er. „Das hast du brav gemacht, Mädel, und aufstehend reichte er dem Fremden die Hand entgegen. „Seid mir willkommen, was wir ausrichten können, Euch zu helfen, dessen seid Ihr sicher!“

Die Hand des Alten haltend, stand Alban wie in einem seltsamen Traum. Nun wandte er zum erstenmal die Augen nach seiner Retterin und sah in das auf ihn hin gerichtete liebliche Kindergesicht eines etwa siebzehnjährigen Mädchens, wie er ein so holdseliges noch nicht in seinem Leben gewahrt hatte.


*     *     *


Jetzt erfuhr er, an dem Tisch bei einfacher, doch ihm herrlich mundender Nachtkost sitzend, wo er war: auf dem Glockenturm der Hauptkirche der Stadt. Die Thür drunten war unverschlossen gewesen, weil das Mädchen noch ausgegangen war, um den Abendtrank für den Vater zu holen. Sie hatte ihre kleine Leuchte neben den Windfangverschlag der Kirchenthür auf den Boden gestellt und diese für die wenigen Minuten bis zu ihrer Rückkunft offen gelassen. Um ein paar Augenblicke früher oder später hätte der Verfolgte keine Rettung gefunden.

Der Alte hieß Toralt, er war der Turmwart hier oben, schon seit langen Jahren; sein Töchterchen hatte hier zuerst das Licht begrüßt, und seine um sechs Jahre später gestorbene Frau hatte er auf den Armen die Wendelstiege hinabtragen müssen, sie drunten in der Kirche in den Sarg zu legen. Doch er war vom Grab wieder heraufgestiegen, um droben allein mit der kleinen Gerlind weiter zu hausen. Frühgewöhnt, lief sie schon als winziges Ding mit hurtiger Sicherheit die drittehalb hundert Stufen der engen Treppe auf und ab, ging zur Schule und besorgte Einkäufe für den Lebensbedarf. So lebten die beiden in den zwei Gelassen der Türmerwohnung miteinander wie auf einer einsamen Bergspitze. Verkehr mit Leuten drunten unterhielten sie wenig, der beschwerliche Aufstieg schreckte ab, nur selten einmal begab Toralt sich hinunter. Ihm genügte voll seine Welt hier oben, er war ein für solche Einsamkeit von der Natur veranlagter Mensch, der zwar keine höhere Bildung empfangen, doch mit eigenen Gedanken begabt war, gewissermaßen ein Philosoph in seiner Art. Durch die Hinterlassenschaft eines alten Sonderlings, der vielerlei ihm in die Hände Geratenes angesammelt hatte, war er in den Besitz von allerhand Stücken aus Vorväterzeit gekommen, mit denen er seine Turmstube ausgestattet, Hausrat, Bildern, Behängen, Waffen. Auch alte Bücher befanden sich darunter, vielfach kraus wunderlichen Inhalts, aber sein klarer Sinn wußte der ihm zugefallenen Gabe zur geistigen Nahrung das Vernünftige zu entnehmen. Besonders zog Geschichtliches und Geographisches, das von den Landschaften um die Stadt her handelte, ihn an. Als fast einzige Besucher des Turms stellten zur Sommerzeit manchmal Fremde sich ein, die den Aufstieg nicht scheuten, um den wundervollen weiten Rundblick von den Kegeln des Hegaus über die endlos scheinende Bodenseefläche zu den Bergen des Algäu und vom Säntis bis an die Firnzacken der Berner Alpen zu genießen. Fast immer mit Erstaunen hörten sie, daß der Turmwächter ihnen nicht nur die Fragen nach jedem fernen Gipfel und jeder Ortschaft zu beantworten wußte, sondern daran auch Mitteilungen aus der Vergangenheit knüpfte, die sich in den üblichen Reisehandbüchern nicht fänden.

Doch Toralt lebte in seiner Stille nicht allein im Vergangenen, sondern auch mit der Gegenwart, auf die er gleich einem in hoher Luft schwebenden Vogel niedersah. Täglich brachte Gerlind ihm von ihrem Einkaufsgang das kleine städtische Zeitungsblatt mit, und über das, was darin von den Weltgeschehnissen berichtet ward, machte er sich gleichfalls seine eigenen Gedanken. Mithandeln unter den Menschen konnte er nicht, aber um so lebhafter ergriffen seine Empfindungen und Wünsche Partei in den Streitfragen und Kämpfen der Zeit. Und zwar nach der Richtung, daß Alban Hartlaub nicht leicht einen Zweiten zu finden vermocht hätte, der bereitwilliger gewesen wäre, alles dranzusetzen, ihm in seiner Bedrängnis und Hilflosigkeit Beistand zu leisten. Nach seiner kurzen Art war diese Gesinnung in den Worten zum Ausdruck gekommen. „Das hast du brav gemacht, Mädel“, und daß Gerlind so gehandelt hatte, legte nicht nur von rascher Geistesgegenwart bei ihr Zeugnis ab, sondern gleicherweise davon, daß die Tochter in jugendlicher Hingebung das Mitgefühl des Vaters für den schwerbedrohten Freischärler teilte.

Nach kurzer Zeit empfand sich Alban in dem weltentrückten, eigenartig behaglichen Gemach so wohl und gesichert, als sei er aus aller Gefahr über die Grenze hinübergelangt. Doch der Alte schüttelte den Kopf, ging auf den Umlauf hinaus und sah, sich über die Brüstung beugend, hinab. Rote Feuerzungen glüten drunten an mehreren Stellen um die Kirche, und zurückkommend, sagte er: „Sie haben mit Fackeln gesucht und Wachen um die Kirche gestellt, der Polizeihauptmann muß überzeugt sein, daß Sie auf irgend welche Weise in die verschlossene Kirche hineingekommen sind. Heut’ nacht wird nichts mehr geschehen aber morgen früh werden sie auch hier oben nachsuchen; darauf müssen wir bedacht sein. Legen Sie sich jetzt in mein Bett [467] schlafen. Sie haben Erholung nötig, wenn der Tag anbricht, wecke ich Sie.“

Das Mädchen fragte: „Wo willst du denn schlafen, Vater?“

„Ich lege mich auf die Bank.“

Sie fiel ein. „Nein, das thue ich, die ist für dich zu kurz.“ Kindliche Fürsorge sprach aus ihrem Gesicht, sie setzte hinzu: „Ich kann mich gut drauf strecken und unser Gast soll sich in meiner Stube ausruhen.

Ueber die Augen des Türmers flog ein Schimmer von väterlichem Stolz, doch sein Mund gab nichts davon kund, er äußerte nun gegen Alban gewendet. „Sie hat recht, junge Gliedmaßen legen sich überall gut zum Schlaf. So richt’s zurecht, Linde!“

Die Abkürzung von „Gerlinde“ war’s, mit der er seine Tochter benannte. Sie stand auf und zündete eine Unschlittkerze an. Alban widersetzte sich jetzt, er erklärte bestimmt, daß er die Nacht auf der Bank zubringen werde. Doch Toralt versetzte: „Damit thäten Sie dem Kinde weh, sie ist glückselig über das, was sie an Ihnen hat thun können, und hätte sonst eine traurige Nacht; ich kenne sie. Sie müssen ihr schon zu Willen sein, ich muß es auch.“

Er fuhr fort, auch sein Wunsch und Wille sei’s, so gab Alban nach. Sie traten in das Nebengelaß, mehr eine Kammer als eine Stube war es, zum großen Teil von einer Bettstatt mit schneeweißem Linnentuch eingenommen. Toralt reichte dem Gast mit einem Gute-Nachtwunsch die Hand, dann Gerlind, in deren Zügen sich ein Ausdruck von Beglücktheit und von kindlichem Stolzgefühl paarte. Sie sagte dazu: „Erschrecken Sie nicht über die Glocke, wer nicht dran gewöhnt ist, kann’s leicht.“

Er hielt einen Augenblick ihre Hand und erwiderte. „Warum ‚Sie’ – drunten redetest du mich anders an –“

Sie lachte, ihrem Gesicht stand’s, als fiele Sonnenschein drauf: „Ich hielt Sie im Dunkel für unsereins, wußte nicht, daß Sie ein gelehrter Herr sind.“

„Das heißt, nachdem ich dich bei Licht gesehen, hätte ich dich auch so anreden müssen.“

Aus seinen Worten klang, ihm thu’ es leid, gehe ihm gegen das Gefühl, sie nicht weiter ‚du’ nennen zu dürfen. Das Mädchen schüttelte den Kopf, der Türmer fiel ein. „Bleiben Sie dabei, ich bin gewiß, sie hört’s lieber. Bei uns hier oben klingt’s auch viel natürlicher, dünkt mich, und paßt das andere eigentlich nicht her.“

Alban überkam’s, daß er, nochmals die Hand des Alten fassend, rasch erwiderte „Ja, menschlicher klingt es – habe Dank, habet beide Dank für das, was ihr an mir thut!“


*     *     *


Nun war der Flüchtling allein, kleidete sich halb aus, streckte sich hin und löschte das Licht. Zum erstenmal wieder lag er statt auf dem Waldboden in einem Bett, er empfand es als köstliche Wohlthat. Er rechnete nach, seit wie viel Nächten nicht mehr: fünf oder sechs – genau vermochte er’s nicht festzustellen. Vor dem letzten Gefecht war’s gewesen. Schwere Müdigkeit drückte ihm auf die Lider. Er schlief ein.

Plötzlich fuhr er von einem Donnerschlag auf. Er hatte im Traum unter einer blühenden Linde gelegen, deren Duft ihn umgab, und ein Gewitter zog über ihn hin. –

Halb erwacht, tastete er im Dunkel mit der Hand um sich, fühlte das Deckbett. Dazu wiederholte sich der dröhnende Schlag, und ihm kam zum Bewußtsein, kein Donner, ein Glockenschlag sei’s, und er liege in dem Gemach des Türmers oder vielmehr seiner Tochter und habe geträumt. Von einer Linde – das erklärte sich auch, „Linde“ hatte der Vater das Mädchen genannt und der Traum es nach seiner Weise verändert. Nur seltsam war’s, daß er den Blütenduft noch einzuatmen glaubte, als käme dieser neben seiner Schläfe aus dem weichen Kissen heraus. Langsam hallten die machtvollen Glockentöne noch fort; während der letzte – wohl Mitternacht schlug’s – in langen, allmählich schwächer werdenden Ausschwingungen verstummte, schlief er wieder ein.

Dann wußte er noch einmal nicht, wo er sei. Er wachte wiederum auf, doch nicht von einem Getöse, diesmal von einem Gefühl, als ob der Morgenwind mit leise singender Stimme über ihn hingehe. Die Lider öffnend, sah er Tagesschimmer um sich und gegenüber auf der Schwelle der offenen Kammerthür eine nur halb erkennbare Gestalt. Die sprach mit der Stimme des Windes weiter: „Es ist Zeit, Ihr müßt aufstehen, der Vater ist schon hinauf, den Platz für Euch zu richten.“

Da besann er sich abermals, daß er auf dem Turm sei, und ihm wurde klar, Gerlind Toralt stehe unter der Thür und spreche zu ihm. Ihr Gesicht ließ sich nicht unterscheiden, doch erkannte er sie an ihrer hellen freundlichen Stimme. Nur um dies zu bestätigen, gab er zurück. „Bist du’s, Gerlind? Es ist noch zu dunkel, etwas zu erkennen.“

Gegen ihn hintretend, erwiderte sie: „Ich hätt’ Euch gern noch länger schlafen lassen, doch es geht nicht.“

So eigen war’s, so wie in einem Traum noch, daß sie vor ihm stand, unwillkürlich seine Hand ausstreckend, sagte er: „Guten Morgen, Gerlind.“

Sie wiederholte, die Hand fassend „Guten Morgen“, und sich einen Augenblick leicht auf den Rand des Bettes setzend, fügte sie hinzu. „Habt Ihr gut geschlafen?“

„Ja, vortrefflich. Aber du?“

„Ich, herrlich; ich habe von Euch geträumt. Doch ich schwatze und laß’ Euch nicht aufstehen. Macht schnell, ich richte das Frühstück!“

Wie ein aufgehuschter Vogel war sie wieder davon. Rasch kleidete er sich jetzt vollständig an, trat ins Nebengemach, aß und trank, was Gerlind ihm vorsetzte. Sie drängte ihn zur Eile, hieß ihn noch mit dem letzten Bissen im Mund aufstehen und ihr nachkommen. Es ging von der Wächterbehausung durch eine Wendelstiege noch weiter aufwärts, doch nur noch einige Dutzende von Stufen, dann weitete freier Raum sich aus, in dem vom mächtigen Gebälk die großen Kirchenglocken herabhingen. Hier stand der Türmer, die Ankömmlinge schon mit Ungeduld erwartend, stieg eine steile Leiter hinan und forderte Alban auf, ihm zu folgen. So kamen sie zum Oberrand der Glocken, die über einer nicht absehbaren gähnenden dunklen Leere schwebten, und Toralt trat auf einen der großen Querbalken hinaus. „Sie müssen den Weg hinüber machen,“ sagte er, „sehen Sie nicht hinunter dabei, daß Ihnen kein Schwindel kommt!“

Alban ging hinter dem ruhig Voranschreitenden drein, doch sein Fuß tastete zaudernd vor, stockte ungewiß; ein Gefühl faßte ihn an, als schwankte das Holz unter ihm. Da klang seitwärts her die Stimme Gerlinds, und rechts von sich gewahrte er sie auf einem anderen Querbalken, über den sie mit sorgloser Sicherheit wie auf einer breiten Straße hinging. Sie ermutigte ihn: „Ihr müßt gar nicht dran denken, daß Euer Fuß ausgleiten könnte, sondern wie auf ebner Erde gehen, wie auf einem Gassenstein, bei dem Euch nicht einfällt, er sei zu schmal – so –.

Ihr Mund lachte dazu, doch ein wenig erkünstelt, sichtlich nur, um die eigene Unruhe zu verdecken. Unter Alban aber hörte plötzlich die Täuschung des Schwankens auf, seine Augen hefteten sich fest auf Gerlind, und das nahm ihm die Anwandlung von Schwindel.

Er sah ihren kleinen Fuß unter dem kurzen Kleid, unbeirrt gleichmäßig, nicht in Hast und nicht zögernd vortreten, daraus gewann auch der seinige die Fähigkeit, ruhig, sicher nun das Gleiche zu thun. So kam er über die bedrohliche, wohl ein Dutzend Schritte lange Strecke hinüber auf ein kleines verbreitertes, Halt bietendes Eckplätzchen, das die Turmmauer abschloß. Doch eine von Toralt hierher gebrachte lose Leiter stand senkrecht angerichtet und verlor sich mit den obersten Sprossen in völliger Dunkelheit.

„Dort hinauf müssen Sie,“ sagte der Turmwart, „wenn Sie droben sind, werden Sie so viel unterscheiden, daß Sie sich zurechtfinden.“

Der Alte hielt die Leiter, und Alban klomm zehn Sprossen hinan, zuerst erschien ihm alles noch völlig lichtlos, doch dann gewöhnte sich sein Auge an die Dämmerung, er erkannte ein Quergebälk, auf das er sich niederlassen konnte, und das ihm, Anlehnung an die Wand verstattend, einen einigermaßen ausreichenden Aufenthalt bot.

Von unten klang die Frage Toralts. „Sind Sie in Ordnung?“ und auf die bejahende Antwort die Mahnung: „Machen Sie keinerlei Geräusch, bequem ist’s nicht, aber, wenn es ums Leben geht, hält man’s schon einen Tag aus.“

Gerlindens Stimme tönte nach: „Wenn’s geschehen kann, besuch’ ich Euch einmal, denkt immer an etwas, damit Ihr nicht einschlaft und stürzt!“

[479] Das Tageslicht verstärkte sich, den Glockenraum mit einer helleren Dämmerung durchwebend, der Zurückgelassene sah den Türmer mit der Leiter auf der Schulter furchtlos den Balken wieder überschreiten, hinter ihm das Mädchen. Ein kurzer Nachhall ihrer abwärtsverhallenden Tritte – dann war Alban allein. In einer wie von einem phantastischen Traum geschaffenen Welt, einer Einsamkeit, die lautloser und lebenverlassener war als etwa diejenige auf einem in die Wolken entrückten Berggipfel.

Warum das? Ihn wollte bedünken, er wäre drunten genug in Sicherheit gewesen. In die ihm überlassene Schlafkammer des Mädchens würde niemand eindringen. Doch sie und ihr Vater hatten mit Hast gedrängt, ihn hier zu verbergen, so mußten sie es für notwendig halten.

Er schämte sich jetzt, auf dem Balken beim Herüberschreiten gezögert, vor Gerlind Furcht gezeigt zu haben. Was ein junges Mädchen, fast ein Kind noch, ohne jedes Bedenken that, hatte ihn, einen Mann, mit Zaghaftigkeit befallen! Freilich war sie wohl von früh auf dran gewöhnt und kannte keinen Schwindel. Hinunterblickend, sah er sie in der Vorstellung wie leibhaft drunten auf dem Balken, furchtlos den Fuß heben, Schritt um Schritt vorsetzen. Im Ohr klang ihm auch wider, was sie gesprochen und wie sie dazu gelacht hatte, um ihm Mut einzuflößen.

Etwas Lebendiges regte sich doch um ihn: Fledermäuse lösten sich irgendwo von der Mauer und den Balken, schossen lautlos bis an die Schalllöcher der Glocken, kehrten um und verschwanden wieder irgendwo im Dunkel.

Ja, der Alte hatte recht. Um sich das Leben zu erhalten, was that’s, selbst zwischen dem flatternden Getier in solcher Stellung hier auszuharren – denn es war schön, zu leben!

Um nicht einzuschlafen und abzustürzen, solle er immer an etwas denken, hatte Linde gesagt. Er saß unbeweglich, vor sich hinschauend, mehrmals schlug die Uhrglocke, doch nur beim erstenmal ließ es ihn aus seinem Denken auffahren, danach kam’s ihm kaum mehr zum Bewußtsein, als sei sein Ohr schon lange dran gewöhnt. Dann aber ward es von etwas andrem berührt, einem verworrenen Getöse, das, wie er horchte, lauter wurde und merklich näher kam. Kein Zweifel blieb: von unten aus der Kirche her dröhnten vielfältige Fußtritte die Wendeltreppe herauf, Rufe tönten, dann ward die Antwort Toralts verständlich, er habe nichts gesehn, wisse nicht, wonach gesucht werde. Nun trat verhältnismäßige Stille ein, offenbar ward die Behausung des Türmers durchforscht. Danach aber sagte jemand. „Es geht noch weiter hinauf zu den Glocken, und die Stimme Gerlinds erwiderte. „Ja, hier – da fangen die Stufen an. Der zuerst gesprochen, versetzte drauf. „Ist die Luke droben offen? Sonst mußt du den Schlüssel mitgeben!“

Merkwürdig war’s, was da drunten geredet wurde, ging unbedingt Alban sehr nahe an, doch sein Gehör, seine Gedanken faßten daraus nur etwas vollkommen Bedeutungsloses auf, daß jeder in der Stadt Gerlind Toralt noch ebenso, wie er’s gethan mit „du“ anredete. Es konnte auch eigentlich niemand eine andere Anrede auf die Zunge geraten. trotz ihrer Großwüchsigkeit war sie ja noch ein Kind, hatte sich heute morgen völlig als ein solches benommen. Ein junges Mädchen in dem gebräuchlichen Sinne des Worts hätte, um ihn zu wecken, an die Thür geklopft, wäre nicht hereingekommen und hätte sich nicht seinem Bett genähert.

Das mußte er denken; er vernahm nur mit dem äußeren Ohr, wie Tritte zu ihm heraufpolterten, als habe er nichts damit zu thun. Nun erreichten die Suchenden die Leiter, klommen auch diese hinan, und der Vorderste sagte. „Hier sind die Glocken. Er trat auf einen der Balken, setzte den Fuß drauf vor, doch sein Nachfolger hielt ihn am Arm. „Da geht’s kopfunter zu den alten Knochen, die Reise wär’ schnell! Rechts kommt wieder eine Leiter.

Der Sitz Albans barg sich in tiefem Schatten, aber er nahm deutlich die unter ihm Anhaltenden wahr. Sie blickten durch den Glockenraum umher und wechselten einige Worte.

[480] „Weiter, als die Balken gehn, kann niemand, da ist’s zu Ende.“ – „Wenn er sich nicht in eine Glocke verkrochen hat und als Klöppel drin hängt, kann er hier nirgendwo stecken. – Sie lachten, die Sprossen der noch weiter nach oben führenden Leiter krachten, sie stiegen vorbei. Alban hatte den Atem angehalten, in der Höhe über sich hörte er eine knirschende Eisenluke öffnen, die vermutlich auf einen letzten Austritt des Turms führte. Nur kurze Weile verstrich, da kehrten die Fußtritte abwärts zurück. „Wenn er nicht, wie eine Spinne am Stein läuft, hat er auf die Spitze nicht hinaufgekonnt. – „Vielleicht reitet er auf dem Kreuz, dann sehen wir ihn von unten und können ein Vogelschießen abhalten!“

Ein Lachen lief wieder zwischen den Glocken um, dann tönten die Stimmen schon von dem Absatz der Türmerwohnung her: „Oben ist er auch nicht, wenn er nicht so ausgehungert ist, daß er in einem Mausloch Platz hat.“ – „Wahrscheinlich haben sie ihn jetzt drunten am Kragen, in der Kirche muß er irgendwo stecken!“

Und nun wieder schweigende Stille, nur in Zwischenräumen kurz vom Schlagen der Uhrglocke unterbrochen. In der That, es war unumgänglich nötig gewesen, daß man ihn hier verborgen hatte, überall sonst im Turm wäre er von den Nachspürenden entdeckt worden. Polizisten mußten es gewesen sein, sie hatten eine Art Uniform getragen; einer von ihnen, obgleich ein noch junger Mann, wohl die eines Sergeanten. Offenbar ward in der Stadt alles aufgeboten, des denunzierten Freischärlers habhaft zu werden.

Alban saß lauschend, ob nichts wieder von der Wohnung des Türmers herklinge, doch Stunde um Stunde vergeblich. Nur Sonnenfunken sprangen durch das nach Osten gerichtete Schallloch herein, schnellten sich hierhin und dorthin über das Gebälk und die Glocken und schienen plötzlich von einer unsichtbaren Hand ausgelöscht zu werden. Aus seinem Versteck sah Alban dem Lichtspiel zu, so hatte es gestern vormittag noch im Wald um ihn durch die Blätter geflimmert. Doch ihm lag’s im Gefühl, als müßte weit längere Zeit seitdem vergangen sein, gleich Tagen, einer Woche schien es hinter ihm. Ihm war’s, er sei in eine Märchenwelt versetzt, und wie ein Knabe beim Lesen eines Märchens, so harre er gespannt darauf, was in der verzauberten Wirklichkeit weiter mit ihm geschehen solle.

Langanhaltend dröhnte nun wieder die Uhrglocke – Mittagsstunde war’s, und jetzt ins Ausklingen des letzten Schlages mischte sich ein andrer Ton, der den Aufhorchenden mit freudiger Empfindung durchlief. Nur einmal hatte er ihn gehört, gestern in der Finsternis beim Treppenaufstieg. Doch er erkannte den leichten Fußtritt wieder. Und da hob sich schimmernd das blonde Haar Gerlinds an den Leitersprossen empor, sie trat behend auf den Balken über, kam hurtig auf ihn heran. In der Hand trug sie einen langen Stock, hielt nun an und fragte mit halblauter Stimme: „Ihr schlaft doch nicht im Nest?“

Er antwortete: „Nein – es ist freundlich von dir, daß du kommst!“

Rasch gab sie zurück: „Ich bringe Euch zu essen, Ihr müßt hungrig sein. Früher konnt ich’s nicht und muß gleich wieder hinunter. Da, seht Ihr’s?“

Die Stange hob sich zu ihm auf, an ihrem Oberende war, in Papier gewickelt, ein Stück warmen frisch zubereiteten Fleisches und etwas Brot befestigt. Das von ihr gebrauchte Wort paßte gut, es hatte etwas davon, wie wenn droben in einem Nest ein unflügger Vogel gefüttert würde. Ein kleines Weilchen blieb sie doch noch stehen und sagte: „Haltet Ihr’s noch aus? Ihr müßt’s schon, dürft noch nicht herunter; könnt’ ich’s nur, macht’ ich’s Euch gern bequem, wollte Euch ablösen, droben zu sitzen. Wie hab’ ich still in mich hinein gelacht, als ich ihn an Euch vorbeisteigen und reden hörte. Aber unten in der Kirche suchen sie immer noch. Der Polizeihauptmann ist überzeugt, daß Ihr Euch drin versteckt haben müßt. Wie ich zu Mittag einkaufte, sah ich drunten zu, sie sind ganz versessen auf Euch und haben sogar ein paar Grabplatten aufgehoben. Mir kam’s vor, als müsse ein strenger Befehl gekommen sein und jeder auf große Belohnung hoffen.“

Ein leichter Seufzer begleitete die letzten Worte, und hinterdrein fügte das Mädchen eine seinen Lippen absonderlich stehende philosophische Bemerkung: „So ist’s einmal auf der Welt, was dem einen Unglück bringt, das bringt dem andern Glück. Aber lieber wollt’ ich keins, und wenn’s mein Leben kosten sollt’, ich gäb’s dran, eh’ ich Euch im Stiche ließe. Nun habt Geduld und haltet Euch gut, bis Ihr wieder unten bei uns seid! Kann ich’s, so komme ich nachher wieder herauf, Euch etwas Gesellschaft zu leisten, wenn mein Gered’ Euch nicht zu einseitig ist. Da giebt der Vater das Zeichen, ich muß hinunter!“

Ein kurz klopfender Ton war von unten her geklungen und Gerlind in einem Nu, wie auf Flügeln niedertauchend, verschwunden. Ward die Durchsuchung der Toraltschen Behausung wiederholt? Alban horchte: es kam wieder etwas aus der Kirche herauf, und bald danach vernahm er auch einige Worte, glaubte die Stimme des Polizeisergeanten zu erkennen. Doch was dieser sagte, blieb unverständlich, eine Thür schloß sich und es ward still.

Ihm schlug plötzlich das Herz schneller, in Unruhe. Wenn er doch noch aufgefunden wurde, so brachte er auch über die beiden Unheil, den Alten und das Mädchen! Die Vorstellung überkam ihn beängstigend, weckte Selbstvorwürfe in ihm. Lieber wollte er sich selbst ausliefern – die Treppe hinunter in die Kirche schleichen und thun, als ob er dort aus einem Schlupfwinkel auftauche. Aber er mußte bleiben, konnte ohne die Leiter nicht von seinem Sitz herab. Ein Sprung hätte ihn unfehlbar zerschmettert in die Tiefe gestürzt, und davor bangte er zurück, denn – es war ja so schön zu leben!

Allmählich beruhigte er sich wieder, Viertelstunden vergingen, und nichts regte sich. Er hatte sich doch wohl in der Stimme getäuscht, man hegte keinen Verdacht mehr.

Für sich selbst konnte er nun ganz unbesorgt sein. Aber Gerlind – wie hatte sie doch gesagt? Ehe sie ihn im Stich ließe, gäbe sie ihr Leben dran! Dem Verstummen der Glocke ähnlich, gingen die Worte in leise nachhallenden Schwingungen durch seine Seele. Er fühlte, sie hatte es nicht leichthin gesagt, sondern thäte es wirklich. Zwar kaum begreiflich – für ihn, den Fremden, den sie gestern zum erstenmal gesehen! Aber sie war die Tochter ihres Vaters, der auch furchtlos, was er war und besaß, dransetzte, einen bedrohten Flüchtling zu retten.

Er schloß die Lider, schlief aber nicht und blieb sich seines gefährliche Sitzes bewußt, denn er wollte ja nicht stürzen. Aber in dem Halbtraumzustand, der ihn befing, wiederholte er sich immer die Frage: „Thäte sie’s nur deshalb, weil sie die Tochter ihres Vaters ist?“

Das Licht unter ihm änderte sich, doch ward es nicht dunkler, vielmehr wieder heller, nur von einer anderen Seite her. Die Sonne mußte nach Westen hinübergegangen sein und anfangen, das dorthin gerichtete Schallloch zu streifen. Richtig, da begannen auch wieder Goldfunken zu sprühen.

Da nahm plötzlich einer von ihnen eine helle Stimme an und fragte mit ihr: „Wie unterhaltet Ihr Euch mit den Fledermäusen? Haben sie Euch etwas über die Langeweile hingeholfen? Es sind possierliche Dinger, ich mag sie gern und hab’ manchmal hier allein gesessen und mit ihnen geschwatzt.“

Er hatte keinen Schritt gehört, und ihm war’s, als spräche die Stimme im Traum zu ihm. Aber unwillkürlich schlug er die Augen auf, und da stand Gerlind Toralt unter ihm auf dem Balken, doch halb ungewiß noch fragte er: „Bist du’s?“

„Wer sollt’ Euch sonst hier besuchen?“ Sie antwortete es lachend, diesmal in fröhlichstem ungekünsteltem Thon. „Ich konnte nicht eher kommen, aber jetzt ging’s.

Bei ihrem letzten Wort flog Alban ein Schrei vom Mund. Es war ihm, als schwanke sie, gleite und falle – ihm ward es schwarz vor Augen. Da klang indes ihre Stimme wieder: „Was ist Euch?“

Zitternd erwiderte er: „Ich glaubte, du –“ er konnte das Wort nicht aussprechen. Sie nahm’s ihm vom Mund. „Ihr meintet, ich fiele? Das hätte auch keine Gefahr, ich bin ein Turmkind und hielte mich wie ein Laubfrosch am Glockenseil.

Mit kinderhaftem frohsinnigem Uebermut sagte sie’s, und nun sah er: sie hatte sich auf den Balken gesetzt, ließ die Füße über der Tiefe herabhängen und hielt sich mit einer Hand an einem neben ihr aus der Höhe niederschwebenden Strick. Es war auch thöricht gewesen, zu fürchten, sie könne stürzen; von ihrer sicheren Gewandtheit abgesehen, hatte, was der Märchenwelt angehörte, ja Flügel oder schwebte, wenn es wollte, von selbst leicht in der Luft.

[482] Nun sprach sie von ihrem Sitz aus weiter. „Thut der Arm Euch sehr weh? Ich muß immer an die Kugel drin denken; auch heut’ nacht wachte ich, glaub’ ich, von dem Gedanken dran auf.

Aber heut’ war’s nicht möglich, Euch von ihr zu helfen; morgen in aller Früh’ geht der Vater hinunter zu einem jungen Arzt. Der denkt g’rad’ so wie wir, ist ganz sicher, und ihm wird’s auch eine Freude sein, Euch beistehen zu können und die Kugel aus dem Arm zu holen. Daß nicht alle ebenso denken! Wie viel schöner wär’s dann in der Welt!“

Sie brach ab und lachte. „Nein, wenn sie’s alle thäten, dann säßet Ihr nicht da droben und ich nicht hier –“

Er fiel ein: „Eben das wäre doch schöner –“

„Für Euch freilich, aber ich bin so froh, wie alles seit gestern abend gegangen ist; das wär’ ich dann nicht! Und wie viel giebt’s noch zu überlegen, auf welche Art wir Euch ohne Gefahr über die Grenze – nein, dazu haben wir noch lange Zeit, brauchen heut’ noch nicht dran zu denken.“

Die Sonne war weiter abwärts gestiegen. Sie stand jetzt ziemlich wagerecht dem westlichen Schallloch gegenüber, doch eine große Glocke fing ihren Strahlenwurf auf, der selbst nicht sichtbar ward. Gerlind hielt sich an dem Seil, und um zu dem oben Sitzenden verständlicher hinaufsprechen zu können, lehnte sie sich halb rückgebogenen Kopfes furchtlos ins Leere zurück. Da schlüpfte ein Goldstrahl an der Glocke vorbei, traf ihr Gesicht, und in dem Glanz leuchteten plötzlich ihre Augensterne märchenhaft auf. Alban hielt unwillkürlich den Atem an, er glaubte, auf ein paar wunderbare tiefblaue Edelsteine hinunterzublicken, solche Farbe und solchen Glanz von Augen hatte er noch niemals gesehen. Doch nur für die Dauer eines Gedankens bog sie sich derart zurück, sie rief. „Das blendet gewaltig“ und rückte hurtig den Kopf wieder in den Glockenschatten. Da saß sie, sich an dem Tau leicht hin und her schaukelnd, dem auf sie Niederschauenden drängten sich Vergleiche auf, an eine tropische Liane, an einen Kolibri mußte er denken. Doch das enthielt Widersinniges, nur von dem Saphirglanz Angeregtes, nichts Fremdes war an ihr, alles so deutsch und heimatlich wie es nur sein konnte. Eine durchaus nicht kleine, eher schlankhohe Mädchengestalt wiegte sich an dem Seil, nur war ihm nie solche Vereinigung von gesunder Kraft mit Zierlichkeit vor Augen gekommen. Vorher hatte er seinen Körper von dem langen unverrückten Sitzen allmählich steifer und schmerzhaft werden gefühlt, jetzt empfand er nichts mehr davon, hörte dem Stimmenklang unter seinen Füßen zu und antwortete darauf.

Die Sonne verschwand, und Gerlind konnte nun ungeblendet den Kopf zurücklegen, ihre Augen strahlten jetzt nicht mehr den Edelsteinglanz aus, doch ihr Blau berührte ihn geheimnisvoll, als ob es in seiner Tiefe das leuchtende Wunder verborgen halte. Zufällig traf ihre Fußspitze einmal auf die Glocke neben ihr, und ein singender Ton ging durch den Raum. So eigen klang’s, daß Alban sie bat, es zu wiederholen, und sie that’s öfter. Dann horchte sie, sich ruhig haltend, auf das leise Verklingen, und danach lachte sie. Eigentlich war kein Grund dazu, aber sie konnte nicht anders, wie ein spielendes Kind lachen muß, weil es vergnügt ist. Und aus dem gleichen Trieb schaukelte sie sich dann wieder am Seil.

Er war eine Respektsperson für sie, hoch über ihr stehend, und doch zugleich auch ihr Schützling, vor dem sie keine Scheu empfand, mit dem sie zutraulich sprach. Nun bat sie ihn, ihr zu erzählen, wie er nach dem Gefecht die Tage und Nächte im Schwarzwald zugebracht habe. Er willfahrte gern und ging noch einmal in der Erinnerung alle Wege über Berg und Thal bis zum gestrigen Abend. Sie wollte wissen, in welches Gasthaus drunten in der Stadt er geraten sei, das wußte er nicht, beschrieb’s jedoch von außen, so daß sie’s erkannte. Alban erzählte nun, er würde ungefährdet wieder hinausgelangt sein, wenn die Kellnerin nicht mit einem Licht gekommen wäre und es vor ihn hingestellt hätte. „Das erkannte ich gleich als übel und gebot ihr drum rasch, es wieder fortzutragen, aber sie that’s nicht.“ – „Das glaub’ ich wohl“, schaltete Gerlind ein. – Er fragte: „Was glaubst du?“ – „Daß sie’s nicht fortnahm, sie sah Euch doch natürlich gern an.“

Ein Fußtritt klang von unten herauf, das Mädchen brach ab. „Da kommt der Vater, dann ist alles in Ordnung und Ihr könnt herunter.

Behend schwang sie sich am Tau auf die Füße, Toralts grauer Kopf kam zum Vorschein. Mit der Leiter in den Händen auf den Balken tretend, begrüßte er den oben Verborgenen. „Sie haben wohl Langeweile gehabt; jetzt ist’s still drunten, die Maulwürfe haben das Wühlen aufgegeben und sich überzeugt, daß Sie in der Kirche und im Turm nicht sind.

Vorschreitend richtete der Alte im Winkel die Leiter auf. „Lassen Sie sich Zeit und halten sich mit der linken Hand gut fest! Die Glieder werden Ihnen steif sein.“

Zögernd verharrte Alban noch einige Augenblicke in seiner Stellung. Nicht aus Furcht vor einem Fehltreten – er konnte sich nicht entschließen, seinen Sitz zu verlassen. Jetzt, wo er fort sollte, überkam ihn das Bewußtsein, so schön sei es selbst auf der Schwarzwaldhöhe nicht gewesen, wo die unermeßliche Weite sich aufgethan und die weißen Alpenfirne ihm geheimnisvoll entgegengeblickt hatten.

Doch der Türmer wartete, und so mußte er wohl hinab. Schwindelfrei, an keine Gefahr denkend, stieg er nieder, ging weiter über den Balken. Vor ihm glitt Gerlind hurtig die Treppe hinunter, für das Abendessen zu sorgen. Fröhliche helle Töne einer Volksliedmelodie klangen ihr von den Lippen; man konnte meinen, eine Lerche sei im Innern des Turms aufgestiegen gewesen und tauche trillernd wieder zu ihrem Neste drunten zurück.


*     *     *


Als Alban am andern Morgen aus seiner Kammer ins anstoßende Gemach trat, befand sich nur das Mädchen darin, Toralt hatte sich schon in die Stadt hinunterbegeben. Gerlind teilte es ihm mit und sagte freudig: „Nun hab’ ich allein die Hut über Euch und muß gut aufpassen, wenn ein Wolf kommt, daß er Euch mir nicht wegholt.“

Lächelnd gab er zurück. „Ist es denn ein Lamm, das du hütest?“

Das war köstlich, sie versetzte ernsthaft: „Nein, einen hochgelehrten Herrn, vor dem ich mich schrecklich fürchte“, aber es zuckte ihr schelmisch dazu um die Lippen.

Er fragte: „Wie kommst du darauf, vom Hüten zu sprechen? Bist du einmal auf dem Lande gewesen und hast es gesehen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin nie aus der Stadt herausgekommen und werd’s auch nicht. Aber ich möcht’s gern einmal, im Wald und auf den Bergen muß es schön sein, in meinem Buch steht viel davon, auch von Hirten und Herden.

„Was für ein Buch ist das?“

Sie holte es herbei, ein Band Grimmscher Märchen war’s. „Ich weiß sie beinahe alle auswendig.“

Das führte ihn dazu, sich anzusehen, was ihr kleines Bücherbrett sonst noch enthalte. Etwas über ein Dutzend Bände und Bändchen stand dort, der Mehrzahl nach Schulbücher, auch ein französischer Leitfaden darunter, der Alban fragen ließ: „Du sprichst also wohl französisch?“ Zum erstenmal sah er ein bißchen Befangenheit über ihr Gesicht gehen und sie zögerte etwas mit der Antwort; es machte den Eindruck, als hätte sie gern Ja gesagt. Doch dann verneinte sie mit einer kurzen Kopfbewegung. „Ich hatte nur ein Jahr Unterricht darin.“

Halb ohne es zu wissen, nickte Alban. Er sah ihre Büchersammlung noch weiter durch, Erzählungen von Gustav Nieritz, Campes „Robinson“, ein Deutscher Hausschatz in Prosa und Vers, Gedichte von Chamisso, Eichendorff und Hölty, alte, stark gelesene Exemplare.

Nun fragte er wieder. „Welche von deinen Büchern hast du denn am liebsten?“

Sie zeigte auf die letzten drei, und er erwiderte lächelnd: „Und woher hast du sie bekommen?“

„Der Vater hat sie mir auf dem Jahrmarkt gekauft, wenn mein Geburtstag war.“

Jäh brach ein gewaltiges, die Stubenwände erschütterndes Dröhnen in ihr letztes Wort hinein, Glockenklanggewoge, doch nicht drunten her von der Uhr, sondern von oben herab. Ueberrascht fragte Alban: „Was bedeutet das?“

Das Mädchen antwortete: „Sie werden von unten an den Stricken geläutet.“

„Warum denn?“

„Weil’s Sonntagmorgen ist. Hat’s Euch erschreckt und ist’s [483] Euch zu arg? Ich will Euch Watte ins Ohr thun, das macht’s weniger schlimm.“

Doch er faßte sie an der Hand und hielt sie vom Weggehen ab. „Nein – die Glocken sind seit gestern meine Freunde, ich höre sie gern einmal singen.“

„So setzt Euch zum Frühstück, es hat schon auf Euch gewartet und wird sonst kalt.“

Nun saß er am Tisch, und das Wogen der Glockentöne ging über ihm weiter, doch ihm war’s, als ob ihre Schwingungen sich auch in ihn selbst hinein fortsetzten. Er fühlte sich wie leise von Wellen gewiegt, und schöne Wellen der Empfindung durchfluteten ihn. Dabei dachte er über Gerlind nach.

Er war Philologe, und wenn er dies Studium auch nicht mit der Absicht gewählt, den Lehrerberuf einzuschlagen, so hatte er doch eine Vorlesung über Pädagogik hören müssen, und davon her mußte wohl unbewußt etwas in ihm haften geblieben sein, das sich gegenwärtig geltend machte. Seine Augen sahen zu, wie die schlanken Hände Gerlinds ihm aus der buntgeblümten Kanne in die Tasse einschenkten, danach von dem Brotlaib ein Stück für ihn abschnitten, aber seine Gedanken beschäftigten sich wunderlich mit pädagogischen Betrachtungen. Die gingen ihm von der Frage aus. Was war eigentlich Bildung, oder vielmehr, welcher Wert wohnt dem inne, was man gewöhnlich so nennt? Die Tochter des alten Türmers neben ihm am Tisch gab darauf eine eigentümliche Antwort. Was sie in der Bürgermädchenschule gelernt, was der Umgang mit dem Vater, ihre paar Bücher ihr zugetragen, reichte zweifellos nicht hin, sie im gewöhnlichen Sinne gebildet zu heißen. Doch dem jungen Philologen kam jetzt die Erkenntnis, das und anderes Erlernte mache doch nicht die wirkliche Bildung aus. Das Beste, einzig in Wahrheit wertvolle konnte überhaupt nicht erlernt werden, sondern war Mitgift der Natur, die Art des Gemütes, die Anmut und Aufnahmefähigkeit des Geistes. Wo die sich fanden, war der Keim vorhanden, den sorgliche Pflege zur Blüte echtester, schönster Bildung entwickeln konnte.

„Warum seid Ihr so still?“ fragte Gerlind. „Es wird Euch wohl zu lang’ hier und Ihr seid mit Euren Gedanken schon über der Grenze?“

Alban sah ihr, noch etwas abwesend, ins Gesicht.

Nachdenklich fuhr sie fort. „Aus dem Fenster könnt Ihr wenigstens nach Eurem Ziel hinüberschauen, daran müßt Ihr Euch noch genügen lassen. Und schön ist doch auch dieser Ausblick?“

Sie war aufgestanden, trat ans Fenster und deutete in die sonnenbeglänzte Weite.

Er folgte ihr und gab zurück: „Ja, es ist schön, hier zu stehen.“ Er machte dabei mit dem verwundeten Arm eine kurze Bewegung, als wollte er ihn emporheben, mußte ihn aber vor Schmerz wieder sinken lassen.

Das Mädchen wies nach einem über die letzten Häuser der Stadt hin auf dem Feld groß aufragenden grünen Fleck. „Ist das nicht eine Linde?“

Das Wort gemahnte ihn an des Mädchens Kosename und er entgegnete lächelnd: „Ja, Linde.“ Dann setzte er hinzu: „Da du nie ins Freie kommst, woran erkennst du sie?“

„Drunten auf dem Stadtplatze steht eine, wir haben einmal unter ihr gesessen, der sieht die da drüben gleich. Aber unter der da draußen müßte sich’s noch ganz anders ruhen. Und dann weiter zu gehen, dort am hellen Wasser hin, durch die Felder, wenn das Korn wie Gold auszusehen anfängt, das wär’ eine Lust! Stehen dann nicht auch Blumen drin?“

„Ja, schöne – rote und blaue … so blau wie deine Augen, Linde. Vielleicht – gewiß – wirst du sie auch noch einmal sehen, noch oft. Doch was ist dir?“

Gerlind hatte das Haupt horchend erhoben. Ihr geübtes und sich anspannendes Ohr vernahm etwas, wovon er nichts hörte, sie brach rasch ab. „Da kommen Schritte herauf – es wird wohl der Vater sein – aber es könnte – bergt Euch schnell dahinein!“

Sie zog ihn eilig am Arm in ihre Kammer, schloß zurücktretend die Thür ab und verwahrte den Schlüssel in ihrer Kleidertasche. Alban stand eine Minute lang, ohne einen Gedanken fassen zu können, er fühlte nur das heftige Klopfen seines Herzens. Dann klang im Nebengemach die Stimme Toralts, der eine fremde antwortete, die Thür ward wieder aufgeschlossen und das Mädchen sagte: „Kommt, es ist der Herr Doktor.“

Dem der Aufforderung Folgenden streckte ein junger Mann die Hand entgegen. „Sie können mir ruhig vertrauen, ich trage das schwarz-rot-goldene Band unter den Kleidern auf der Brust, sonst hätte Ihr Gastfreund mich nicht heraufgeholt. Nun wollen wir nachsehen, wo die Kugel der heiligen Staatsordnung steckt. Ich habe das schöne Wort eben drunten gehört, darum liegt’s mir noch im Munde.

Er legte seine Verbandtasche auf den Tisch und nahm chirurgische Geräte aus ihr hervor.

Der Türmer erläuterte währenddessen: „Wir sind ein paar Minuten in der Kirche stehen geblieben und haben der Predigt zugehört. Der Pastor redete von der Ruchlosigkeit solcher, die sich, mit dem Teufel verbunden, gegen Thron und Altar auflehnen, und beschwor zeitliche und ewige Verdammnis herab auf die Verbrecher an der von Gott gesetzten heiligen Ordnung des Staates und alle, die vom Wege der Pflicht abirrend ihnen Beihilfe gewähren! Eine Predigt der christlichen Nächstenliebe war’s, man kam im Vorbeigehen kaum los davon.“

Um die sonst stets ruhig gleichmütigen Lippen des Alten schnitt sich beim letzten Worte ein halb spöttischer, halb bitterer Zug ein, sich zu dem Mädchen kehrend, fügte er jetzt nach: „Geh’ du solange auf den Umlauf hinaus.“

Sie fragte: „Warum soll ich fort? Glaubst du, ich fürchte mich und kann’s nicht mit ansehen?“ Ein Klang von Bekümmernis lag darin, sichtlich widerstrebte es ihr, die Stube zu verlassen.

Der junge Arzt hatte Alban geholfen, den Kittel abzulegen, und drehte sich gegen Toralt. „Ich seh’s schon, mehr braucht’s nicht; lassen Sie Ihre Tochter nur hier bleiben. Sie kann sich als Assistentin nützlich machen, ihre Finger flößen mir Vertrauen ein. Uebrigens scheint’s, daß die Sache ohne viel Schwierigkeit abgeht, die Kugel muß schon ziemlich flugmüde gewesen sein und nur noch gerad’ Kraft gehabt haben, durchs Zeug zu schlagen. Man sieht’s an dem Loch, das sie in die Leinwand gerissen, freilich weniger Schmerz macht ihr Anklopfen drum nicht. Bitte, eine Schale mit Wasser, Jungfer Assistentin, und ein Handtuch, einen neuen Schwamm habe ich selbst mitgenommen.“

Beglückt flog das Mädchen nach dem kleinen Küchenraum und kam mit dem Verlangten zurück. Das Hemd Albans zeigte unweit über dem Eckbogen eine Durchlöcherung, es war zur Vornahme der Operation kein weiteres Kleiderabthun nötig, als den Aermel bis zur Schulter hinaufzustreifen. Die Wunde wies keine scharfen Ränder, hart über ihr wölbte sich die Haut etwas vor und die Untersuchung ergab rasch, daß die ermattet angekommene Kugel dort sitzen geblieben, also nicht bis zum Knochen gedrungen war. Der Arzt sagte, nach seinem Messer fassend: „Sie haben den Arm gerade aufgehoben gehabt, wie das Ding herangeschnurrt ist; es hat sich mehr hineingequetscht, als gebohrt, und die Blutung ist nur schwach gewesen. Ein bißchen Blut muß dafür jetzt noch fließen, hoffentlich das letzte für die verlorene Sache. Wollen Sie es“ – er wandte sich an Gerlind – „mit dem Schwamm wegtrocknen, wenn ich das Messer fortziehe. Nun, ein bißchen spüren werden Sie’s natürlich auch. Denken Sie an etwas, was Ihnen lieb ist, das hilft am leichtesten drüber weg.“

Noch während er das letzte sprach, spaltete er mit einem kräftigen Einschnitt geschickt die Haut oberhalb der Wunde, das Mädchen hielt in der Rechten den angefeuchteten Schwamm bereit, doch griff es jetzt hurtig auch mit der linken Hand zu, denn Alban hatte unwillkürlich eine leicht zuckende Bewegung gemacht, die den aufgestreiften Hemdärmel von der Schulter herabgleiten zu lassen drohte. So hielt sie diesen fest, während sie mit der andern Hand ihrer Aufgabe nachkam, behutsam das quellende Blut fortzutupfen. Mit leiser Stimme und bedrücktem Ton fragte sie dazu: „Thut’s sehr weh?“

Alban wollte erwidern, doch er brachte das Wort nicht heraus, schüttelte nur den Kopf. Sein Körper hatte bei dem Schnitt gezuckt, doch er fühlte keinen Schmerz, nur etwas anderes und das allein die warmen Fingerspitzen, die beim Festhalten des Aermels leicht seinen bloßen Arm berührten. Ihr leises Zittern sagte, Gerlind empfinde den Schmerz, von dem sie glaubte, daß er ihn fühlen müsse.

[496] Rasch ging die Operation von statten, der Arzt äußerte bald, indem er Albans Arm freiließ: „Da haben wir die Uebelthäterin,“ und die Kugel herausziehend, legte er sie auf den Tisch. Unter Beihilfe Gerlinds verband er die Wunde und drückte ihr dabei seine Anerkennung aus. „So gute Assistenz findet unsereins nicht jeden Tag, wie wär’s, wenn Sie einen Beruf daraus machten?“ Doch lachend fügte er mit einem Blick auf den Vater hinzu. „Nein, Sie haben einen besseren, dem ich Sie nicht abspenstig machen will. Wie steht’s denn mit Ihrer Leber? Ein Turmwart hat eben zu wenig Bewegung.“

Das letzte war an Toralt gerichtet und ließ erkennen, daß der Fragende schon zuvor als Arzt in der Türmerwohnung eingekehrt und mit den Verhältnissen darin bekannt war. Nach kurzer Ablenkung kam er auf den Fall, der ihn heute heraufgebracht, zurück. „Bei Ihrer gesunden Konstitution wird die Wunde rasch heilen und kommt nicht weiter in Frage, die viel wichtigere ist, auf welche Weise wir Sie in Sicherheit bringen. Ich bin höheren Orts selbst eine ziemlich mißliebig und mißtrauisch angesehene Person, so daß ich keinen Versuch wagen darf, Sie etwa auf einer nächtlichen Praxisfahrt über die Grenze zu schmuggeln. Zu lange aber dürfen Sie hier oben auch nicht bleiben, ’s ist gerade die Zeit, in der öfter Fremde wegen der Aussicht heraufkommen, und – ist übermorgen nicht auch ein Feiertag?“

Toralt nickte zu der an ihn gerichteten Frage, und der Arzt fuhr fort: „Da scheint’s mir dringend wünschenswert, bis spätestens morgen abend die nötigen Vorkehrungen zu treffen. Wie denken Sie sich die Ausführung am besten?“

Alban verband kein Verständnis mit der Andeutung, daß ein Feiertag ihn hier oben mit besonderer Gefahr bedrohen könne, doch er fragte nicht und dachte auch nicht weiter darüber nach. Der nun folgenden Beratschlagung hörte er zu, als ob sie ihn nichts angehe, vernahm nur mit halbem Ohr, daß der Türmer den Plan erwogen und für den einzig möglichen ansah, seinen Schützling in Frauenkleidung fortzuschaffen. Er solle nach Einbruch der Dunkelheit, mit Gerlind zusammen, einen Wäschekorb tragend, die Stadt in der Richtung auf die Grenze umgehen, doch nicht suchen, diese auf Schleichwegen zu überschreiten, sondern auf der großen Straße gradeswegs am Zollwächtergebäude vorübergehen. Gerlind sei klug und ihre Sprache vollkommen unverdächtig, sie werde unbefangen zu schwatzen wissen und sich mit Geistesgegenwart richtig benehmen. Eine Zeit lang ward dieser Plan hin und her besprochen; der Arzt pflichtete dem Türmer schließlich bei, besonders darin, daß es am ratsamsten sei, den geraden offenen Weg auf der Landstraße zu wählen. Er seinerseits wollte am Nachmittag ins Schweizergebiet hinüberfahren, um genau zur verabredeten Zeit von drüben zurückzukommen und zur Zollvisitation vor dem Schlagbaum anzuhalten, während die beiden unter diesem von der anderen Seite her vorbeischreiten würden. Die Untersuchung seines Fuhrwerks, das er mit etwas Zollpflichtigem auszurüsten gedenke, werde die Achtsamkeit der Grenzwächter in Anspruch nehmen und sie leichter die ungewöhnliche Größe der einen Frauengestalt übersehen lassen. So kam’s zum Beschlusse. Der Arzt stellte seine Uhr genau nach derjenigen Albans, die Augen Gerlinds hatten sich mit stummem Glanz gefüllt, man sah in ihnen, wie ihr das Herz vor Freude bewegt war, daß ihr abermals die Hauptaufgabe bei der Rettung zufalle.

Der junge Arzt erhob sich nach endgültig getroffener Abrede, um fortzugehen; in Albans Gesicht that sich etwas Verlegenheit kund, die jener sofort bemerkte, einer Aeußerung zuvorkommend, sagte er. „Es war mir eine herzliche Freude, Ihnen auch ein wenig nützen zu können. Ich muß hier von Ihnen Abschied nehmen, morgen abend auf dem Wagen müssen meine Hand und mein Mund sich ruhig verhalten. Doch sage ich Ihnen nicht für alle Zeit Lebewohl, hoffentlich kommen doch noch andere Tage, die es Ihnen erlauben, den Fuß über den Grenzstrich zurückzusetzen. Und damit auf ein Wiedersehen im Leben und im deutschen Land!“

„Ja, haben Sie von Herzen Dank und nicht zum wenigsten für Ihren letzten Wunsch – auf ein freudiges Wiedersehen, in deutschem Land oder drüben! Wo es sei, Sie werden einen über die Begegnung Glücklichen finden!“ Beide drückten sich die Hand, Alban begleitete den selbstlosen Helfer bis an die Treppe hinaus.

Als er in die Stube zurücktrat, räumte Gerlind die bei der Operation benützten Gegenstände fort; sein Blick ging nach dem Tisch, auf den die Kugel gelegt worden war; er gedachte sie zur Erinnerung zu bewahren, doch sie lag nicht mehr dort. „Hast du sie mit weggethan?“ fragte er.

Das Mädchen richtete den Blick flüchtig nach dem Tisch und erwiderte. „Ja, wohl mit dem übrigen – in Gedanken – wollt Ihr –?“ Sie brach ab und setzte rasch hinzu: „Thut der Arm Euch gar nicht mehr weh?“

Er lächelte, und über seine jugendlich schönen Züge ging’s wie Sonnenlicht. „Nein, du hast ihm so wohl gethan – mit deinem kühlenden Wasser. Ich glaube, ich könnt’ ihn schon wieder gebrauchen.“ Mit einiger Anstrengung hob er den rechten Arm halb in die Höh’. Sie antwortete. „Ein gelehrter Herr braucht ihn ja notwendig, um wieder schreiben zu können.“

„Ja, sobald ich drüben bin, schreibe ich – daraus wirst du hören –“

Da er anhielt, fragte sie: „Was werd’ ich hören?“

„Wie gut du ihm gethan und daß er es nicht vergessen –“

Sich nach Namen und Herkunft des jungen Arztes erkundigend, sprach Alban hastig weiter. Doch seine Gedanken waren nicht bei dem, was er fragte und sagte, und auch an das Stückchen Blei, das er vorher Tage lang im Arm mit sich getragen, dachte er nicht mehr.

*               *
*

Nicht anders als sonst gab die Turmuhr dem Ohr vom Fortgang des Tages Auskunft, aber Alban Hartlaub war’s bei der Wiederkehr jedes Vollschlages, als sei die Stunde geflogen. Seine Natur hatte eine Veränderung erlitten, er war bisher nicht fähig gewesen, bei ruhigem Aufenthalt in einem Zimmer auch nur für kurze Zeit ohne geistige Beschäftigung zu sein, doch hier oben empfand er kein Bedürfnis danach, nicht einmal das, über irgend etwas zu denken. Als Toralt Obliegenheiten im Turm zu versehen hatte und das Mädchen sich zur Bereitung der Mittagskost in die Küche begab, genügte es ihm, unthätig zu sitzen und regungslos mit träumerischen Augen vor sich hinauszublicken, bis jene zurückkamen.

Eifrig berieten sie nach der Mahlzeit, wie seine Verkleidung zu bewerkstelligen sei, was Gerlind für den Zweck zu geben vermocht hätte, konnte, als fraglos für ihn zu eng und zu kurz, nicht in Betracht kommen. Doch ihre Mutter war kräftig und von hohem Wuchs gewesen, so holte sie aus einem alten Schrank von dieser hinterbliebene Kleidungsstücke herbei und half ihm, da er sich mit ihnen nicht zurecht zu finden wußte, beim Anlegen derselben. Das gab zu manchem Spaß Anlaß, sie begriff nicht oder that wenigstens so, als begreife sie nicht, wie jemand so ungeschickt sein könne. „Freilich, Euer Arm trägt wohl die Schuld und dann seid Ihr ja auch kein Mädchen. Doch habt Ihr keine Schwester? Oder wohl gar eine Braut?“

Es klang ein bißchen, als ob sie das erste gesagt habe, um die Frage nachfügen zu können; er verneinte schnell: „Ich habe niemand, an dem mein Herz hängt!“

Darauf antwortete sie nur: „Aber das Herz von manch einer hängt gewiß an Euch,“ und bückte sich eilig, den Rock tiefer auf seine Füße hinunterzuziehen. „Es muß gehen,“ sagte sie, „ich lasse den Saum aus.“

Wie sie sich wieder aufrichtete, strahlte ihr eine kinderhafte Fröhlichkeit aus dem Gesicht, sie wiederholte: „Es geht, nur über der Brust muß ich’s um ein gutes Stück weiter machen. Ihr seht so schlank aus, daß man meint, es wäre nicht nötig, aber ein Mann ist gehörig breiter in den Schultern als unsereins.“

Sie setzte sich und begann gleich mit Schere und Nadel thätig zu sein. Gewandt und leicht ging es ihr von der Hand.

Der Türmer nahm Hut und Stock, er wollte den Weg, den sie morgen um die Stadt bis zur Grenze zu machen hätten, nach der Uhr abgehen, um genau die erforderliche Zeit zu bemessen, [498] auch sonst sich über Umstände, die von Bedeutung sein könnten, unterrichten. So blieben die beiden allein. Gerlind saß, den Kopf leicht über ihre Arbeit gebeugt, emsig bewegten die schmalen Finger sich hin und her. Von seitwärts sah Alban so die feine Linie ihres Rückens, von einem leichten, duftigen Geflock übernickt, vor sich; manchmal wandte er mit einer plötzlichen Bewegung den Blick davon ab, doch immer kehrten seine Augen bald wieder in die gleiche Richtung zurück. Sie sprach jetzt nicht, als ob ihre Näharbeit sie zu schweigsamem Nachdenken nötigte, aber auf die Dauer konnte er diese Lautlosigkeit in der Stube nicht ertragen, und dazu klopfte sein Herz so laut, daß er glaubte, sie müsse es hören. Er wollte ein Gespräch anfangen, doch wußte nicht, über was, endlich kam er auf ein Mittel, die Stille zu unterbrechen, und fragte: „Soll ich dir zu deiner Arbeit etwas vorlesen?“ Aufsehend antwortete sie freudig: „Ja“, und er nahm wahllos ein Buch von ihrem kleinen Bord. Die Eichendorffschen Gedichte waren’s, daraus begann er zu lesen. Ihm war gleichgültig, was, er wollte nur einen Ton in dem Raume hören, nicht weiter so stumm dasitzen. Aber der Zufall ließ ihn gleich ein Gedicht, das ihm besonders lieb war, aufschlagen, und wie er es anfing, konnte er doch nicht mit der gleichgültigen Stimme fortfahren, sondern legte unwillkürlich in ihren Klang die ganze Empfindung des Gedichts hinein. So las er:

„Aus der Heimat hinter den Blitzen rot
Da kommen die Wolken her;
Aber Vater und Mutter sind lange tot,
Es kennt mich dort keiner mehr.

Wie bald, wie bald kommt die stille Zeit,
Da ruhe ich auch, und über mir
Rauschet die schöne Waldeinsamkeit
Und keiner mehr kennt mich auch hier.“

Wie er schwieg, blickte Gerlind auf und ihm ins Gesicht. Aus dem ihrigen sprach ein stummes Erstaunen, erst auf eine Frage Albans, worüber sie sich wundere, antwortete sie. „Ich habe nie vorlesen gehört – das Gedicht kannt’ ich wohl – aber Ihr habt’s gethan, als ob es von Euch selbst sei, oder Ihr müßtet’s erlebt haben. Das könnt nur Ihr – kein anderer –“

Sie hielt, wie leicht zusammenschreckend, inne, aus den Augenwinkeln drängte sich ihr ein feuchter Schimmer hervor und mit leiser Stimme setzte sie jetzt hinzu: „Verzeiht mir, ich dachte nicht dran – Eure Eltern sind ja beide auch tot –“

Hastig, als ob er die Erinnerung daran zurückdrängte, schlug er das Blatt um, begann etwas Neues zu lesen, ein Gedicht nach dem andern, wie er vorher die schweigsame Stille damit aufzuheben gesucht, so schien er nun zu vermeiden, daß er dem Mädchen wieder eine Aeußerung ermögliche. Doch Gerlind that auch keine mehr, vorgebeugt weiter arbeitend, hörte sie ohne Laut zu. Seine Augen nahmen nichts mehr von ihr wahr, unverwandt hielt er den Blick auf das Buch niedergerichtet. Nun klang’s durch die Stille:

„Es zog eine Hochzeit den Berg entlang;
Ich hörte die Vögel schlagen;
Da blitzten viel Reiter, das Waldhorn klang,
Das war ein lustiges Jagen!

Der Bräutigam küßte die blasse Braut,
Die Mutter sprach leis: Nicht klagen;
Fortschmettert das Horn, durch die Schluchten laut,
Das war ein lustiges Jagen.

Und eh’ ich’s gedacht, war alles verhallt.
Die Nacht bedecket die Runde;
Nur von den Bergen noch rauschet der Wald –,
Und mich schauert’s im Herzensgrundes.“

Während der letzten Verse empfand Alban, daß sich das Licht um ihn verändere, helleren Glanz gewinne. Das ließ ihn unwillkürlich zum erstenmal nach langer Zeit wieder aufblicken und die Ursache erkennen. Die Nachmittagssonne, schon abendlich tief gesunken warf eine rötlich goldene Strahlengarbe durchs offenstehende Fenster. In den Lichtstrom eingetaucht, saß Gerlind, ein leiser Luftzug spielte mit dem Haar an ihren Schläfen. Sie arbeitete nicht, sondern hatte die Hände unbewegt auf dem Schoß ruhen; die Strahlen fielen ihr in die Augen, aber diese leuchteten nicht wie gestern im Glockenraum gleich blauen Edelsteinen, ein trübender Schleier schien vor ihnen zu liegen, durch den hindurch sie auch die Blendung heute nicht fühlte. Ohne Zucken der Wimpern sah sie reglos wie in ferne Weite hinaus.

Jetzt fuhr sie zusammen, Alban war mit einem plötzlichen Ruck vom Sitz aufgestanden. Doch das Geräusch eines Fußtrittes draußen vermischte sich damit, und Gerlind stieß hervor. „Es kommt jemand – geht schnell in die Kammer!“ Als er aber stehen blieb, that sie nicht, was sie am Morgen gethan, trotz der sichtbaren Angst in ihren Zügen griff sie nicht nach seiner Hand, ihn fortzuziehen sondern blieb ebenfalls, wie von einer seltsamen Scheu festgebannt, ohne Bewegung stehen. Ein paar Augenblicke, dann kam ihr vom Mund, der tief Atem schöpfte: „Gottlob, der Vater ist’s“, und Alban wiederholte: „Ja – dein Vater – gottlob!“

Der Türmer trat herein, er war befriedigt von dem, was er ausgekundet, und mehr noch von einer Veränderung im Aussehen des Himmels. Vieljährige Obacht ließ ihm außer Zweifel, daß sich das Wetter auf morgen verschlechtern werde. Doch für das Gelingen der Grenzüberschreitung war das günstig, der Alte fragte jetzt, ob Gerlind schon drunten gewesen sei, für die Abendkost einzukaufen. Sie schüttelte den Kopf und versetzte rasch, daß sie warten gewollt, bis er zurückkomme. Doch zu merken war’s, sie habe nicht daran gedacht; eilig ging sie nun, und Toralt beschrieb seinem Schutzbefohlenen die Wege und Oertlichkeiten, die am nächsten Abend für ihn in Betracht kamen. –

In der Nacht träumte dann Alban von dem, was ihm bevorstand. In Begleitung Gerlinds war er unterwegs, doch nicht zu Lande. Sie fuhren in einem Boot über den See und nicht Abenddunkel herrschte, sondern vor ihnen flog im Osten am Himmel ein rosiges Morgenrot auf. Dem trachteten sie entgegen, auch das Mädchen handhabte ein Ruder, und ihr gegenübersitzend, sah er sie stets gleichmäßig in einer schönen rhythmischen Bewegung sich vor- und zurückbiegen, es erinnerte ihn an den melodischen Klang eines Eichendorffschen Gedichtes. Beide sprachen sie nichts; er trug ein Wort auf den Lippen, aber hielt es zurück; er wollte es Gerlind erst sagen, wenn er drüben gelandet sein würde.

Da plötzlich schwankte das Boot, schweres Dunkel fiel vom Himmel, Sturm heulte und Wasser rauschte, und gleichzeitig raunte eine spöttische Stimme: „Das ist das Rauschen der schönen Waldeinsamkeit.“ Er sah nur noch, daß seine Begleiterin verschwunden war, er allein in dem Fahrzeug saß, und wachte dann auf. Doch das Brausen um ihn dauerte fort und ihm kam zum Verständnis, was es sei. Starke Windstöße trafen und rüttelten den Turm, die Voraussage Toralts bestätigte sich, und der Wind hatte dem Träumenden die Fahrt auf dem See, den Sturm, der das Boot zum Schwanke brachte, vorgetäuscht.

Graues Wolkengetriebe bedeckte den Himmel, doch den Augen Albans erschien der Tag in dem strahlenden Blau seines Frühlingstraumes. Er wußte nicht, ob ihm vor dem Herannahen des Abends bange, oder ob er es zu beschleunigen wünsche, bald so, bald so überkam’s ihn. Einem neuen Leben, dem wirklichen Leben erst, das er noch nicht gekannt, ging er entgegen, aber es beginnen, sich erringen und zu eigen machen konnte er nur drüben in der gesicherten Freiheit. Sie war der feste Boden, auf dem er erst stehen mußte, bis dahin schwankte sein Lebenskahn noch ungewiß, gebrechlich in Wind und Wellen.

Mit welchen Gedanken Gerlind dem Einbruch des Abends entgegensehe, ließ sich nicht erkennen; Zuversicht auf das glückliche Gelingen des Rettungswerks schien sie nicht mehr so fest zu hegen; ihr Gesicht war blasser als in den vorherigen Tagen und auch sonst eine Veränderung darin. In ihren Zügen lag keine Fröhlichkeit, und der kindliche Ausdruck sprach nicht mehr aus ihnen. Still ging sie umher, ihr Gehabe suchte etwas Scheues zu verbergen und offenbarte es gerade, wenn Alban zu ihr sprach. Es schien, auch ihr bange vor dem Kommen der Dunkelheit, und zugleich wünschte sie es ebenfalls rascher herbei. Ihre Hauptaufgabe den Tag über bildete das möglichst passende und täuschende Herrichten der Kleidungsstücke für Alban, daran war sie fast unablässig beschäftigt. Bisweilen war eine Wiederholung der Anprobe nötig, aber sie lachte und scherzte nicht dazu und ließ ihn sich selbst das Kleid überwerfen, ohne ihm dabei behilflich zu sein. So wie sie ihn nicht anblickte, vermied ihre Hand sorgfältig, ihn zu berühren.

Der Wind verstärkte und die Wolken verdichteten sich, früher als bisher begann die Dämmerung. Ab und zu kam es fragend von Albans Mund. „Es wird wohl Zeit?“ Doch der Turmwart war ein sicherer Mann der Uhr und erwiderte: „Nein, es [499] ist zu früh, noch nicht die verabredete Stunde. Nun aber mahnte er: „Jetzt müssen Sie die Kleider anziehen, und um einige Minuten später stand der junge Mann fertig in seiner weiblichen Verkleidung da. Der Arbeitseifer des Mädchens hatte bestes Erfolg erzielt, alles saß richtig, man glaubte, eine Frau in einfacher bürgerlicher Tracht vor sich zu haben, nur der hohe Wuchs fiel ein wenig auf. Das kurze Haar wurde, nach Landessitte, von einem Kopftuch verdeckt, das, fest geschürzt, auf den Nacken fiel und sich über die Stirn fast bis zu den Augen niederwölbte. Gerlind richtete in ihrer Kammer die Wäsche für den Korb her, während der zum Fortgang Gerüstete die Hand Toralts umschlossen hielt und ihm stotternden Tones den Dank für seine Hilfe wiederholte. Nun kam das Mädchen zurück und sagte. „Ich bin bereit.“ Bei dem Klang der Worte zuckte Alban zusammen und stieß plötzlich aus. „Nein – ich will – ich kann nicht – heute nicht – morgen abend wollen wir gehen!“ Er machte eine Bewegung, sich das Tuch vom Kopf zu lösen doch der Türmer entgegnete, ihm die Hand zurückhaltend: „Verlieren Sie den Mut? Das geht rasch vorbei, wenn Sie erst draußen sind. Morgen wär’s das gleiche, und heute ist das Wetter günstig und der Doktor wartet.“

„Wenn wir nicht kommen, wird er heimfahren.“ Bei Alban hatte der Drang, noch zu bleiben, im letzten Augenblick jäh die Oberhand gewonnen, der Alte zauderte kurz, dann aber versetzte er:

„Das wär’s nicht allein, doch morgen ist Feiertag und da ist’s wahrscheinlich, daß der Bräutigam der Linde heraufkommt.“

„Ihr – der Bräutigam – Ihrer Tochter –?“ Alban hatte mit der Hand nach dem Tisch neben sich gegriffen und halb bewußtlos das Wort wiederholt; der Türmer versetzte harmlos: „Das hätte ja nichts auf sich, wenn er nicht bei der Polizei und so pflichteifrig wäre, der junge Sergeant war’s, der vorgestern im Turm bei Ihnen vorbeistieg. Ich wollt’ nicht davon sprechen, es hätt’ Sie vielleicht doch beunruhigt – ohne Grund, denn er ist ein braver Mensch, der die Linde sehr gerne hat. Im Herbst soll die Hochzeit sein. Ich bin nicht der Stärkste, sehe gesünder aus, als ich es bin, da mußt’ ich weiter für das Kind denken und habe Ja gesagt. Nun aber dürfen Sie wegen des Doktors keine Zeit mehr verlieren! …“

*               *
*

Nun ging Alban Hartlaub draußen auf einer Straße. Er hatte keine Erinnerung daran, wie er die Turmtreppe herabgekommen sei, mechanisch hielt seine linke Hand den Griff des Korbes, den Gerlind auf der anderen Seite trug. Sie sprach nichts, möglichst unbemerkt zu bleiben, war geraten. Nach kurzer Zeit bog sie von den Häusern ab an den Stadtrand, schlug diesem entlang einen dunklen Weg ein, unbelebt still war’s, nur der Wind fuhr in heftigen Stößen um die Fortschreitenden. Auch vom Munde Albans kam kein Wort, er war wie betäubt; wohin, zu welchem Zweck er hier gehe, er wußte es kaum. Einzig ein Drang beherrschte ihn: in vollständig lichtlose Finsternis einzutauchen; das ließ ihn weit ausschreiten aber auch einmal die Stimme des Mädchens aufklingen: „Der Vater hat gesagt, wir sollten gleichmäßig gehen, dann kämen wir mit dem Doktor zusammen an.“ Danach ging sie wieder schweigend neben ihm her, und sie gelangten von dem Seitenweg auf die matten Scheins sich aus dem Dunkel abhebende Landstraße, der sie folgten. Vor ihnen flimmerten näher kommende Lichter, Gerlind sagte jetzt: „Das wird die Zollgrenze sein.“ Sie stand still und horchte. „Man hört nichts von Wagenrollen; wir kommen zu früh, doch können noch näher herangehen.“

Sie war ganz Auge und Ohr, Aufmerksamkeit und Vorsicht, alles in ihr richtete sich unverkennbar nur auf den einen Gedanken, Alban ungefährdet hinüber zu bringen. Zum erstenmal begannen einzelne schwere Tropfen aus den Wolken zu fallen, die beiden schritten so weit vor, daß der über die Straße niedergelassene Schlagbaum neben dem Zollhaus erkennbar ward; vor diesem bewegten sich einige dunkle Gestalten. Das Mädchen hatte ein paar Augenblicke den Korb zu Boden gestellt, faßte jedoch eilig wieder nach ihm. „Da – das sind Räder – kommt!“ Der Wind stand von Südwest her, er trug jetzt einen rollenden Klang herüber; Alban that willenlos nach ihrem Geheiß. Nun ward auch Hufschlag vernehmbar, und sie zog mit dem Korb ihren fast schwankend gehenden Begleiter rascher vorwärts. Ein Ruf klang vor dem Schlagbaum, den ein mit einer Leuchte herzukommender Beamter in die Höhe gehen ließ, er fragte: „Sind Sie’s, Herr Doktor? Fahren Sie nur zu, Sie haben ja nichts.“ Die Stimme des jungen Arztes tönte auf. „Heut’ doch, ich schmuggle nichts durch und habe mir etwas von drüben mitgenommen.“ Zwei Grenzwächter waren gleichfalls herangetreten, einer von ihnen drehte sich nach den beiden seitwärts auftauchenden weiblichen Gestalten um und rief sie an. „Wohin? Was tragt ihr? Gerlind antwortete: „Wäsche ins Dorf zurück.“ Er setzte den Fuß gegen sie vor, doch zugleich bäumte das Pferd des Arztes sich, als werde es von einem plötzlichen Stich getroffen, hoch empor und riß den Wagen, ihn wild hin- und herschleudernd, vor. Der Zollwärter sprang zur Seite und der eine Grenzwächter herzu, um das Tier am Zügel zu fassen. Gerlind stieß einen Angstschrei aus und flüchtete, Alban mit sich reißend, erschrocken hastig vor den Rädern unter dem des kurzen Zwischenfalls halber noch nicht wieder herabgelassenen Schlagbaum durch. Dem, der sie angesprochen, schien ihre Stimme und was von ihr im Lichtschein sichtbar ward, Gefallen zu wecken. Er streckte die Hand nach ihrem Arm und sagte lachend: „Laß deine alte Base allein mit dem Zeug laufen, der thut der Regen nichts, stell’ dich so lang bei uns unter!“ Doch, sich schnell losmachend, gab sie ebenfalls lachend zurück: „Da käm’ ich schön an, wenn meine Tante zu Haus erzählte, wo ich geblieben wär’!“ Das Pferd ließ sich nicht beruhigen, bäumte nochmals auf und warf die Deichsel gegen den Grenzwächter herum, der, zurückspringend, mit einem Fluch ausstieß: „Was hat denn das dumme Vieh?“ Verdrossen griff er mit nach dem Zaum, drüben tauchten die weiblichen Kleider, rasch unsichtbar werdend, ins Dunkel. Die Grenze lag hinter ihnen und niemand verfolgte sie; Alban war in Sicherheit.

Er wußte, daß er’s sei, doch weder ein Denken noch ein Fühlen verband sich ihm damit, in dumpfer Empfindungslosigkeit setzte er den Fuß weiter. Der Wind brauste, dagegen nahm der Regen nicht zu, sondern ab; zwischen den jagenden Wolken bildeten sich da und dort Lücken, aus denen Sterne niederfunkelten. Gerlind hatte den Korb als etwas unnötig Gewordenes zu Boden gesetzt, aber blieb nicht bei ihm stehen, sondern ging noch mit auf der Straße fort, eine ziemliche Strecke weit, bis vor ihnen Lichter eines schweizerischen Dorfes schimmerten. Da hielt sie an und sagte. „Dort werdet Ihr Unterkunft für die Nacht finden; ich will Euch noch helfen, die Kleider ablegen.“

Wortlos ließ er’s geschehen; es ward so hell, daß er, wieder in seiner männlichen Tracht zum Vorschein kommend, erkennbar dastand. Das Mädchen hatte das Frauenkleid genommen, ließ es aber gleichgültig zur Erde fallen, nur das Kopftuch, das sie ihm ablöste, behielt sie in der Hand. „So,“ sprach sie, „nun muß ich zurück – lebt wohl!“

Sie streckte ihm die Rechte entgegen, er ergriff sie mechanisch und brachte fast tonlos dazu vom Mund: „Habe Dank!“

Ein paar Augenblicke standen sie so, dann zog Gerlind ihre Hand zurück und wandte sich zum Gehen. Doch sich plötzlich noch einmal umkehrend, schlang sie die Arme um seinen Nacken, küßte ihn hastig auf die Lippen und sagte: „Leb’ wohl!“ Nun lief sie auf der Straße zur Stadt zurück, nach wenigen Sekunden war sie verschwunden.

Alban Hartlaub ging automatisch noch ein paar hundert Schritte vorwärts bis zu einer Stelle, wo ein hoher dunkler Baum am Straßenrand aufstieg. Unter dessen Zweigen blieb er stehen und warf sich fassungslos zu Boden. So lag er stundenlang, nur dumpf vernahm er über sich das Brausen des Windes im Laubwerk. Und mit unsagbarem Wehgefühl klopfte ihm das Herz – „das ist das Rauschen der schönen Waldeinsamkeit!“

Als er sich erhob, hatte die Nacht sich verändert. Das Rauschen ging noch fort, doch am fast wolkenlosen Himmel stand der Mond, alle Blätter des Baumes mit silberhellem Glanz umrieselnd. Eine blühende Linde war’s, und es war die Linde, nach der Gerlind Toralt gestern morgen vom Turme hinübergedeutet und gesagt hatte, unter ihr müsse es sich gut liegen und schön müsse es sein, am hellen Wasser hin weiter zu gehen, durch die Wiesen und das sich goldig färbende Korn mit den roten und blauen Blumen dazwischen.

[509] Alban Hartlaub ist in jener Nacht weiter gezogen und am folgenden Tage und viele Jahre hindurch, weit über Land und Länder. Sein rasch gesundeter Arm hätte ihm gestattet, schon am nächsten Morgen zu schreiben, doch er hat’s nicht gethan.

Wie nach dem Gefecht im Schwarzwald war er unter der Linde aufgestanden von einer Kugel getroffen, nur diesmal ins Herz. Darin hatte sie etwas getötet, das kein Leben wieder fand, doch sein Körper lebte fort und verlangte nach dem, dessen er bedurfte.

Der junge Philologe trug ein Wissen und Können in sich, das ihm auch in der Fremde Sicherung seines Daseins gewährte. Gleichgültig erfaßte er was sie ihm darbot; wie der Naturtrieb einen Verhungernden die Hand nach einer dürren Frucht am Wegrand strecken läßt, nahm er in einer schweizer Stadt eine Lehrerstelle an. Das Glück begünstigte ihn und er war tüchtig; was in ihm schmerzte, mühte er sich, unter rastloser geistiger Thätigkeit zu vergessen. Es gelang nicht, aber er klammerte sich an die Arbeit, hielt sich an ihr aufrecht und sie ward ihm zur hilfreichen Freundin.

Ein Mann von ungewöhnlich gewinnender Erscheinung war er; die auf ihn gerichteten Blicke der Frauen und Mädchen bezeugten es. Seine Vergangenheit als „Achtundvierziger“ umgab ihn mit einem romantischen Nimbus, sein still in sich gekehrtes Wesen übte besonderen Reiz. Er erteilte der Tochter eines reichen Hauses Unterricht, und ihm konnte nicht verborgen bleiben, daß sie mehr und mehr eine wärmere Empfindung für ihn hegte. Sie war schön und von feiner Bildung, das Verhalten der Eltern ließ keinen Zweifel an ihrer Zustimmung, eine glänzende Lebensaussicht breitete sich vor ihm aus. Doch eines Tages blieb er fort; statt seiner teilte ein Brief mit, daß er eine ihm gebotene Stellung in Italien angenommen habe und sie sogleich antrete. Das war der Wahrheit gemäß; rasch hatte er den Entschluß gefaßt und verließ noch am Abend die Stadt. Nur begab er sich noch nicht wirklich auf die Reise, erstieg vielmehr am nächsten Morgen einen der hohen Vorgipfel der weißen Firnzacken. Als er droben stand, dehnte sich unermeßlich unter ihm die Weite bis zu den bläulichen Höhen des Schwarzwaldes, langhin zog sich des Bodensees schimmernde Fläche. Alban suchte mit einem Fernrohr, da trat etwas schmal und schattenhaft aus der Ebene sich Erhebende ihm ins Sehfeld. Das war der Turm, in dem er drei Tage lang verweilt; vor den Augen stand ihm, wie wirklich gesehen, der Glockenraum, und er saß droben, auf dem Balken unter sich hinabblickend, wo an einem schaukelnden Seil ein Gesicht sich zurückbog, aus dem blauer Edelsteinglanz heraufleuchtete. So lange schaute er hin, bis vor dem ermatteten Auge alles formlos verschwamm, dann stieg er wieder den Berg hinunter. Und weiter zog er dem neuen Ziel in der Fremde entgegen, doch gleich seinem Schatten ging mit ihm sein Leid.

Und es verließ ihn nicht, Raum und Zeit hatten keine Macht darüber. Wohl brachte die Erfüllung der altvererbten deutschen Sehnsucht nach den Wundern des Südens es manchmal zu einem Einschlummern, doch der Kopf vermochte immer nur für eine Weile Herrschaft über das Herz zu gewinnen, das sein Leid unverloren und unverändert mit sich trug. Uebers Meer kam er nach Griechenland, Glück und Gunst verschwisterten sich, ihm die Wege zu bereiten – zu gewähren, wonach Tausenden vergeblich der sehnsüchtige Wunsch stand. In Athen ward ihm eine Stellung geboten, die alles in sich schloß, was er zur Befriedigung seines Geisteslebens begehren konnte, und ein Jahrzehnt hindurch nahm er sie ein. Ganz Hellas machte er sich vertraut, doch keine hellenische Frauenschönheit übte eine fesselnde Wirkung auf ihn. In dem deutschen Kreise, mit dem [510] er verkehrte, suchte und fand nun eine Erklärung dafür in der Annahme, daß er in Deutschland eine Braut besitze, und auf eine Frage, die einmal jemand darüber an ihn richtete, antwortete er kurz: „Ja.“ So ward nicht noch davon gesprochen.

Trägen Ganges, wie kaum sich weiter bewegend, schritt derweil die Zeit über Deutschland hin. Dann aber kam doch einmal ein frischerer Hauch, der sich zum belebenden Winde verstärkte – günstige Himmelszeichen verhinderten, daß er zum Sturm anwachse und ausartete. Wie alles im stetigen Kreislauf der Erdendinge, hatte auch die Herrschaft der Willkür, Selbstsucht und Lüge einmal wieder ihre Lebenskraft erschöpft und fiel fast wie von selbst haltlos zusammen. Die gepreßte Brust des deutschen Volkes hob sich, reiner werdende Luft einziehend; bessere Tage kamen auf. Und sie brachten auch den in der Fremde Zerstreuten die Möglichkeit, ungefährdet zur Heimat zurückzukehren. Halb vergessen schon lag die Zeit, in der sie sich mit Wort und Waffen gegen die damalige „Staatsordnung“ aufgelehnt hatten, und der Urteilsspruch, der drohend über ihnen geschwebt, ward offen für nichtig erklärt.

Unter denen, die von dieser Wandlung der heimatlichen Verhältnisse Gebrauch machten, befand sich auch Alban Hartlaub. Erst später that er’s als die Mehrzahl seiner Schicksalsgenossen, ihn zogen keine menschlichen Bande zurück. Aber heimlich hatte oft zwischen den in nackter Schönheit leuchtenden Felsen, den Palmen und Pinien der hellenischen Welt ihn ein Sehnen nach deutschem Waldesschatten erfaßt, und die vom Norden her kommenden Botschaften reiften langsam das Verlangen in ihm zum Entschluß, den auszuführen nichts ihm wehrte; er war zu den äußeren Mitteln gelangt, seinen geringfügigen Ansprüchen gemäß überall leben zu können. Wie stetige Geistesthätgkeit es wohl als eine Art des Lohnes einträgt, hatten die Züge des ins fünfte Jahrzehnt Eingetretenen Jugendfrische bewahrt, nur sein Haar war frühzeitig bleich geworden, umgab wie von Asche grau überflogen den schönen Kopf mit den stillen Augen.

Als ein Fremder kehrte er nach Deutschland zurück, dessen Boden nur seinem Gefühl eine Heimat war. Wo er sich niederlasse, galt ihm gleich, nur nicht in einer Stadt, sondern in stiller Naturumgebung, die vor rauhen Winden, deren er sich entwöhnt hatte, geschützt sei. Das schloß den Norden und das flache Land aus, richtete seine Gedanken auf die Gegenden am Oberrhein, den mildesten Himmelsstrich Deutschlands, und dorthin nahm er seine Richtung. Doch als er, nach Basel gelangt, vom Platz der alten Kaiserpfalz aus jenseit des Flusses die dunklen Schwarzwaldrücken sich aufwölben sah, überkam ihn ein plötzliches Verlangen; es ergriff ihn unwiderstehlich der Drang, noch einmal all’ die Wege zu gehen, die er sich als Flüchtling im Nachtdunkel über Berg und Thal gesucht. Und um eine Stunde später überschritt er jenseit Klein-Basels die deutsche Grenze. Niemand hinderte ihn – ein Wächter stand an der Zollschranke, ohne ihn zu beachten; er mußte ein spielender Knabe gewesen sein, als Albans Leben davon abgehangen, daß er von Norden her in umgekehrter Richtung an den damaligen Grenzhütern vorbeigelaufen.

Der Wanderer folgte der im Wiesenthal aufwärts führenden Straße bis Todtnau; hier hatte er vor dem Gefecht zuletzt übernachtet, nun suchte er den Schauplatz desselben aufzufinden. Dies gelang ihm nicht; die Erinnerung lag zu stark überdämmert, und Bergrücken und Wälder glichen sich zu sehr. Doch ungefähr konnte er durch Nachfragen erkunden, wo es gewesen sein müsse und von dort aus schlug er die Richtung ein, welche das Ziel seiner Flucht ihm damals angewiesen.

Nachdem er seine Wanderung mehrere Tage lang fortgesetzt hatte, konnte ihm aber kein Zweifel bleiben, daß er aus der Richtung des wirklichen Weges, den er innehalten gewollt, abgeraten und in ein Thal gekommen sei, das sein Fuß damals nicht betreten. Schmal zog es sich gegen Süden hin, von Laubwald umschlossen, mählich sich ein wenig verbreiternd und sanft niedersenkend, neben einem leise zwischen nickenden Blumen plätschernden Quellbach ging er abwärts, Thymianduft umgab ihn, von stillen Hängen aufsteigend. Aus dem bergumschlossenen Grund hoben sich ein niedriger Kirchturm mit grünem Zwiebelknauf und zerstreute Häuser, die Nachmittagssonne war schon hinter einen Felsenkamm getreten ein traulicher Abendfrieden senkte sich über das Dorf und den Wald. Alban fühlte sich angezogen, die Nacht hier zu verbringen, und ging nach kurzer Rast in dem kleinen Gasthaus nochmals ins Freie hinaus. Nun begann leise ein Dämmerlicht um alles zu weben; er wanderte ziellos umher, da auf einmal umfing ihn ein süßer Duft, der ihm keinen Zweifel über seinen Ursprung ließ und wie kein zweiter vertraut war. Durch ein Mauerpförtchen wandte er sich der Richtung zu, und eine alte, mit Blüten überdeckte Linde sah ihm entgegen, dann erkannte er, daß er auf den kleinen Dorffriedhof geraten sei, den sie zu einem Teil mit ihrem Gezweig beschattete. Um ihn hoben sich Kreuze und Steine vom Boden, die Grabhügel davor zeigten sich mit Blumen geschmückt, doch nicht mit in Gärten gezogenen, sondern, aus dem Feld und von den Halden herübergeholt, standen blaue Glockenblumen, Tausendgüldenkraut und rote Nelke darauf, da und dort umrankten wilde Rosenbüsche die Denkmäler. Eine sanft schwermütige Lieblichkeit lag über der schweigsamen Schlafstatt, an die von einer Seite der Bergwald sein Laubdach dicht heranwölbte. Doch jetzt unterbrach ein Klang die Stille, von der nahen Kirche ertönte das Abendgeläut, der Glockenschall ging ein Weilchen weich über die Gräber hin, dann verstummte er und die schweigende Ruhe kehrte zurück. Da kam Alban plötzlich die Eingebung, dies Dorf und Thal hier biete ihm den Erdenfleck, nach dem er für das, was ihm noch als Lebensabend zugemessen sei, getrachtet habe, und er brauche nicht weiter zu gehen, einen andern zu suchen. –

Das ist ihm über Nacht zum Entschluß gereift, er hat am nächsten Morgen die Ausführbarkeit geprüft und sie zu seiner völligen Befriedigung möglich gefunden. Um ein Geringes war ein Häuschen zu erwerben, das ihm genügte, ein kleiner Garten gehörte dazu. Nach der anderen Seite sah es nachbarlich hinüber auf die Linde und den Friedhof unter ihr. Dort ließ sich durch unbedeutende bauliche Veränderung eine luftig geräumige Arbeitsstube herstellen, und nach wenigen Wochen ist Alban Hartlaub mit seinen Büchern und dem geringfügigen Hausrat, dessen er bedurfte, darin eingezogen, von einer ältliche Magd, zur Führung der einfachen Wirtschaft begleitet.

Eigentümlich blickten in der stillen Weltabgeschiedenheit des Thales von den Wänden Bilder der Akropolis und hellenischer Tempelreste auf den deutschen Wald hinaus, der sein Laub braun färbte, den dann Schnee durch lange Monate bedeckte und der wieder grüne Blätter am Gezweig aufrollte. Doch zu abgeschieden ward es dem neuen Dorfangehörigen nicht, er war ein Mann der Einfachheit, der nicht nach Menschen Begehr trug. Vom Frühling bis zum Herbst erfreute ihn das Werden und Wandeln der Natur, er holte nach, was seiner Jugend nicht zu teil geworden, und erwarb sich durch Selbstunterricht aus botanischen und zoologischen Werken Kenntnis des Pflanzen-und Tierlebens, das ihn umgab. Und immer deutlicher empfand er, daß er nirgendwo eine ihn friedvoller umfangende Heimstätte zu finden vermocht hätte. Täglich ging er auch einmal auf den kleinen Kirchhof zu seinen stillen Nachbarn hinüber, mit deren fast sämtlichen Namen er von ihren Grabsteinen her vertraut ward. Ein anheimelnder Gedanke war’s ihm, sich hier einmal unter dem Vogelgesang, Sonnengeflimmer und murmelndem Laub zum ewigen Schlaf betten zu lassen.

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So verflossen zwei Jahre und zum drittenmal begann um ihn der Frühling, auch darin hatte er seinen Aufenthaltsort richtig gewählt, daß zu ihm die rauhen Winde aus Nord und Ost nicht über die schützenden Bergwände herabdrangen. Allein jetzt brach es doch eines Nachts herein, von Süden her – ein Föhnsturm, der sich, aus der Höhe niederstoßend, mit ungeheurer Gewalt ins Thal warf. Lange Stunden tobte er, man hörte ihn die Wälder durchkrachen, erst mit dem Morgengrau erlahmte seine Kraft und der schwarz verdunkelte Himmel färbte sich wieder zu mildem Blau um. Ein Frühlingbringer war’s gewesen, doch manchem ein verderblicher; altmächtige Bäume lagen hingeschmettert, geschäftig besserten vielfach die Dörfler an übel beschädigten Dächern. Alban ging auf den Friedhof, er hatte Sorge um die Linde, doch sie stand ruhig aufrecht, nur einzelnes abgebrochenes kleines Geäst deckte den Boden. Dagegen lagen hier und dort altersmorsche Holzkreuze umgestürzt, mannigfach war der Epheu wie mit zerrenden Händen von den Gräbmälern heruntergerissen. So auch das dicht versponnene Gerank eines [511] wilden Rosenstrauches, das noch halb unter dem Ueberhang des Lindengezweigs einen Stein völlig verdeckt gehalten. Nun stand er entblößt da, in der über die Bergwand blickende Morgensonne eine Inschrift zeigend, die Alban noch nie gesehen. Und er las:

„Gerlind Toralt
geb. am 6. Juli 1832, gest. am 10. Juni 1850.“

Ein paar Stunden vergingen, dann suchte Alban Hartlaub den Mann auf, der im Dorf die Totengräberarbeit versah. Doch er fand einen noch jungen, erst seit einigen Jahren damit betrauten Knecht, der über die nicht von ihm hergestellten Gräber keine Auskunft zu geben wußte. Schlaflos brachte Alban die folgende Nacht zu, nur gegen Morgen übermannte ihn ein verworrener Halbtraum, in dem er den Stein vor sich sah und in dem er sich immer wieder sagte, seine Augen seien halb erblindet, daß er nicht zu lesen vermöge, denn hinter dem Namen Gerlind müsse ein anderer als Toralt auf dem weißen Marmortäfelchen stehen. Dann ward er wach, kleidete sich hastig an und ging das Thal nach Süden hinab, den weißen Alpenfirnen entgegen. Und am folgenden Tage durchschritt er die Straßen unter dem hohen Turm der Kirche, deren Zugang sich ihm einst rettend aufgethan.

Wie damals war er fremd in der Stadt, kannte niemand drin als vielleicht einen einzigen ihrer Bewohner, dessen Name ihm obendrein im Gedächtnis entschlummert war. Doch wachte derselbe ihm auf, als er sich die Aerzte des Ortes nennen ließ, und bald klopfte er an die Thür des so ausfindig Gemachten. Eintretend, erkannte er ihn nicht wieder und ward von ihm gleichfalls nicht wiedererkannt. Ein sich den Fünfzigern nähernder Mann war’s, der den Ankömmling für einen Patienten ansah und fragte, welches Uebel ihn herführe. Es dauerte eine Weile, ehe er auf Albans Antwort, in seiner Erinnerung suchend, noch halb ungewiß erwiderte. „Ja, bei dem Alten droben auf dem Turm – und nachher in der Nacht am Grenzhaus – die beiden Frauen mit dem Wäschekorb – ich hatte einen Stachel mitgenommen, mit dem ich mein Pferd unvermerkt wild machte – waren Sie der Flüchtling? Mein Gott, welche Zeit ist darüber vergangen! Ja, ja, nun kommen Sie mir bekannt vor – aber bei meinem Geschäft sieht man so viele Gesichter – es freut mich, daß Sie bei mir vorsprechen – Alban entgegnete: „Sie erwiesen sich mir damals so hilfreich und sagten, als wir uns trennten: auf ein Wiedersehen im Leben und im deutschen Land!“

„Ja, gewiß –“, der Antwortende entsann sich dessen wohl nicht, doch bestätigte er es aus Höflichkeit und lud den Besucher artig zum Platznehmen ein. Das Gespräch ergab, er sei ein vielbeschäftigter Arzt, verheiratet und Vater einer Anzahl schon halb herangewachsener Kinder. „Haben Sie auch Kinder?“ fragte er.

Alban verneinte kurz; er sei unverheiratet; es drängte ihn, auf seinen damaligen Beschützer, den Turmwart, die Rede zu bringen. Der wäre kränklich geworden und seit langem gestorben; ein Kummer, der Gram um seine Tochter, hätte zuletzt sein Leiden beschleunigt. Auf eine Aeußerung des Zuhörers, er erinnere sich, sie sei verlobt und ihre Hochzeit festgesetzt gewesen, erwiderte der Arzt. „Ja, das war eine merkwürdige Sache. Sie rufen es mir ins Gedächtnis. Ihr Bräutigam war hier bei der Polizei – das machte Ihren Aufenthalt damals auf dem Turm etwas gefährlich – übrigens sonst ein braver und hübscher junger Mensch, an dem sich weiter nichts aussetzen ließ. Sie sagten ganz recht, die Hochzeit sollte sein. Der Alte war wegen seiner Gesundheit besorgt, das junge Ding nicht allein in der Welt zurückzulassen, und sie hatte ihren Bräutigam auch gern. Ich bin nicht dahinter gekommen, was nachher zwischen sie geraten ist, aber es muß etwas gewesen sein, denn es ward nichts aus der Heirat und jedenfalls ging die Lösung von ihr aus. Er kam an freien Tagen wie früher auf den Turm, aber sie schob die Hochzeit immer hinaus, vielleicht, daß sie gefühlt hat, wie ihre Gesundheit nachließ. Ich mußte den Vater öfter besuchen, und schon im Anfang vom Winter gefiel sie mir auch nicht so recht, war nicht mehr heiter wie sonst, sondern still und blaß. Sie hustete nicht, aber so im Februar oder März wird’s gewesen sein, daß mir doch klar wurde, was es mit ihr auf sich habe. Der ewige Zug und Wind da oben war jetzt gefährlich für sie, viel Hoffnung blieb mir nicht mehr, aber einen Versuch mußte man doch machen; so schickte ich sie zum Frühling in ein für ihren Zustand besonders gut gelegenes Schwarzwaldthal, wo noch Verwandte von ihrer Mutter lebten, bei denen sie gute Unterkunft fand. Doch das Leiden steckte zu tief in ihr, ich habe gehört, daß sie dort nach einigen Monaten gestorben ist. Ein nettes Geschöpfchen war’s, ohne daß sie eigentlich etwas gelernt hatte, von feinerer Art als die meisten jungen Bildungsdamen; ich glaube, unter besseren Umständen hätte etwas Besonderes aus ihr werden können. Schade! Sie haben sie ja auch gekannt, freilich zu kurz, um sie kennenzulernen und meine Meinung von ihr zu begreifen. Aber nun erzählen Sie mir von sich, wie es Ihnen nach der Nacht, in der ich Ihnen keinen Gruß mehr zurufen konnte, in der Fremde ergangen. Mir wacht’s wieder auf, eine recht stürmische Nacht war’s, die Ihnen zu gute kam.“

*               *
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Alban Hartlaub hat in der Stadt noch den Kirchturm bestiegen, doch an der Wohnung des fremden Türmers ging er vorüber; er wandte sich gleich zum Glockenraum hinauf, in dem er eine Zeit lang sich aufhielt – dann ist er in seine stille Gebirgswelt zurückgekehrt.

Hier suchte er gleich nach seiner Heimkunft die Leute ausfindig zu machen, bei denen Gerlind Toralt ihre letzten Lebensmonate zugebracht hatte, und es gelang ihm. Der Mann war gestorben, doch die alte Frau lebte noch, und er teilte ihr mit, daß er zufällig auf dem Grabstein den Namen des Mädchens gelesen habe, dem er vor Jahren einmal für ihm geleisteten Beistand zu Dank verpflichtet worden sei. Das ließe ihn sich nach ihrer letzten Zeit und ihrem Tode erkundigen.

Mit der Redseligkeit des Greisenalters gab die Befragte ihm Auskunft; in ihrem ereignislosen Leben war’s das Besonderste gewesen. Sie nannte die Verstorbene, zu der sie nur in weitläufigster Verwandtschaft gestanden, mit dem alten, unter den Lebenden sonst beinahe völlig abhanden gekommenen Wort für „Geschwisterkind“ ihre „Nistel“, aber zugleich sprach sie von ihr auch mit einer gewissen Scheu, sie sei so fremdartig zart gewesen und es immer mehr geworden, je näher sie dem Tod kam. Geklagt hätt’ sie nie und am liebsten unter der Linde auf dem Kirchhof gesessen und in einem kleinen Buch, das sie mit hergebracht, gelesen. Wie die Flamme von einem ganz herunterbrennenden Kerzenlicht wär’ sie ausgegangen, zuletzt nur ein kleines Flämmchen noch, das hätte der Tod wie ein leiser Windzug weggeblasen. Aber am letzten Tag davor war sie im Kopf nicht mehr ganz recht geworden und hatte gebeten, man sollt’ ihr eine Bleikugel, das Buch und ein Kopftuch, das sie immer, um sich nicht zu erkälten, um den Hals gebunden gehabt, mit in den Sarg legen. Die Alte weinte beim Erzählen. „An der Kugel, dran lag ja nichts und das haben wir gethan, aber um das Buch und das Tuch wär’s doch schad’ gewesen, sie hätt’ ja doch nichts mehr davon gehabt.“

„So habt Ihr’s noch?“ fiel Alban mit halb versagender Stimme ein. Die Greisin stand auf, humpelte an einen Kasten und kam mit den beiden Dingen zurück. „Dadrin hat’s seit ihrem Sterbetag gelegen.“

Er nahm seine Börse und legte ihr eine Geldsumme in die Hand. Dazu sagte er: „Ich konnte damals dem Mädchen den Dank, den ich ihr schuldig war, nicht abtragen, so laßt’s mich heut’ bei Euch thun. Wenn Ihr mir die beiden Sachen dafür geben wollt – Ihr lest doch wohl nicht in dem Buch?“

Das überhaupt zu können, hatte die Alte allerdings nicht gelernt, und freudig händigte sie ihm für seine Freigebigkeit das Verlangte ein. Er kehrte damit in seine Behausung zurück. Eichendorffs Gedichte waren es, wie er sie aufschlug, sah er eine Anzahl von ihnen mit Bleistiftstrichen am Rand angezeichnet, alle die, welche er droben in der Turmstube vorgelesen. Ueber dem Gedicht. „Es zog eine Hochzeit den Berg entlang“, befanden sich zwei Striche, und die Seite ließ erkennen, daß sie am häufigsten aufgeschlagen worden sei. Auf ihr lag getrocknet ein Blättchen von einer wilden Rose mit noch leis rötlichem Schimmer, und verwischte Spuren wie von etwas Feuchtem zeigten sich auf dem Papier.

Alban hörte im Geiste seine Stimme wieder das Gedicht lesen, und er sah, wie er geendigt, Gerlind Toralt mit den auf den Schoß herabgesunkenen Händen vor sich sitzen, reglos ins Weite hinausblickend, mit ihren Augen, deren leuchtender Edelsteinglanz [512] wie von einem Schleier getrübt war. Heute wußte er, warum, und was sie in der Stunde gedacht, in sich zu fühlen begonnen. Damals war er aufgesprungen und hatte den Arm um sie schlingen wollen. Wenn ihr Vater nicht hereingetreten wäre und er es gethan hätte? Was wäre geschehen und was würde heute sein?

Umsonst, so zu fragen –

Das Kopftuch war jenes, das ihm zu seiner Verkleidung mitgedient. Als letztes hatte ihre Hand es beim Abschied ihm abgelöst – nein, sie war noch einmal zurückgekommen, ihm die Arme um den Nacken zu schlingen und ihn zu küssen. Ein übermächtig aus ihrem Kinderherzen aufwogendes Gefühl, ein Gruß der Liebe! Dunkelverworren hatte er es empfunden – aber sie war die Braut eines andern gewesen. Und sie hatte an Geist und Bildung so tief unter ihm zu sein gemeint, daß keine Möglichkeit sei, er könne Liebe für sie fühlen. Geist und Bildung – und Herzensglück – als Gewichte auf die Waage des Lebens gelegt! Bittere Worte – umsonst auch sie!

Er nahm das Tuch, das sie bis zu ihrem letzten Tag um den Hals getragen und schlang es sich wieder über den Kopf, wie ein Anhauch kam’s ihm daraus, als ob ihre warme Hand es noch eben gehalten habe. So saß er, nach dem Stein unter der Linde hinüberblickend, bis tiefes Dämmerlicht ihn mit Schleiern umwob. Da zündete er seine Lampe an und versuchte zu arbeiten.

Am anderen Tage ging er mit dem Vorstand der Dorfgemeinde auf den Friedhof, bestimmte als zukünftige Grabstätte für sich einen leeren Platz an der Seite derjenigen Gerlind Toralts und erkaufte sich den Grund. –

Die sicher geführte Herstellung des großen Neubaus unseres Reiches, an dessen zu frühzeitige Aufrichtung Alban Hartlaub mit Hand gelegt, hat er nicht mehr gesehen. Im Frühsommer des Jahres 1870 fand seine Wirtschafterin ihn eines Morgens auf der Ruhebank seines Arbeitszimmers für immer entschlafen. Eine heiße Nacht war’s gewesen, er mochte sich, statt ins Bett, dorthin gelegt haben und war im Schlaf vom Schlag getroffen worden, ruhig, wie in sanftem Schlummer lag er. Das Fenster stand offen, und das letzte, was er empfunden, mußte der Duft der Linde gewesen sein, die auf dem Friedhof zu blühen begonnen. Unter ihrem Schatten hat man ihn nach seiner Bestimmung neben Gerlind in die Erde gelegt.