Unsere Genußmittel
Unsere Genußmittel.
Die „sociale Frage“, heute wohl die brennendste von allen, ist in der Hauptsache eine Magenfrage. Ganz natürlich daher, daß Nationalökonomen wie Socialpolitiker der Nahrungsmittelfrage eine große Wichtigkeit beilegen, wobei selbstverständlich die medicinische Welt, als die befugteste Richterin über den physiologischen Werth der Nahrungsmittel, eine bedeutende Stimme hat. All dies ist aber auch ein hinreichender Grund, um der hochwichtigen Frage ein allgemeines Interesse entgegen zu bringen.
Es ist bekannt, daß der menschliche wie der thierische Körper aus einer Anzahl organischer und anorganischer Stoffe besteht, die, aufgenommen, in einem fortwährenden Wechsel sich befinden, wieder ausgeschieden werden und dann durch neue ersetzt werden müssen. Dabei genügt es aber keineswegs, die einzelnen für die Erhaltung des Körpers nöthigen Nährstoffe rein in genügender Menge und in richtigem Verhältniß einzunehmen, in den meisten Fällen müssen vielmehr zusammengesetzte Nahrungsmittel, wie sie im Thier- und Pflanzenreiche gemischt vorkommen, dem Körper zugeführt werden, nur wenige reine Nährstoffe, wie Fett, Zucker, Kochsalz, sind gleichzeitig auch Nahrungsmittel.
Aber selbst die Nahrungsmittel allein genügen zur Ernährung des Meuschen nicht, und zwar desto weniger, auf einer je höheren, verfeinerteren Stufe der Kultur derselbe fleht. So muß die Nahrung, soll sie ihren Zweck erfüllen, aus den verschiedenartigsten Nährstoffen und Nahrungsmitteln mit Hinzufügung sogenannter Reiz- oder Genußmittel gebildet werden. Die Kochkunst, und wir haben dabei nicht nur die Küche des Reichen, sondern auch die des Armen im Sinne, hat danach eine wichtige Aufgabe. Sie hat, sagt von Voit in seiner trefflichen „Physiologie der Ernährung“, nicht nur die Nahrungsstoffe in eine solche Mischung zu bringen, daß der Organismus sich dadurch auf die beste Weise stofflich erhält, sondern auch die Materialien für die Verdauung vorzubereiten und die mannigfachen Genußmittel in richtiger Art und Folge hinzuzufügen, damit die Speisen mit Lust verzehrt werden und einen guten Ablauf der Vorgänge im Darme bewirken. Zu diesem Zwecke wird das Unverdauliche entfernt und das Brauchbare gehörig zubereitet, das heißt ihm eine Form und Beschaffenheit gegeben, daß es leicht durch Verdauungssäfte angegriffen und daher die Zeit der Verdauungsarbeit abgekürzt und der Darm möglichst wenig belästigt wird. Diejenige wohlschmeckende Nahrung, welche allen Anforderungen streng genügt, das heißt welche die für einen bestimmten Fall gerade erforderliche Menge der einzelnen Nahrungsstoffe in richtiger Mischung zuführt und dabei den Körper so wenig als möglich belästigt und abnützt, ist für diesen Fall die richtige Nahrung oder das Ideal der Nahrung.
„Der Mensch lebt nicht von Brot allein“. Dieses alte Sprichwort hat auch seine physiologische Begründung, und nicht ein Luxus ist es, noch mehr zu verlangen, sondern ein nicht abzuweisendes Bedürfniß des Organismus. Der Mensch müßte zu Grunde gehen, wenn seine Nahrung auf Eiweiß, Fett, Stärkemehl, Wasser und Aschebestandtheile beschränkt würde, auf jene Stoffe, die allerdings die Zusammensetzung des Körpers ausmachen, aber niemals allein genügen würden, denselben zu bilden. „Zur Aufnahme und Verdauung der Nahrung gehört mehr, als ein einfaches Verschlucken der zur Erhaltung des Lebens nöthigen Stoffe; wie jede Thätigkeit des Körpers muß auch das Geschäft der Aufnahme der Speise mit einer angenehmen Empfindung verknüpft sein.“ Für jede Funktion unseres Organismus bedarf es einer Anregung, eines Reizes, und wie für die höheren Sinne das Schöne, so ist für die niederen das Angenehme Bedürfniß, um anregend, reizend zu wirken.
Derartige Anreger für die Verdauung und Ernährung sind nun die sogenannten Genußmittel; sie dienen nicht unmittelbar zur Bildung des Körpers, sie sind keine Gewebe bildenden Stoffe, wie die Nährstoffe, jedoch von nicht geringerer Bedeutung und ebenso nöthig zur Erhaltung des Körpers wie diese. Man hat in einem sehr treffenden Vergleiche die Wirkung der Genußmittel mit der der Schmiere an den Maschinen verglichen aus der weder die Maschinentheile hergestellt sind, noch die Kraft für die Bewegung derselben abstammt, die aber den Gang leichter gestaltet. Oder man verglich sie mit der Peitsche, welche das arbeitende Pferd zu größeren Leistungen anspornt, ohne ihm eine Kraft mitzutheilen. Auf eine solche Weise leisten auch die Genußmittel für die Ernährung und für andere Vorgänge im Körper wichtige und unentbehrliche Dienste; sie geben uns nicht wirkliche Kraft, sondern nur das Gefühl von Kraft durch die Einwirkung auf das Nervensystem.
Solche Genußmittel finden sich nun theils natürlich in geringen Mengen den Nahrungsmitteln beigemengt, theils können sie denselben künstlich hinzugefügt, theils aber auch selbständig genossen werden, wie Kaffee, Thee, Kakao, Tabak, Wein, Bier, Branntwein u. dergl. m. Wenn auch die letzterwähnte Klasse in gewisser Beziehung zu den Luxusgegenständen zählt, die wohl entbehrt werden können, so kann man dies doch keineswegs von den erstgenannten Genußmitteln behaupten, für welche das wohlbegründete Urtheil über jene zu einem unberechtigten Vorurtheil geworden ist. „Eine Speise ohne Genußmittel,“ bemerkt von Voit sehr richtig, „ein geschmackloses oder uns nicht schmeckendes Gericht wird nicht ertragen, es bringt Erbrechen und Diarrhöen hervor. Die Genußmittel machen die Nahrungsstoffe erst zu einer Nahrung; nur ein gewaltiger Hunger steigert die Begierde so sehr, daß die Genußmittel übersehen werden, ja daß sonst Ekelhaftes angenehm erscheint.“
Zu einem der einfachsten und besten Genußmittel gehört nun eine starke und warme Fleischbrühe. Dieselbe bereitet, wie von Voit ganz treffend bemerkt, nachdem sie zuerst durch die schmeckenden und riechenden Extraktivstoffe Geschmacksempfindungen hervorgerufen hat, den Magen Gesunder wie Kranker auf die mildeste Weise für das Verdauungsgeschäft vor: die Rekonvalescenten würden die gewöhnlichen Speisen nicht ertragen, wenn ihr Magen nicht vorher für die Absonderung von Saft und die Aufsaugung wieder eingerichtet worden wäre. Die Fleischbrühe hat aber auch allgemein belebende Wirkungen, sie regt nämlich auch die Herzthätigkeit an und macht die Herzschläge zahlreicher und stärker, in Folge davon auch den Blutumlauf lebendiger. Die vortreffliche Wirkung einer guten Fleischbrühe ist durch tauseudfältige Erfahrung seit Langem vollkommen sichergestellt, sie läßt sich nicht bestreiten; täglich erkennen wir ihren Werth, besonders an der Erquickung, die sie dem schwachen Rekonvalescenten oder dem müden Wanderer bringt. Dieser Werth wird dadurch, daß man Fleischbrühe nicht zu den Nahrungsmitteln, sondern zu den Genußmitteln zählt, nicht im Mindesten geschmälert.
Nicht nur dem Bauer, wie Heinrich IV. von Frankreich wollte, sondern einem Jeden wäre daher sonntägig ein Huhn zu einer guten Fleischbrühe im Topfe zu wünschen. Wie so vieles Andere würde auch dies für alle Zeiten ein frommer Wunsch bleiben, wenn nicht die Wissenschaft, so oft als ideal und nutzlos verschrieen und gerade von denen, welchen sie die größten Wohlthaten erweist, auch hier Helferin in der Noth wäre.
Die durch Liebig bewirkte Herstellung des Fleischextraktes war eine der Menschheit bewiesene Wohlthat, wenn auch der große Chemiker von seiner ursprünglichen Ansicht, ein „Nahrungsmittel“ hergestellt zu haben, wieder zurückkommen mußte, weßhalb aber die Erfindung nichts an ihrem Werthe verliert. Sie ist ein Genußmittel, bestehend aus den Extraktivstoffen und in Wasser löslichen unorganischen Salzen des Fleisches, welche eigentlich nichts Anderes, denn eine verdichtete Fleischbrühe bilden.
Es ist ein Triumph der deutschen Wissenschaft wie der Industrie, die ungezählten Rinderheerden der neuen Welt der alten dienstbar gemacht zu haben. Wenn irgendwo die Menschheit für eine geleistete Wohlthat nicht undankbar gewesen ist, so ist es hier der Fall, sie hat den Werth der Gabe erkannt und sich nicht ablehnend gegen dieselbe verhalten, sondern dieselbe zu würdigen verstanden, wie die Millionen Kilo von Fleischextrakt beweisen, die alljährlich verbraucht werden, sodaß sich eine besondere Küche darauf gegründet hat. Nicht nur für Zucht- und Arbeitshäuser, für Versorgungsanstalten und Krankenhäuser ist das Fleischextrakt von unschätzbarem Gewinn, sondern auch für jeden Haushalt, und gar manche Familie müßte der Fleischbrühsuppe entbehren, wenn sie dieselbe nicht durch Liebig’s Extrakt, das auf die Erfindung von Parmentier und Proust zurückzuführen ist, auf so billige und bequeme Weise herstellen könnte.
[239] Wenn auch Liebig vorzugsweise die Anregung zur Bereitung des Fleischextraktes, das nach ihm benannt worden ist, gegeben hat, so hat doch eigentlich die That der Herstellung im Großen die Begründung einer eigenen Industrie, ein anderer Deutscher, Giebert, vollbracht. Was aber deutsches Geisteskapital geschaffen, damit haben vorzugsweise fremde Hände gearbeitet und den Gewinn davon in ihre Tasche gesteckt. Das Werk, zu dem deutsche Gelehrsamkeit die Anregung gegeben, das deutsche Arbeitskraft ausgeführt, haben Ausländer sich angeeignet und in der „Liebig Extract of meat Company“ in Fray Bentos in Uruguay sich zu Nutzen gemacht.
Aber deutsche Umsicht und Einsicht, deutsches Wissen und deutsche Thatkraft sind im Begriff, das Verlorene zurückzugewinnen, und haben bereits ein gut Theil sich wieder angeeignet, nicht allein zum Vortheil des deutschen Kapitales, sondern auch zu Nutz und Frommen der Konsumenten. Ein tüchtiger deutscher Gelehrter, gegenwärtig der gründlichste Kenner der Fleischextraktbereitung, der erfahrenste Praktiker auf dem betreffenden Gebiete, Professor Kemmerich in Santa Elena in Argentinien, hoch geachtet vom verstorbenen Liebig und einstmals auf dessen Empfehlung mit der chemischen Leitung der Fabrik in Fray Bentos betraut, hat die Industrie der Fleischextraktbereitung in der erfreulichsten Weise weiterentwickelt, nachdem er sich zuvor schon die vollste Zufriedenheit seines Lehrers erworben hat, wie aus Liebig's eigenem Munde hervorgeht, der sich in zahlreichen Briefen anerkennend über Kemmerich’s Arbeiten auf dem betreffenden Gebiete geäußert hat.
Liebig’s großer Name hatte das Fleischextrakt mit einem solchen Heiligenscheine umkleidet, daß man es für durchaus vollkommen wähnte, jeder Verbesserung überhoben. Trotz dieses fast unbesiegbaren Vorurtheiles hat Kemmerich den Muth gehabt, der übertriebenen Einbildung entgegenzutreten und den Wahn gründlich zu zerstören. Als erste lebende Autorität auf dem Gebiete der Fleischextraktbereitung hat er, von einer deutschen Gesellschaft dazu in den Stand gesetzt, mit durchweg neuen von ihm verbesserten Maschinen in einer der Fabrik von Fray Bentos in jeder Beziehung ebenbürtigen Anlage zu Santa Elena am Paraná in Argentinien den Beweis geliefert, daß man unter Benutzung der in zwanzig Jahren gesammelten reichen Erfahrungen noch etwas viel Vollkommeneres an Gehalt und Geschmack herstellen kann, als es nach der alten Methode möglich war.
Hoffen wir aber, daß man, trotz des bis jetzt Erreichten, doch noch nicht glauben möge, damit genug gethan zu haben, und daß man auf der Bahn des Fortschrittes wie bisher fortfahren möge, um ein noch besseres und billigeres Produkt herzustellen. Dr. O.