Textdaten
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Autor: Rudolf Cronau
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Titel: Um die Erde. Achter Brief: Ein Monat auf dem Vater der Ströme.
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 14, S. 227-231, 234, 237
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[227]
Um die Erde.
Von Rudolf Cronau.
Achter Brief: Ein Monat auf dem Vater der Ströme.

Unverlöschbar wird in meinem Gedächtnisse die merkwürdige Mississippi-Schwimmfahrt fortleben, welche ich in Gesellschaft des eigenartigen Mannes unternahm, der, eher einem Meergotte des Alterthums als einem Menschen vergleichbar, durch seine abenteuerlichen Wasserreisen den Lesern der „Gartenlaube“ aus früheren Jahrgängen bereits genugsam bekannt ist. Ich spreche vom Capitain Boyton. Da es an dieser Stelle keiner wiederholten Beschreibung der Persönlichkeit, sowie der eigenthümlichen Gummi-Ausrüstung dieser [228] zweibeinigen Amphibie bedarf, so habe ich hier nur kurz die Gründe darzulegen, welche mich bestimmten, während der von Boyton unternommenen Fahrt auf dem Mississippi mich ihm als Reisegefährte anzuschließen. Es war das einmal der Umstand, daß gerade die hohen landschaftlichen Reize des oberen Mississippithales weit weniger bekannt sind, als die meisten sonstigen amerikanischen Naturschönheiten, zweitens aber durfte ich hoffen, während der langsamen Fortbewegung eingehende Studien über den Fluß, seine Ufer, die umliegenden Städte und ihre bei Boyton’s Landungen voraussichtlich zusammenströmenden Bewohner anstellen zu können. Wiewohl sich meine Erwartungen im vollsten Maße erfüllten und ich Gelegenheit fand, mein Tagebuch und meine Skizzenmappe mit mannigfachster Ausbeute zu bereichern, so muß ich mich hier doch darauf beschränken, aus dem reichen Kranze des Geschauten und Erlebten nur Einiges in zwangloser Schilderung dem Leser vorzuführen; denn unsere abenteuerliche Fahrt auf dem Vater der Ströme erstreckte sich fast über die Dauer eines Monats, und da die Scenen rasch vor unseren Augen wechselten, so wäre es geradezu unmöglich, eine vollständige Schilderung unserer merkwürdigen Schwimmfahrt auf dem kurzen Raum weniger Spalten der „Gartenlaube“ dem Leser zu entrollen.


Mündung des Missouri in den Mississippi.
Nach der Natur gezeichnet von dem Specialartisten der „Gartenlaube“ Rudolf Cronau.


Nach reiflicher Ueberlegung war ich mit Capitain Boyton übereingekommen, mit der schwierigen Passage des Quellgebietes des Mississippi keine Zeit zu verlieren, sondern die Hauptstadt von Minnesota, St. Paul, als denjenigen Ort, wo der Vater der Ströme auch für größere Fahrzeuge schiffbar zu werden beginnt, zum Ausgangspunkt der Expedition zu wählen, und so geschah es.

Wohl nach Tausenden zählte die schaulustige Menge, welche die Ufer des Stromes und die ihn überspannende Brücke bedeckte, als wir am Morgen des 30. Mai vorigen Jahres unsere abenteuerliche Reise antraten. Gegen 11 Uhr erschien der Fischmensch, gekleidet in die bekannte Gummihülle, sein kleines, Proviant, Mappen und Instrumente bergendes Miniaturboot, „baby mine“, sorgsam auf dem Arme tragend. Langsam schritt er bis an die Brust in den Fluß hinein und legte sich, die Füße voran, auf den Rücken; „baby mine“ schwamm, und sein Doppelruder gebrauchend, befand Boyton sich bald in der Mitte des Stromes. Auch ich hatte unterdessen mein Boot bestiegen, von dessen Stern die deutsche Flagge wehte und in dessen Schlepptau ein Fäßchen köstlichen Gerstensaftes – ein Geschenk meiner St. Pauler Freunde – sich lustig drehte. Noch einmal wurden die näheren Bekannten und die gesammte jauchzende Menge begrüßt; dann schlug Charlie Mangraff, unser schwarzer Diener und Factotum, mit den Rudern die Fluth, und schon [229] trieben wir der Strombiegung entgegen, die binnen Kurzem das gastliche St. Paul unseren Blicken entrückte. Wir waren allein. Breit und gewaltig entrollte sich vor unseren Augen ein imposantes Strombild, umsäumt von unermeßlichen Waldungen und nur unterbrochen von zahllosen größeren und kleineren Inseln, die auch ihrerseits vermöge einer großartigen und buntfarbigen Vegetation zur Hebung des majestätischen Gesammtbildes wesentlich beitrugen. Den Saum dieser Eilande bekleideten Weiden und Baumwollensträucher, gegen deren hellfarbige, lichtgrüne und silbergraue Blätter mächtige Sycomoren, schwarze und rothe Eichenarten, sowie Linden und Maßholder den dunkleren Hintergrund bildeten. Es lag ein wunderbarer Reiz in diesem Alleinsein mit der Natur, die, von Menschenhand noch unberührt, sich hier in ihrer ganzen jungfräulichen Pracht und Feierlichkeit entfaltete; seltsame, märchenhafte Töne stiegen aus der Tiefe des Wassers herauf, bald dem fernen Gurren der Turteltauben im Walde, bald dem klagenden Rufe der Unken vergleichbar.


Ein Sturm auf dem Pepin-See.
Nach der Natur gezeichnet von dem Specialartisten der „Gartenlaube“ Rudolf Cronau.


Stundenlang trieben wir so stromabwärts; nur ein einziger Dampfer kam uns entgegen, durch die tiefen Laute der Signalpfeife uns seinen Gruß entbietend. Am späten Nachmittage erreichten wir die Stadt Hastings, hier von einem mit Menschen gefüllten Excursionsdampfer jubelnd begrüßt. Da jedoch das felsige Stromufer für eine Landung des Capitains wenig geeignet schien, so schwammen wir weiter, dem 35 Meilen von St. Paul entfernten Prescott zu, wo wir bei Einbruch der Dämmerung anlangten, um am anderen Morgen zunächst die von steilen Felsen überragte Ansiedelung Diamond Bluff zu erreichen. Bis hierher schienen die neuesten Zeitungen mit ihren Berichten über Capitain Boyton’s abenteuerliches Unternehmen noch nicht gelangt zu sein; denn als der Gummimann, dicht am Ufer dahinstreichend, einer halbverfallenen Cottage sich näherte, aus deren Fensteröffnung zufällig der Kopf eines alten Niggers herausfuhr, erschrak der grauköpfige Schwarze bei dem unerwarteten Anblick des unheimlichen Gesellen im Wasser so gewaltig, daß er mit dem Schrei: „bless God, bless God, the devil is there!“ („um Gotteswillen, der Teufel ist da!“) entsetzt zurückprallte. Aehnliche komische Scenen wiederholten sich im späteren Verlaufe unserer Reise noch öfter.

Unter ähnlichen Erlebnissen gelangten wir zu dem Eingange des Lake Pepin, der uns mit seinen windgepeitschten Wellen empfing. Der See, ringsum von Felsgebirgen eingefaßt, ist eigentlich mehr eine Erweiterung des Flußbettes, vier bis fünf Meilen breit und fünfundzwanzig Meilen lang. Am rechten, steilabfallenden Ufer kreuzte eine Schaar mächtiger Falken und Adler; aus der Tiefe des Wassers erscholl wieder und jetzt weit stärker jenes seltsame Gurren, welches wir schon Tags zuvor bemerkt hatten, und das nach der Aussage Einiger von Fröschen und Schildkröten, nach Anderen aber von einer gewissen Art von Fischen herrühren soll. Der Abend war wunderbar schön; die Sonne brach durch die im Westen lagernden Wolkenbänke, und der Streifen Himmel, der zwischen diesen und dem Horizonte lag, erschien wie in lauter Gold gebadet.

Unser nächstes Reiseziel am anderen Morgen war der „maiden rock“ (Jungfernfels), eine senkrecht abfallende Felsenmasse von etwa hundertfünfzig Meter Höhe, an die sich eine ähnliche Sage knüpft, wie sie auch in verschiedenen Gegenden Deutschlands (z. B. beim Mägdesprung im Harz) dem Reisenden begegnet. Hier soll es eine schöne Indianerin gewesen sein, die sich durch einen kühnen Sprung in den Abgrund den Verfolgungen eines Häuptlings entzog. Der maiden rock ist wohl der bemerkenswertheste und interessanteste Punkt in diesem Theile des Mississippigebietes.

Schon seit Morgengrauen hatte sich ein heftiger Wind aufgemacht, und als wir um das Vorgebirge von maiden rock bogen, leuchtete mir mehr und mehr die Unmöglichkeit ein, mit meinem schwachen, schwerbeladenen Kahne, der schon bald nach der Abfahrt von St. Paul zu lecken begonnen, den wildbewegten [230] See zu kreuzen. Glücklicher Weise fügte es sich, daß ich von einem uns begegnenden Manne ein dauerhafteres, für unsere Zwecke durchaus geeignetes Boot einhandeln konnte, auf dem wir wohlbehalten über den See gelangten und gegen Mittag in Lake City eintrafen. Auch in diesem Städtchen concentrirte sich alsbald das gesammte Interesse der Einwohnerschaft auf Capitain Boyton, den kühnen Schwimmer. Jung und Alt wetteiferte, unsern Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten. Die jungen Damen des Ortes schmückten uns mit Blumen, und unser Mittagstisch wollte schier brechen unter der Last der uns dargebotenen vorzüglichen Speisen und Delicatessen.

Nur ein einziger wunder Punkt – und er stellte sich, dank unserem intensiven Durste, bald genug heraus – war schmerzlich zu beklagen. Kaum war nämlich das verhängnißvolle Wort „Bier“ unseren nichts Arges ahnenden Lippen entflohen, als plötzlich Alles scheu vor uns zurückwich. Ja, es war so: über dem Städtchen lag die Temperenzseuche, jene seltsame geistige Epidemie, die sich zum Entsetzen aller Deutschen mit reißender Schnelligkeit in den Vereinigten Staaten verbreitet, die nicht blos Dörfer, Städte und Landschaften, sondern ganze Staaten erfaßt und die, wie allen alkoholartigen Flüssigkeiten, so auch unserem verhältnißmäßig harmlosen deutschen Gerstensafte den Tod geschworen hat. Gleichwohl fand sich auch hier für unsere durstigen Kehlen insgeheim ein modus vivendi, den wir jedoch, in zarter Rücksicht auf die Betheiligten, den Lesern der „Gartenlaube“ nicht verrathen, sondern lieber im verschwiegenen Busen für uns behalten wollen.

Der nächstfolgende Morgen war insofern günstig, als uns der Wind im Rücken stand. Allein je mehr wir in den offenen See gelangten, desto schärfer wurde die Brise, desto unheimlicher die ganze Scenerie; die sich kräuselnden Wellen schlugen höher und höher; weißliche Kämme zeigten sich auf den tiefe und dunkle Thäler bildenden Fluthen, und bald war Alles nur noch ein weißschäumender, wild durch einander tosender Wasserschwall.

Etwa eine Stunde lang vermochten wir, das heißt unser Schwarzer und ich, uns noch in des Capitains Nähe zu halten, endlich aber erlahmten unsere Kräfte, und wir überließen unser Boot den Wogen. Binnen wenigen Minuten war Boyton außer Sicht; immer höhere Wasserberge wälzten sich, vom Sturme gepeitscht, heran, und Sturzwelle auf Sturzwelle überschüttete uns mit ihren Güssen. In dieser Noth sank mein Neger auf die Kniee und begann laut zu beten, zwischendurch mich anflehend, ich solle um Gotteswillen auf das Ufer zuhalten, um dort dem Wogenwirrsal zu entrinnen. Da dies jedoch einmal wegen des kolossalen Anpralles der Wellen an das zunächst liegende Ufer, sodann aber auch wegen der steilen und felsigen Beschaffenheit des Strandes der offenbare Wahnsinn gewesen wäre, so zog ich vor, unbeirrt den bisherigen Cours innezuhalten, um so bald wie möglich den Ausgang des Sees zu erreichen.

Hier war der Kampf und das Toben am ärgsten, Welle wälzte sich über Welle, und die ganze Wassermasse preßte und stürzte sich dem schmalen Ausgange entgegen, dem wir mit reißender Schnelligkeit zutrieben. Fast eine Stunde lang wurde unser Boot wie ein Spielball bald in die Höhe geschleudert, bald wieder in die Tiefe hinabgerissen; Wasserbäche von oben, von unten, von den Seiten flutheten über uns hinweg, schließlich aber war Alles glücklich vorüber, und tiefaufathmend schwammen wir wieder auf dem ruhigeren Fahrwasser des Stromes.

Unser neues Boot hatte die Feuer- oder vielmehr die Wasserprobe glänzend bestanden.

Nachdem wir mehrere Stunden gewartet, langte endlich auch Boyton an, und nun setzten wir nach kurzer Rast über die unterhalb Wabasha und Reads Landing gelegenen Stromschnellen. Erst gegen Abend, als wir uns Fountain City näherten, klärte sich der Himmel allmählich wieder auf; die malerisch schönen Stirnen senkrecht abfallender Felsen erglühten in den Strahlen der untergehenden Sonne und verliehen der Landschaft einen eigenthümlich anheimelnden, an die vaterländischen Ufer des Rheines oder der Mosel erinnernden Charakter. Und wirklich waren es auch vorwiegend deutsche Laute, die hier unser Ohr umtönten; ist doch die ganze freundliche Ansiedelung von Fountain City fast ausschließlich von deutschen Landsleuten bewohnt, mit denen wir den Rest des Abends gemütlich verplauderten.

Nachdem wir auf die ausgestandenen Strapazen prächtig geruht, sah uns das nächste Morgengrauen schon wieder unterwegs. Winona, nach irgend einer schönen Indianerjungfrau benannt, mit seiner mächtigen Eisenbahnbrücke kam bald in Sicht, um ebenso bald wieder hinter uns zu verschwinden. Interessant waren für mich mehrere uns begegnende Canoes mit Winnebago-Indianern. Die Art und Weise, wie sie ihre leichten Fahrzeuge fortbewegten, war mir neu. Die ganze Gesellschaft knieete nämlich in den Booten, tauchte die Ruder einfach vor sich in’s Wasser und zog sie wieder zu sich heran. Im Bug des einen Canoes saß der „Chief“ in rothem Hemde, mit Perlen und Federn geschmückt. Uebrigens sah die ganze Bande ziemlich abgerissen aus und sperrte vor lauter Verwunderung ob unseres vorbeischwimmenden Fischmenschen die Mäuler bis an beide Ohren auf.

Im weiteren Verlaufe des Morgens passirten wir Trempealeau, einen Ort, der sich, anmuthig wie ein Moseldörfchen, gegen einen braungoldigen Sandsteinberg lehnte.

Der nun folgende Abschnitt des Stromes erwies sich angefüllt von den berüchtigten „snags“, das heißt, starken schwimmenden Baumstämmen, deren schwere Wurzeln sich im Moraste des Strombettes festgesetzt und verfangen haben, während der Stamm selbst, mit seinen nackten Aesten einer vielzackigen Lanze gleich, der Stromrichtung folgt und wie eine Palissade im Wasser steht. Während bei niedrigem Wasserstande das düstere Haupt des snag sich nickend aus den Fluthen hebt, verräth bei Hochwasser nichts als ein kaum bemerklicher Wirbel das Dasein dieses Todfeindes aller Dampfer, welche demselben besonders häufig bei der Fahrt zu Berge zum Opfer fallen. Tausende von Schiffen haben sich schon an diesen snags den Leib eingerannt und sind spurlos gesunken, weshalb die Beseitigung dieser submarinen Schiffszerstörer bei der Masse von Treibholz, welches der Mississippi mit sich führt, eine ebenso kostspielige wie vorläufig noch immer ungelöste Aufgabe der amerikanischen Regierung bildet.

In den nächstfolgenden Tagen führte die Reise ohne besonders bemerkenswerthe Zwischenfälle über la Crosse, Brownsville, das prachtvoll gelegene, dem Entdecker des Mississippi zu Ehren benannte De Soto und Lansing (woselbst der deutsche Musikverein uns in den Abendstunden mit einem solennen Ständchen überraschte) nach Mac Gregor, einem zwar hübsch gelegenen, aber in Folge ungünstiger Conjuncturen dem Verfall entgegengehenden Orte, bei dem die schier endlose Pontonbrücke der Chicago-Milwaukee-St. Paul-Eisenbahn den Strom überschreitet.

Ein von Mac Gregor aus unternommener Ausflug nach den zwei bis drei Meilen unterhalb des Städtchens gelegenen „Pictured Rocks“ gewährte mir einen der großartigsten Eindrücke der ganzen Reise. Auf der Spitze der Felsen angelangt, erblickte ich fünfhundert Fuß tief unter mir den Mississippi, der, viele Hunderte von waldgrünen Inseln in seine Stromarme schließend, in stiller Majestät dahinzog; ein Riesenpanorama, umsäumt von abgeplatteten Felsenhöhen, deren unabsehbare, noch von keiner Menschenhand berührte Urwälder in voller, ursprünglicher Schönheit prangten. Erst hier vermochte ich den König der Ströme in seiner ganzen Pracht, in seiner Unermeßlichkeit zu erfassen. Dreißig, vierzig Meilen weit schweifte der trunkene Blick über dieses fließende Meer, über diese ungezählten, herrlichen Eilande dahin. Im Mittelpunkte des Bildes schimmerten die verstreuten Häusergruppen von Prairie de Chien; dort drüben lugte das äußerste Ende von Mac Gregor hinter einem Berghange hervor, während zur Rechten der aus blauer Ferne kommende Wisconsin River seine silbernen Fluthen in gewundenem Laufe längs dichtbewaldeter Hügelketten dem Vater der Ströme entgegenführte – ein Gesammtbild, das auch nur annähernd wiederzugeben dem Griffel keines Sterblichen beschieden ist.

Auf unserer Weiterfahrt berührten wir unter andern Orten auch Clinton, wo die Scenerie des Flusses insofern eine wesentliche Veränderung erfährt, als die die Ufer begrenzenden, steil abfallenden Felsmassen jetzt mehr und mehr verschwinden und leicht hingleitende Höhenzüge an ihre Stelle treten.

Am 13. Juni, Nachmittags, erreichten wir Burlington, vom deutschen Ruderclub der Stadt festlich begrüßt. Während der Fahrt dahin bemerkten wir viele Hunderte von Schildkröten, die sich auf den aus dem Wasser ragenden Baumstämmen sonnten, beim geringsten Geräusch unserer Annäherung aber sofort in der Tiefe verschwanden. Weniger eilig hatten es die grünlich-braunen Wasserschlangen, die, um dürre Zweige geringelt, nur dann den scheußlichen, dreieckigen Kopf emporhoben, wenn ein Frosch oder [231] ein graues Eichhörnchen ihre Ruhe störte. Reich vertreten war auch die Vogelwelt. In den Lüften schwebten weißköpfige Adler, Habichte und Falken von mächtiger Spannweite, während im seichten Wasser die Reiher auf Beute lauerten. Aus der Tiefe des Urwaldes aber klang das einförmige Hacken der Spechte und das Gurren der wilden Tauben, von den Wassertümpeln her das Geschnatter der vielartigen Enten und Gänse zu uns herüber.

Numerisch am häufigsten vertreten von allem Gethier war aber unstreitig die Classe der Netzflügler, die von ihrer Existenz auf die unverschämteste Weise Kunde zu geben pflegten. Die Muskitos vereinigen die Findigkeit deutscher Postbeamten mit der Rücksichtslosigkeit der russischen Nihilisten. Die kleinste Blöße des menschlichen Körpers wird entdeckt; an die Stelle der im Kampfe gefallenen rücken sofort noch zahlreichere Ersatzmannschaften nach; das unglückliche Opfer, des ewigen Sichselbstohrfeigens müde, hält zuletzt verzweifelnd still, und das satanische Insect bleibt Sieger.

Von Burlington aus gelangten wir über Dallas und Madison, in deren Nähe der etwa drei Meilen breite Strom zahlreiche Sandbänke und niedrige Inseln bildet, nach der ehemaligen Mormonenstadt Nauvoo, die im Jahre 1840 unter der Führung des Propheten Joë Smith gegründet, acht Jahre später aber in Folge der entstandenen Streitigkeiten mit der Regierung nach vorheriger Niederbrennung des prachtvollen Tempels von den „Heiligen der letzten Tage“ wieder aufgegeben und mit Utah, der bekannten späteren Niederlassung am Salzsee, vertauscht ward. Die berüchtigten Stromschnellen von Keokuk machten uns, dank dem hohen Wasserstande, nichts zu schaffen. Wir kamen glücklich hinüber und passirten demnächst Alexandria, einen unbedeutenden Ort, in dessen Umgebung die gesammte Städtegeographie des classischen Alterthums sich ein modernes Stelldichein gegeben zu haben scheint. Unweit von Alexandria liegen nämlich Arbela und Gaugamela, etwas entfernter Karthago und ähnliche archäologisch interessante Ortschaften. Charakteristisch für diese an’s Komische streifende Vorliebe der Amerikaner für historische Reminiscenzen ist der Lebenslauf eines bekannten amerikanischen Politikers. Der Mann war nämlich von einer aus Ninive stammenden Mutter in Karthago geboren, genoß in Rom seine Erziehung, lebte dann in Athen, heirathete in Syrakus eine Jungfrau aus Sparta, starb in Troja und liegt in Memphis begraben. Gott Pluto hab’ ihn selig!

In das Reich des Pluto wären wir übrigens auf unserer Weiterreise nahezu selbst hinabgestiegen. Das war jenseits des Ortes Hannibal. Wir waren nämlich, ohne es zu bemerken, in einen Seitenarm des Mississippi gerathen, der hier einen etwa drei Meter hohen Wasserfall bildete. Fast wären wir von dem wilden Strudel begraben worden, doch kamen wir auch diesmal, wenn schon in jähem Sturze und vollständig durchnäßt, hinüber und konnten uns von dem ausgestandenen Schrecken im Städtchen Louisiana wieder erholen.

Je mehr wir jetzt dem Süden zueilten, um so üppiger, wilder und großartiger gestaltete sich die landschaftliche Scenerie. An den Uferborden reckten wahre Baumriesen ihre zackigen Aeste aus dem undurchdringlichen Gestrüppe von Blätterwerk und Schlingpflanzen hervor. Wilder Wein schwang sich in erstaunlicher Fülle an den Stämmen hinauf und sandte von den Gipfeln aus seine Ranken in weitem Bogen wieder zum Erdboden hernieder. Hier und da ragten wie Wartthürme die kahlen, absterbenden Greise des Waldes über das unendliche Meer buntfarbiger Baumwipfel empor, ein Ausguck für die Schaaren der Habichte, Bussarde, Reiher und Aasgeier.

Wunderbar waren die Abende. Um diese Zeit flammte das ganze Firmament in kupferfarbener Gluth, und wie ein weiter See voll glühenden Metalles erschien die ohne Wellenschlag, ohne jede sichtbare Bewegung dem Süden zutreibende Wasserwüste, eingezäunt nur durch zwei lange schwarze Uferlinien, deren Ende hinter den tiefdunklen Silhouetten großer Inseln verschwand. Fliegend schnell kam die Dämmerung. Während im Westen noch gluthrothe Wolken zogen, lagerte im Osten schon bleischweres Dunkel, aus dem nur hin und wieder ein Stern schüchtern hervorleuchtete. Und dann kam die Nacht, und aus den schwarzen, gespenstischen Massen des Ufers erscholl der Eule dämonisches Lachen und des Ochsenfrosches seltsames Blasen, während allüberall roth, grün, gelb und blau phosphorescirende Funken aufleuchteten, um sofort wieder zu verschwinden.

Zwanzig Reisetage lagen bereits hinter uns, und wir zogen, von krachenden Gewittern halb belästigt, halb erquickt (denn die Sonnengluth Tags über wurde allmählich immer drückender), an der Einmündung des Illinois und an jenen seltsamen Kaltsteinformationen vorüber, die sich von hier bis nach Alton das ganze linke Stromufer entlang erstrecken. Einzelne dieser Felsgebilde sollen in früherer Zeit mit indianischen Sculpturen und Malereien geziert gewesen sein, für deren Zerstörung man die Franzosen verantwortlich macht. Nachdem wir in Alton übernachtet, fand uns die Mittagszeit des 19. Juni dem fraglos interessantesten Punkte der ganzen Reise gegenüber: der etwa achtzehn Meilen oberhalb St. Louis sich vollziehenden Mündung des Missouri, oder, richtiger gesagt, der Mündung des Mississippi in jenen.

Welch eine Mesalliance! Der stolze, grüngoldige Flußgott verbindet sich mit einer abscheulich schmutzigen Plebejerin. Im Grunde genommen freilich verbindet er sich nicht mit ihr, er wird heimtückisch von ihr überfallen. Wie ein Riese sträubt er sich gegen die Umarmung seiner mächtigen Gegnerin; wild brausend quirlen die verschiedenfarbigen Fluthen durch einander, hier wirbelt noch eine krystallklare Mississippiwelle empor, als strebe sie, Licht und Freiheit wieder zu gewinnen, aber schon im nächsten Augenblicke wird sie verschlungen von jener gelblich dicken, undurchsichtigen und ekelerregenden Lehmfluth des Missouri, welche der Amerikaner mit dem treffenden Namen „big muddy“ („dicker Schlamm“) getauft hat. So wird nach kurzem, aber heftigem Kampfe der edle Vater der Ströme schmählich überwunden.

Die Bezeichnung der nunmehr vereinten Wassermassen beider Ströme mit dem Gesammtnamen „Mississippi“ ist unstreitig ein geographischer Fehler. Der Charakter des schönen Stromes, der bis hierher so genannt wurde, ist wie mit einem Schlage verschwunden; er ist untergegangen in den Wellen des Missouri, der von nun an der ungeheuern, nach Süden strömenden Wasserfläche wie auch den Uferlandschaften sein eigenartiges Gepräge verleiht. Also: der Mississippi mündet in den Missouri. Nicht allein, daß der Lauf des letzteren um einige hundert Meilen länger ist, sondern er führt auch eine bei weitem größere Wassermasse herzu und ist demnach als der Hauptquellarm des ganzen Stromgebietes zu betrachten.

Wir schwimmen nicht mehr auf der Welle des gemessenen, herrlichen, stolzen Mississippi; wir schießen dahin auf einer wüthenden, kochenden Strömung, auf trüben und reißenden Fluthen, angefüllt mit unaufhörlich wechselnden Schlammbänken, umgrenzt von zerrissenen Ufern, deren unternagte und zerwühlte Erdmassen fortwährend dumpfen Falles in den wild wirbelnden Strom hinabstürzen.

Ohne Zweifel hat die hier gerügte geographische Unrichtigkeit ihren Ursprung in dem Umstande, daß man den Missouri weit später entdeckte, als den oberen, mittleren und unteren Lauf des Mississippi. Wäre das ungeheure Stromsystem des Missouri früher bekannt geworden, man hätte sicherlich letzteren als Hauptfluß betrachtet und dem gemäß seinem Namen die Ehre des Vortritts gegönnt.

Von der mächtigen Strömung der vereinten Wasserläufe des Missouri und des Mississippi getragen, eilten wir nun in beschleunigtem Tempo der Metropole der mittleren Staaten der Union, St. Louis, entgegen. Unabsehbare Häuserlinien, von zahlreichen Thürmen überragt, tauchten endlich am Horizonte auf und nahmen immer deutlichere Umrisse an, und auch die mehr und mehr sich häufenden riesengroßen Ankündigungen von allerhand wohlthätigen Patentmedicinen und sonstigen Quacksalbereien verkündeten nach amerikanischer Weise die große Stadt.

Je mehr wir uns St. Louis näherten, desto rascher wuchs die Flotille von Fahrzeugen aller Art an, die Capitain Boyton und unserem im Schmucke aller denkbaren Flaggen prangenden Boote das Geleit gaben, desto dichter drängte sich die Menge, welche die Ufer belebte. Und als wir, eingeholt von zwei Dampfern, der gewaltigen Steinbrücke zusteuerten, welche, ein Wunderwerk modernen Geistes, hier in drei mächtigen Bogen den Strom überspannt – hilf Himmel, welche Menschenmassen! Schwarz überlagert waren Uferböschung, Brücke, Werfte, Dampfer und Häuser, und überall ein Hüteschwenken und Hurrahrufen, als sollte ein neuer Messias bewillkommnet werden. Unterdessen hatten wir unter fortwährenden Kanonenschlägen und Raketengeprassel die Riesenbrücke passirt und landeten, von der jauchzenden Menge fast erdrückt, am Fuße der Poplar-Straße, von wo wir uns nach dem Lindell-Hôtel begaben.

[234] Wir hatten beschlossen, in St. Louis zwei Tage der Erholung zu widmen, und ich benutzte diese Frist, um mich kopfüber in das Treiben der amerikanischen Großstadt von 350,000 Einwohnern zu stürzen. Gleichwohl werden die Leser der „Gartenlaube“ an dieser Stelle ein näheres Eingehen auf die Hauptstadt des Staates Missouri und ihre Sehenswürdigkeiten nicht erwarten, da dies den mir zugemessenen Raum bedenklich überschreiten würde. Der wichtigen und gewaltig emporstrebenden Stadt wird ihre besondere Würdigung in der „Gartenlaube“ nicht vorenthalten bleiben.

Am Mittwoch, den 22. Juni, Nachmittags, erfolgte unsere Weiterreise unter ähnlicher enthusiastischer Theilnahme des Publicums wie bei unserer Ankunft. Wir passirten am andern Morgen mehrere kleine Ortschaften, die sich schon durch die Namen „Wittenberg“ und „Hamburg“ als deutsche Niederlassungen zu erkennen gaben, und wiederum einen Tag spätter, am 24. Juni, früh elf Uhr, waren wir nach einer Fahrt von fünfundzwanzig Tagen und fünf Nächten am Ziele unserer Reise, der Mündung des Ohio, wohlbehalten angelangt. Von diesem Punkte aus hatte Boyton schon früher, im Jahre 1879, den unteren Lauf des Mississippi bis zum mexicanischen Meerbusen genau in derselben Weise bereist, wie diesmal den oberen Theil des Stromes in meiner Gesellschaft. Ich drückte dem wackern Capitain herzlich die Hand und gratulirte ihm zu der glücklichen Beendigung seines strapaziösen Unternehmens sowie der dabei bewiesenen außerordentlichen Ausdauer und Energie.

Noch waren die Spuren von Regen, Sturm, Wellen und Sonnengluth im Antlitze des Wackern deutlich zu lesen; hatte er doch in den letzten einundvierzig Stunden zweihundert Meilen zurückgelegt, ohne das Wasser nur einen Augenblick zu verlassen; nichtsdestoweniger klangen unsere Gläser an einander, und in echtem deutschen Gerstensafte tranken wir uns zu auf ein lebenslängliches Gedenken unserer gemeinschaftlichen Mississippifahrt.

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Trempealeau am Mississipi.
Nach der Natur gezeichnet von dem Specialartisten der „Gartenlaube“ Rudolf Cronau.