Textdaten
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Autor: Ludwig Ferdinand Huber
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Titel: Ueber moderne Größe
Untertitel:
aus: Thalia – Erster Band,
Heft 2 (1786), S. 6–20
Herausgeber: Friedrich Schiller
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1786
Verlag: Georg Joachim Göschen
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: UB Bielefeld = Commons
Kurzbeschreibung:
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[6]

II.

Ueber moderne Größe.


Die Lobeserhebungen, die man an das ieztlaufende Zeitalter verschwendet, heben sich reichlich gegen die Klagen auf, welche über den Verfall desselben geführt werden; und das achtzehnte Jahrhundert unterscheidet sich von allen vorhergehenden durch die Menge von widersprechenden Komplimenten und Sottisen, die man ihm von allen Seiten aufbürdet. Bei den gutgemeinten Beiwörtern aufgeklärt und philosophisch, womit manche das Zeitalter bestechen zu wollen scheinen, läuft man nicht so sehr Gefahr alle Geduld zu verlieren, als wenn man unbärtige Knaben an deren Seelen die Ammenmilch noch klebt, und entnervte Greise die anfangen von männlicher Energie zu träumen, wenn das Gedächtniß einer beschämenden Würklichkeit in ihnen erloschen ist, unabläßig wehklagen hört, daß Größe und Kraft, und ihre Gefährtinn, die Tugend, ausgestorben sind unter den Menschen. Ein gewisses fantastisches Ehedem das von ieher poetische Floskel war, wird uns auch iezt noch zum Ekel wiederholt. Menschen von schwachem Kopf, von frostigem Herzen, kalte Menschen, aber heiße Deklamatoren pralen mit vergangenen Zeiten, mit Jahrhunderten die nicht wiederkehren werden; und glüklich genug für ihre aufgedunsenen Lobredner, [7] daß sie nicht wiederkehren können, aufzutreten in ihrer Größe und sie zu dem vernichtenden Gefühl ihres Unwerthes zu weken! Aber der edle Jüngling den warmes Gefühl und männlicher Ernst leiten nach Wahrheit zu streben, wie wird dieser sich bestimmen? Manchmal wohl drang sich ihm ein stiller Seufzer auf, wenn er an dem Anschauen Griechischer oder Römischer Größe sich weidete, und er fühlte dunkel die Deutung des Seufzers; aber sein Ziel ist Wahrheit, Gerechtigkeit: wahr und gerecht kann er nicht seyn, wenn er sich der iugendlichen Reizbarkeit des Gefühls, wenn er sich der Fantasie anvertraut, denn sie führt einen lügenhaften Pinsel und an entfernten Dingen übertreibt sie gern Umris und Farben. Er schlägt die Jahrbücher der Nationen auf, welche die politische Verkettung unsrer Zeiten zusammenhalten; und iede hat ihren Vorrath von großen Menschen auf welche sie stolz ist. Jedes Jahrzehend der neuen Geschichte weist ihm seine Helden auf, die kolossalisch aus dem vergessenen Schwarm hervorragen. In ieder Gattung von Größe hat die neue Welt ihre Beispiele, die so vollkommen sind als die berühmtesten der alten. Kein Tableau in dem Alterthum das nicht sein würdiges Gegenstük unter den Neuen fände. Hingerissen von Bewunderung steht er auf dem Punkt freudig zu bekennen, daß wir nicht zu erröthen haben vor unsern Vätern; aber – ein Etwas hält ihn zurük, er zaudert, und wagt es nicht das Urtheil der völligen Gleichheit zu sprechen.

[8] Waren etwa die kleinen Leidenschaften, welche den Haufen der Menschen regieren, den Alten unbekannt? Nein! die menschliche Natur ist sich selbst ewig gleich, und an ihren Gesezen gehen Jahrtausende vorbei ohne sie zu erschüttern. Die psichologischen Erfahrungen an den Individuen, sie mögen uns den Menschen bewundernswürdig oder lächerlich machen, konnten vor dreitausend Jahren um kein Haar anders ausfallen, als heute. Die Quintessenz von Staub war nie Quintessenz von Aether; und wenn man die Menschen alter und neuer Zeiten gegen einander hält, findet man hier Größe wie dort, dort Kleinheit wie hier. So viel ist also gewis: Der Abfall unserer Zeiten gegen die alten besteht nicht in dem Unterschied einzelner Menschen; aber der allgemeine Geist von Größe, der Griechenland und Rom beseelte, und von da aus den übrigen Erdboden beleuchtete, war dieser unzertrennlich an die alte Form der Welt gekettet? ist er zugleich mit ihr verschwunden, um nun in den antiquarischen Kompilationen allein noch ein schwaches Nachbild seines ehemaligen Daseyns zu hinterlassen? Wir sehen große Menschen, edle Menschen unter uns noch aufstehen; aber ist Größe, ist Edelmuth Geist unsrer Nationen? Oder einfacher zu fragen: giebt es noch heutzutage Nationen die Einen Geist haben? Ehemals gab es ganze Staaten, wo gewisse große Handlungen so sehr den Karakter und das Gepräg ihrer Form ausmachten, daß die einzelnen Menschen von welchen sie erzählt werden, unsern unbegrenzten Tribut [9] von Bewunderung kaum zu verdienen scheinen. Nicht immer ist der Mensch gros, der eine große Handlung thut; die wahre Schäzung der Größe hängt oft von der Vorstellung der Handlung in der Seele des Handelnden ab, und die mehr oder weniger widerstrebenden Verhältnisse der Welt ausser ihm, müssen meistens ihren Werth bestimmen. Aber gros ist der Geist des Volkes, dessen Bürger diese Handlungen nothwendig thun müssen, weil Verfassung des Staats, allgemeine und besondre Erziehung, alles was sie sehen und hören, ihnen fast keine Wahl mehr übrig läßt. Muth, Unerschrokenheit kann der Geist einer Nation seyn, und Unerschrokenheit macht die Bürger dieser Nation nicht gros; sonst beschämte vielleicht der schlechteste unter den Makassaren[WS 1] den tapfern Crillon[WS 2] selbst.

Wir mögen immer frohloken, wenn wir bald in grösserer bald in kleinerer Anzahl, Menschen unter uns sehen, die Muth genug haben besser als ihre Zeiten zu seyn; aber wahr, ewig wahr ist es auch, daß die großen Männer des Alterthums blos ihrer Zeiten würdig waren. Der sicherste Beweis, daß der moderne Geist würklich klein ist, wäre vielleicht am Ende dieser: weil der Mensch der in unsern Zeiten gros handelt, ein großer Mensch seyn muß. Bei einer Nation, bei einem Zeitalter, dessen Geist Größe ist, passen ausserordentliche Handlungen in den gewöhnlichen Gang des Lebens, und die Menschen die sie thun, heissen darum nicht ausserordentlich. Wenn Größe die [10] Ausnahme ist, was wird die Regel seyn? Der Ostrazismus[WS 3] der Athenienser, eines der schönsten Denkmale des griechischen Geistes, machte die Größe auch zur Ausnahme; aber welche Größe war das? Der Staat forderte die republikanischen Eigenschaften von seinen Bürgern und erhielt sie. Größe und Kraft waren seine Bestandtheile, Tugend seine Grundlage. Aber über einen gewissen Punkt durften Größe und Kraft und Tugend nicht hinauswachsen; das Volk ehrte, aber fürchtete sie, und machte den Menschen zu einem Bürger der Welt, der zu gros war um Bürger des Staats zu bleiben. Der Ostrazismus war ein Maasstab der bürgerlichen Größe, aber ein Maasstab in den auch Riesen noch paßten. Hätten wir einen Ostrazismus, so wäre iede Größe über diesen Maasstab.

Unsre heutige Welt ist ein kleiner, eingeschrumpfter Körper, an welchem iedes Glied von männlichem Ebenmaas zu gros scheint. Wo sollen wir aber den verzehrenden Grund dieser Atrophie suchen? Sollten wir mit dem Genfer Heraklit die Wissenschaften und Künste verfluchen? sollte die heutige Kultur Schuld seyn, daß wir das Gefilde der Tugend brach liegen lassen? Kultur überhaupt ist es nicht, die den wahren und ausgebreiteten Geist des Großen erstikt; denn obgleich Sparta seine Gesezgebung auf die Verbannung der Wissenschaften und Künste gegründet hatte, ob in späteren Zeiten gleich der Geist der Ritterschaft, bei der äussersten Barbarei und Unwissenheit, [11] noch den lezten Funken von Kraft und Seelenadel lebendig erhielt, bis die Aufklärung auch diesen löschte, so war doch Griechenland in seiner mächtigsten Epoke der Siz des besseren Wissens. Aber die Griechische Kultur glich nicht der heutigen. Die ängstliche kalte Beleuchtung aller Gegenstände die den Menschen begeistern und zu edeln Handlungen entzünden können, hat sie herabgewürdigt, daß sie keinen Enthusiasmus mehr erweken können. Tugend und Größe ist analisirt worden: man hat sie mit dem Seziermesser zerstükt, weil man sie schon als todt betrachtete. Alles ist Wissenschaft geworden, und das Gedächtnis hat das Herz aus der Mode gebracht. Das ewige prometheische Feuer liegt nun unbenuzt; denn die Aufklärung hat iedem sein Lämpchen angestekt, das ihm durch das bischen Leben hilft. Jezt auch noch keimen in manchem Menschen große Gedanken auf, aber bei der Ausführung stößt ihn ieder Schritt an die eisernen Pfosten der Konvenienz. Heis steht oft ein kühner männlicher Entschlus vor seiner Seele, aber ein unübersehbares Heer von Umständen verschwört sich gegen ihn. Wohlstand, Schiklichkeit, Schlendrian, Regelmäßigkeit – wie giebt man die erbärmliche Kraft dieser Worte wenn man die Sprache der Griechen und Römer reden will? – stellen sich in seinen Weg, und er fühlt sich mit kaltem Wasser übergossen. Daher kömmt es daß mancher, geboren ein großer Mann zu werden, entsagte allen hohen Planen und Idealen die seine Seele füllten, handelte wie die kleinen Menschen um ihn her, [12] und allenfalls – ein großer Dichter wurde. Freilich mus uns dieses alles die ausserordentlichen Menschen, welche iezt über den gemeinen Haufen sich erheben, größer machen als die Helden des Alterthums. Diese schöpften Feuer und Licht aus allem was um sie herumlag; iezt ist dem großen Mann gar zu oft seine Seele der einzige Heerd an dem er sich wärmen kann; Er selbst allein mus meistens das Centrum aller seiner Gedanken und Empfindungen seyn. Und so geschieht es, daß wir nur auf Kosten des Zeitalters den Menschen noch achten können.

Die großen Triebfedern des öffentlichen Lebens, Politik, Kriegskunst, Staatsregierung, die sonst sich schwesterlich umarmten, sind jezt auf ewig von einander gesondert. Sie bildeten sonst ein großes, aber einfaches Ganze, dessen Urquellen die ersten einleuchtendsten Grundgeseze der Natur waren, und alle Bürger waren gleich beschäftigte, gleich nüzliche Arbeiter an dem gemeinschaftlichen Staatsgebäude. Jeder Römische Bürger konnte in den Fall kommen für das Vaterland zu sterben, und dieser Tod war ihm leicht; heutzutage ist Ein besondrer Stand allein dazu bestimmt, und durch die gewaltigste Verrenkung der menschlichen Natur ausgezeichnet, den rühmlichen Tod für das Vaterland auf die unrühmlichste Weise zu sterben. Der unterste Römische Bürger, sagt ein französischer Philosoph,[1] hätte einen vortreflichen Gesandten für [13] seine Republik abgegeben; und wie wenige im Staat haben heutzutage das Vorrecht ihm auf diese Art zu nuzen, wie wenige unter diesen wenigen nuzen ihm wirklich! Politik, Kriegskunst, Staatsregierung: was sind sie im modernen Sinn?[2] Feine verwikelte Uhrwerke, wo tausend Räderchen in einander spielen. Einen unter tausenden kann Schiksal und Natur bestimmt haben an der Spize zu stehen, und mit Adlerblik das Ganze zu fassen und zu halten. Aber tausend andre, welche durch ihre Kräfte zu gleichen Ansprüchen mit diesem berechtigt waren, sind in die tausend kleinen Räder der Maschine vertheilt, und müssen ihr Leben durch, ieder an dem seinigen, treiben, ohne iemals zur Perspektive des Ganzen zu gelangen. Was hilft es uns daß hin und wieder große Menschen in der Sonne der Würksamkeit völlig zur Reife kommen, wenn so viele andre die auf der Wage der Geister diesen das Gewicht halten, in die enge Sphäre ihrer bürgerlichen Verhältnisse eingeklemmt werden und nie zu ihrem gänzlichen Wachsthum gedeihen? Der Fall ist vielleicht nicht selten, daß die Kraft, der Geist, womit ehemals ein Staat erhalten oder gestürzt worden wäre, heutzutage in einer Schreibstube mit Kopiren beschäftigt wird. [14] Die Kette ist unabsehbar von der untersten Stufe der Macht zu der höchsten; iedes Glied der Kette beschreibt einen unendlich kleinen Zirkel, und in diesem mögen hundert Menschen sich tummeln, ihre Kräfte auslassen und würken! Hier entdeken wir einen neuen Standpunkt, aus welchem uns das Zeitalter um so viel kleiner erscheint, ie größer die Menschen sind. Die Kräfte der Menschen sind dieselben, welche vor alten Zeiten das Wohl des Staats unmittelbar bewürkten; aber sie bleiben, wenn Geburt und Verhältnisse es so gewollt haben, ewig in den verächtlichsten, armseligsten Würkungskrais verwiesen.

Sich in das Gefühl seiner selbst zu konzentriren und im häuslichen Zirkel gros zu seyn, ist oft der einzige Entschlus, welcher dem edeln Menschen übrig bleibt. Diese häusliche Größe sollte man denken, wäre die einzige, wovon es in unsern Tagen Beispiele geben könnte, weil nicht wie ehemals alle Tugenden, alle Kräfte der Individuen auf Einen Punkt, den Staat, gesammelt werden; aber hier hat das Zeitalter auch die Menschen angestekt, und die häusliche Größe ist selten, seltener fast als die öffentliche. Die mannichfaltigen Bedürfnisse und die mannichfaltigen Arten des Erwerbs, die sich nie in einander fügen wollen; die daraus entstehenden kleinen Leidenschaften des Neids, des kriechenden Ehrgeizes; und vorzüglich die kultivirten[WS 4] Verhältnisse, in welchen die zwei Hälften des menschlichen Geschlechts gegen einander stehen, haben [15] der Seele des Menschen eine traurige Wunde geschlagen. Die Namen Mann und Vater, Weib und Kind, haben ihre Kraft verloren; und die Kultur hat die schönsten Bande der Familien gelöst.

Einen Beweis, wie selten diese häusliche konzentrirte Größe ist, hat neulich die enthusiastische Bewunderung gegeben, womit eine ganze große Stadt, der Versendungsplaz aller Lächerlichkeiten von ganz Europa, dem Tode zweier Menschen huldigte, welche auf die Erreichung eines gewissen Ideals von Freundschaft ihren ganzen Reichthum von Kräften gesezt hatten. Aus einem kleinen Abris ihres Lebens wird man sehen, wie wenig sie dazu geschaffen waren, nach ihrem Tode Helden der Mode zu werden und einen Gegenstand für die deklamatorische Charlatanerie unsrer Tage abzugeben. Man wird wünschen mit ihnen gelebt, in der Sphäre ihrer stillen, sanften Größe existirt zu haben; aber ie inniger, ie tiefer dieser Wunsch ist, desto mehr wird man von dem pralerischen Lärm gestört und betäubt, der über sie erhoben worden ist. Dübrueil und Pechmeja waren aus Einem Ort gebürtig, einem Städtchen in einer Provinz von Frankreich. Sie hatten sich früh gekannt und geliebt, und seit ihrer Jugend sich mit dem Plan herumgetragen, alle Hindernisse die sie trennen könnten aus dem Wege zu räumen, alle ihre Bedürfnisse auf Einen Zweck zurückzuführen, alle verschiedne Auftritte ihres Schiksals auf Ein Ziel zusammen laufen zu lassen, um einst eine gemeinschaftliche [16] Ruhestätte aufzusuchen, wo sie dereinsten[WS 5] Genus ihrer Freundschaft, die vollkommenste Vereinigung ihrer Kräfte erreichen könnten. Von diesem schönen Gedanken geleitet schlugen sie sich glüklich durch Schiksale mancher Art, und sie wurden eine von den seltenen Ausnahmen, daß der helle große Plan eines Geistes über das dunkle Dagegenstemmen des störrigen Zufalls gesiegt hat. Sie erreichten spät ihren Zwek, aber ihre Seligkeit entsprach ganz dem Ideal das sie sich in iüngern Jahren, den Jahren der Ideale, entworfen hatten. Paris war der Himmel dieser Glüklichen: die großen Städte sind Innbegriffe der ganzen Menschheit, ihrer erhabensten Freuden sowohl als ihres drükendsten Elends. Sie hatten Eine Wohnung, Ein Interesse, Eine Existenz, und die Verschiedenheit ihres Alters, ihres Vermögens, ihrer Beschäftigungen, (Dübrueil war einer der geschiktesten Aerzte in Paris und sein Vermögen war ansehnlich; Pechmeja, um einige Jahre der iüngere, lebte von schriftstellerischen Arbeiten und sehr mäßigen Renten) schien zu der Festigkeit ihrer Verbindung beizutragen. Ihre vereinigte Existenz war eine ununterbrochne Reihe von Wohlthaten. Sie arbeiteten einander unaufhörlich an die Hand, unglükliche Menschen aufzusuchen und sie mit vereinigten Kräften zu trösten, die Ungerechtigkeiten des Schiksals an ihnen zu tilgen. Dübrueils Kunst und Vermögen, Pechmejas Geschiklichkeit mit den Menschen umzugehen, das Geheimnis zu durchdringen das edeln Leidenden oft das heiligste ist, das Geheimnis ihres Unglüks, dieses alles [17] wurde angewandt um Glückliche zu machen, Leiden zu versüssen, Thränen abzutroknen. Menschenkenntnis war bei ihnen mit Menschenliebe verbunden; ihre Wohlthaten bestanden nicht in gränzenlosem, ungerechtem Ausspenden, sondern sie kannten die Kunst viel Gutes mit wenigem zu thun: da mancher Reiche, wenn auch gemeine Gutherzigkeit oder Ekel an Klagen und Thränen seine Hände öfnet, mit vielem oft nur wenig thut. Ihre ausgezeichnete Einigkeit fieng an in Paris Lärm zu machen, und ein Buch das Pechmeja heraus gab und worinn man die häufigen Anspielungen auf seine Verhältnisse mit seinem Freund nicht verkennen konnte, trug viel dazu bei die Augen der Müssigen auf sie zu richten. Dieses Buch war Telefus,[3] ein historisches Gedicht in Prosa, dessen Ton meistens philosophisch ist. Wenn man abrechnet, daß die Gattung selbst worinn es geschrieben ist, etwas kaltes, zwitterartiges hat, so giebt dieses Werk die vortheilhafteste Meinung von dem Geiste seines Verfassers. Die Schreibart ist kräftig, edel und rein, und das Ganze hat einen gewissen antiken Schnitt, der den Leser vollkommen in die ältesten Zeiten der Griechischen Größe versezt: die Jünglinge in diesem Gedicht sind sanft und kühn, die Alten weise und ehrwürdig, die Weiber gefühlvoll und bescheiden. Aber den vorzüglichsten [18] Reiz gewinnt es, wenn man den Schlüssel zu dem Herzen des Verfassers hat, wenn man weis, wie vieles darinn fast unwillkürlicher Ausbruch seines innersten Gefühls ist. Man sieht aus vielen Stellen, welche hohen Begriffe seine Verbindung mit Dübrueil ihm von der Kunst das Leben und die Gesundheit der Menschen zu erhalten, eingeflößt hatte, und ein ganzes Buch das der Geschichte zweier Freunde gewidmet ist, athmet völlig die Empfindungen welche den Gehalt seines Lebens bestimmten. Kleofis und Mirenes sind unverkennbar Er und sein Freund. Sein Enthusiasmus geht so weit, daß er einen der bewundertsten Züge von Freundschaft aus dem Alterthum benuzt, sich und seinen Freund in die Lage des Damon und Pithlas hinein dichtet, und diese schöne Handlung mit dem Karakter verwebt, den er unter erdichteten Namen von seiner Verbindung mit Dübrueil entwirft. Nicht lange nachdem dieses Werk heraus gekommen war, starb Dübrueil, und vierzehn Tage darauf sein Freund, der nicht von seinem Bette hatte weichen wollen und von derselben Krankheit angestekt worden war. Ihr Leben war still und einfach gewesen; ihr Tod war rührend für ihre Freunde und glüklich für sie beide. Aber eben dieser Tod, der so natürlich war, daß er die zwei gleichgültigsten Menschen unter ähnlichen äußeren Umständen betroffen haben könnte, machte ein gewaltiges Aufsehen, und nun trug man sich in allen Häusern, in allen Unterredungen mit dem exemplarischen Leben und dem wunderbar simpathetischen Tod der beiden [19] Freunde herum. Die fliegenden Blätter wimmelten von Anekdoten, von Gedichten, von Lobreden auf diese Menschen, deren bescheidne, gepränglose Verbindung niemals auf öffentliches Aufsehen Anspruch gemacht hatte. Keine glänzenden Thaten, keine erhabnen Reden, (das non plus ultra der Zeitungsgröße) wissen selbst die grossprechendsten Ausposauner dieser Begebenheit aufzuweisen. Aber dieses Beispiel von häuslicher Größe, deren Karakter eben diese Einfachheit ist, die Seltenheit einer so vollkommenen, so zärtlichen Freundschaft, war auf die lebhafte Imagination des Pariservolkes gefallen. Eine unwillkürliche, vielleicht ihnen selbst unbewußte Vergleichung einer solchen Vereinigung zweier Wesen zu Einem schönen Zwek mit den tausend sogenannten liaisons, arrangemens, und wie diese armseligen Misgeburten des gesellschaftlichen aber höchst ungeselligen Lebens unsrer Zeiten alle heißen mögen, drang sich ihnen auf, und es entstand daraus ein flüchtiger Enthusiasmus, der aber hoffentlich keine Folgen weiter haben wird, als die ruhige, dunkle Tugend dieser zwei edeln Menschen auf ein Paar Augenblike dadurch entartet zu haben, daß man sie an das Licht der Bewunderung hervorris.

Und dies ist das Schiksal der Größe in unsern Tagen, sie mag in dem weiten Bezirk eines Staats oder in dem engen Krais einer Familie wirken: entweder verkannt und verhöhnt zu werden, oder ihrem [20] innersten Wesen ganz zuwider, ausschweifenden Lobeserhebungen, denen die nacheifernde Wärme fehlt, sich preisgegeben zu sehen.

H.


Anmerkungen des Verfassers

  1. Mably in den Principes des négociations.
  2. England allein scheint hier eine Ausnahme zu machen; England allein zeichnet sich dadurch vor der übrigen Welt aus, daß die Entartung der Individuen den Geist von Größe noch nicht hat verbannen können, welchen ihre Verfassung über diese Insel verbreitet.
  3. Eine deutsche Uebersezung davon ist in S. L. Crusius Verlag zu Leipzig, herausgekommen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Die Makassaren waren gefürchtete Seefahrer in Indonesien.
  2. Louis des Balbes de Berton de Crillon, 1541-1615, war ein französischer Krieger und Gouverneur von Lyon.
  3. Das athenische Scherbengericht
  4. Vorlage: kultivieten
  5. Berichtigung (Siehe Heft 3, S. 140): reinsten