Textdaten
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Autor: Otto Dornblüth
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Titel: Ueber den Schwindel
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 5, S. 142–144
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Ueber den Schwindel.

Von Nervenarzt Dr. Otto Dornblüth.

Eines der Körpergefühle, die für unser Wohlbehagen durchaus erforderlich sind, ist das einer gesicherten Stellung oder Lage unseres Körpers. Das kleine Kind oder das unerfahrene junge Tier beugt sich sorglos über den Rand eines Bettes oder Tisches hinaus, bis es zu Fall kommt; der Erwachsene weiß aus Erfahrung, daß eine gewisse Vorsicht dazu gehört, überall sein körperliches Gleichgewicht zu behalten. In unserem Gehirn sind eigene Organe, wahrscheinlich die Bogengänge des Ohrlabyrinths, die jeden Augenblick ohne unser Wissen darüber wachen, daß der Körper durch seine Haltung im Gleichgewicht bleibt und seinen Schwerpunkt nicht über den Bereich seiner Unterstützung hinausbringt.

Die Sicherheit der durch diese Organe vermittelten Einrichtungen ist so groß, daß wir für gewöhnlich gar nicht daran denken, daß unser aufrechter Gang etwas Besonderes oder Schwieriges ist. Die Sache ändert sich sofort, wenn uns durch äußere Verhältnisse die Schwierigkeit oder die besondere Bedeutung der Erhaltung des Gleichgewichtes klargemacht wird. So zum Beispiel, wenn wir auf sehr glattem oder sehr unebenem Boden gehen oder auf einem Balken einen Bach überschreiten sollen. Die uns aus Erfahrung bekannte Gefahr des Fallens macht uns vorsichtig und ängstlich, und der Grad der Angst richtet sich einesteils nach dem Maße der Gefahr, andernteils nach der „Aengstlichkeit“ des einzelnen. Liegt der Balken dicht neben anderen, so geht man darauf entlang, ohne sich etwas dabei zu denken; es giebt allerdings ängstliche Menschen, die schon hierbei der Gedanke, auf der bestimmten Linie bleiben zu sollen, in störende Befangenheit versetzt. Führt der Balken über einen flachen Graben, so werden die meisten ihn ohne Schwierigkeiten überschreiten, aber die Sache wird zweifelhafter, wenn der Graben Wasser enthält, und sehr bedenklich, wenn es sich etwa um eine tiefe Spalte (in Gletschern oder Felsen) handelt. Der Einfluß der Vorstellungen geht aus diesen Beispielen deutlich hervor. Aus dem Gedanken an die mögliche Gefahr entwickelt sich die Unsicherheit, und diese kann sich bis zu lähmender Angst steigern. Häufig verbindet sich in diesen Fällen mit der Angst das Gefühl, als habe man schon den Halt verloren, und dies Gefühl einer Gleichgewichtsstörung bezeichnet man als Schwindel.

Es giebt aber noch andere Ursachen für das Gefühl der Gleichgewichtsstörung. Wir sind es gewohnt, daß die leblosen [143] Gegenstände unserer Umgebung ihre Ruhelage bewahren oder sich doch nur in Bewegung setzen, wenn eine uns bekannte, von uns wahrgenommene Ursache den Anstoß dazu giebt. Dieses Vertrauen in die Beharrung der Objekte liegt so tief in unserer Erfahrung begründet, daß jede Abweichung davon uns peinlich berührt. Wir sehen auch, daß zum Beispiel ein Hund mit allen Zeichen lebhaften Schreckens entweicht, wenn ein in seiner Nähe an der Wand stehender Stock umfällt; offenbar erschreckt ihn besonders die unerwartete Bewegung des leblosen Gegenstandes. Wir selbst sehen es mit Ruhe an, wenn sich ein Wagen neben uns in Bewegung setzt, dessen Abfahrt wir vorausgesehen haben, aber wir schrecken zusammen, wenn dasselbe plötzlich geschieht, ohne daß wir es erwartet hatten. Vielfach tritt dabei ein deutliches Schwindelgefühl auf; die unerwartete und im Augenblick noch nicht klar gedeutete Bewegung macht uns den Eindruck, als ob wir selbst uns bewegten. Jedermann kennt das täuschende Gefühl, das uns in der Eisenbahn in dem Augenblicke ergreift, wo sich neben unserem Wagen ein anderer Zug in Bewegung setzt; hier tritt natürlich kein Schwindelgefühl auf, weil die Bewegung nichts Unerwartetes hat.

Es können aber auch beim Eisenbahnfahren Schwindelgefühle eintreten, nur daß diese nichts mit dem Unerwarteten zu thun haben, sondern mehr als körperliche Wirkungen zu betrachten sind. Wenn man sich bemüht, bei schnellfahrenden Zügen die scheinbar in wilder Hast vorbeifliegenden Teile der Landschaft ins Auge zu fassen, so übersteigt die Geschwindigkeit der wechselnden Bilder sehr bald die Aufnahmefähigkeit des Auges, man kann das Auge nicht mehr sicher auf den Gegenstand des Sehens einstellen. Die Wirkung ist ganz ähnlich wie bei dem beliebten Spiel der Kinder, wobei sie sich schnell um sich selbst drehen, oder auch beim Tanzen. Es ist bekannt, daß man beim Tanzen viel weniger leicht schwindlig wird, wenn man nicht um sich sieht und die scheinbar umherwirbelnden Objekte betrachtet, sondern vor sich niedersieht. So pflegt auch der Eisenbahnschwindel nicht einzutreten, wenn man nicht zum Fenster hinaussieht; er ist auch geringer beim Vorwärtsfahren, wo man die Bilder schon verhältnismäßig lange herankommen sieht, als beim Rückwärtsfahren, wo sie kurz vorbeihuschen und dabei von Augenblick zu Augenblick undeutlicher werden. Es sei nebenbei bemerkt, daß dies nicht der einzige Unterschied in der Wirkung des Vorwärts- und Rückwärtsfahrens ist, denn mancher verträgt letzteres auch im Dunkeln und bei geschlossenen Wagenvorhängen nicht, ein Zeichen, daß die Bewegung an sich etwas Einfluß haben muß.

Die schwindelerregende Wirkung des schnellen Vorbeiziehens der Gesichtseindrücke verrät sich übrigens auch sonst bei vielen Gelegenheiten, so wenn ein Eisenbahnzug in voller Fahrt dicht vorbeifährt, oder wenn die Fülle der sich vorbeibewegenden Eindrücke sehr groß ist, z. B. wenn man in belebten Straßen der Großstädte die Einzelheiten der vorüberwogenden Menge genauer betrachtet. Auch ein einfacher Wechsel der in unser Auge gelangenden Lichtmenge kann ähnlich wirken, so z. B., wenn wir an einem Lattenzaun entlanggehen, hinter dem die Sonne steht, oder bei fortgesetztem Flackern einer Bogenlampe etc. Viele Menschen empfinden bei diesen Eindrücken nur ein Unbehagen, sensible dagegen oft ein deutliches Schwindelgefühl. Bei empfindlichen Personen genügen auch von den angedeuteten Bewegungsvorgängen schon recht geringe Grade, um sie schwindlig zu machen; es giebt Menschen, die schwindlig werden, sobald sie schnell den Kopf drehen oder sich tief bücken. Bei solchen genügt wohl auch die durch Alkohol oder Kaffee oder durch eine starke Cigarre hervorgerufene Erregung des Blutumlaufs, um Schwindelgefühle zu erzeugen.

Viel größer und nachhaltiger ist die Schwindelwirkung, wenn die Gleichgewichtsstörung durch ganz unerwartete und stark erregende Vorgänge bewirkt wird, wie z. B. beim Erdbeben. Es ist wiederholt mitgeteilt worden, daß die von solchen Erschütterungen Betroffenen jahre- und jahrzehntelang das Gefühl der Unsicherheit nicht wieder losgeworden sind.

Zu den körperlich bedingten Schwindelgefühlen gehören auch die, welche bei einer Reihe von krankhaften Zuständen auftreten. Am bekanntesten sind dem Laien die Schwindelanfälle bei Ohnmacht und bei sogenannten Kopfkongestionen, bei Blutandrang zum Kopf. Sie mögen zum Teil mit den dabei vorkommenden Sehstörungen, mit dem Flimmern und dem Schwarzwerden vor den Augen, zusammenhängen, wie denn auch bei plötzlich eingetretenem Schielen infolge von Augenmuskellähmung ganz gewöhnlich Schwindel entsteht, der dann durch Schließen des abweichenden Auges beseitigt werden kann. Hauptsächlich wird es sich aber auch bei dem Ohnmachts- und Kongestionsschwindel um Schwankungen in der Blutverteilung in den Gleichgewichtsorganen des inneren Ohres handeln, deren Thätigkeit dadurch gestört wird. Auf direkter Störung dieser Organe beruht es auch, daß Erkrankungen des inneren Ohres oft zu sehr schweren Schwindelanfällen führen. Eine weitere Quelle von Schwindelerscheinungen, die ohne erkennbare äußere Ursache auftreten, sind Erkrankungen des Kleinhirns, das ebenfalls Organe zur Erhaltung unseres Körpergleichgewichtes enthält.

Von diesen im Ohr und im Gehirn liegenden Ursachen des Schwindels haben die meisten an der lästigen Erscheinung Leidenden etwas gehört, und sie kommen daher sehr gewöhnlich auf die Vermutung, daß auch bei ihnen etwas Derartiges vorliege. Das ist nun zum Glück in den weitaus meisten Fällen nicht richtig. Die Gehirn- und Ohrkrankheiten, die sich mit Schwindel verbinden, äußern sich regelmäßig zugleich in anderen, viel hervorstechenderen Erscheinungen, so daß es hierbei selten der Schwindel ist, der die Kranken zum Arzte treibt. Wo dagegen das Schwindelgefühl im Vordergrunde der Erscheinungen steht, handelt es sich fast ausnahmslos um neurasthenischen, d. h. auf Nervenschwäche beruhenden Schwindel. Auch dieser kann nämlich ohne jeden äußeren Anlaß auftreten, so daß der davon Befallene den Eindruck hat, es müsse irgend etwas in seinem Kopfe nicht in Ordnung sein. Die eigenen Empfindungen bei dem nervösen Schwindel wechseln der Art und dem Grade nach sehr. Oft handelt es sich nur um das Gefühl, als sei man nicht imstande, ganz gerade zu gehen, und dieses Gefühl tritt besonders dann auf, wenn man vor anderen hergeht und sich beobachtet glaubt. Gewöhnlich ist die nur durch eine gewisse Befangenheit hervorgerufene Unsicherheit, wenn überhaupt vorhanden, so gering, daß andere nichts davon sehen, zuweilen ist allerdings eine leichte Abweichung von der geraden Weglinie bemerkbar. Es handelt sich dabei in der That um nichts anderes, als wenn man, wie vorhin gesagt, auf einem Balken entlang gehen soll: nur die Befangenheit macht unsicher. In anderen Fällen haben die Neurasthenischen deutlich das Gefühl starken Schwankens, ja sogar des Hinstürzenmüssens, und es können sich Kopfdruck oder das Gefühl von Leere im Kopf, Flimmern vor den Augen, Ohrensausen, Schweißausbruch, Uebelkeit und sogar Erbrechen dazugesellen, kurz die körperlichen Begleiterscheinungen der Angst, die als eine häufige Erscheinung bei Neurasthenie vorkommen. Wie die Angstzustände selbst, mögen sie auch noch so bedrohend auftreten, niemals eine wirkliche Gefahr für den Kranken mit sich bringen, so sind auch die schwersten Schwindelanfälle der Neurasthenischen stets ungefährlich. Damit soll natürlich nicht gesagt sein, daß sie keiner Behandlung bedürften; vielmehr ist es dringend wünschenswert, daß sie von Anfang an recht sorgfältig behandelt werden, weil sie den Kranken immer sehr quälen, und weil ohnehin das dem Menschen zugeteilte Maß an Lebensfreudigkeit durch die so verbreiteten nervösen Krankheiten reichlich verkürzt wird.

Es kann nicht die Aufgabe dieser kleinen Abhandlung sein, die bei wirklichen Krankheiten vorkommenden Schwindelzustände genauer zu besprechen oder gar zu ihrer Behandlung anzuleiten. Dazu gehört in jedem Falle die Erfahrung des damit vertrauten Arztes, der die Behandlung genau dem Einzelfalle anzupassen hat. Aber es ist eine geeignete und, wie ich glaube, dankbare Aufgabe, den Leser darüber zu belehren, wie er die Neigung zu Schwindel und schwindelähnlicher Aengstlichkeit bekämpfen kann, die so vielfach bei Menschen mit „nervösem Temperament“ auftritt. Wir rechnen dazu vor allem die Schwindelgefühle, die beim Fahren auftreten, und damit überhaupt das beim Eisenbahnfähren auftretende Mißbehagen, ferner die übermäßige Empfindlichkeit gegen schnell wechselnde Sinneseindrücke, wie sie in dem Schwindligwerden beim Anblick vorüberwogender Menschenmassen zum Ausdruck kommt, und vor allem die zu große Höhenangst, den sogenannten Höhenschwindel.

Als Höhenschwindel bezeichnet man die Empfindungen des Unbehagens, der ängstlichen Unsicherheit, die sich bei sehr vielen Menschen einstellen, wenn sie von einem erhöhten Punkte [144] in die Tiefe blicken. Es giebt viele Menschen, die völlig schwindelfrei sind, die von den größten Höhen in die tiefsten Abgründe blicken können, sogar von mangelhaft gesichertem Platze aus, ohne daß ihnen irgend eine peinliche Vorstellung kommt. Andere dagegen werden von lebhaftem Unbehagen erfaßt, wenn sie nur aus dem Fenster oder vom Balkon eines ersten Stockwerkes aus auf die Straße sehen sollen, es macht sie ängstlich und schwindlig, wenn sie im Theater in einem der erhöhten Ränge sitzen müssen. Der Grad der Mißempfindungen wechselt von dem unüberwindbaren Gefühl, daß einem der Blick in die Tiefe unangenehm sei, bis zu deutlichen Schwindelgefühlen und zu unüberwindlicher Angst, die das Verbleiben in der betreffenden Situation ganz unmöglich macht. Bei dem Besteigen von Bergen und von Türmen geht vielfach der Anstieg ohne Schwierigkeit vor sich, namentlich solange der Steiger dabei den Weg vor sich hat; vielleicht kann er auch noch oben die Aussicht von einem ruhigen Sitzplatze aus mit Genuß in sich aufnehmen, wenn er aber beim Abstieg die Tiefe vor sich hat oder in das Halbdunkel einer Wendeltreppe hinab soll, treten Angst und Schwindel ein. Häufig kann man beobachten, daß manche schwindelfrei sind, solange sie allein gehen, aber von heftigem Schwindel erfaßt werden, wenn sie die vor oder neben ihnen Gehenden betrachten. Daraus ergiebt sich zugleich, daß es durchaus nicht etwa nur das Gefühl der eigenen Gefahr ist, was das Mißbehagen ausmacht. Viele Menschen haben übrigens ganz dieselben Empfindungen, wenn sie vom sicheren Erdboden aus andere auf Türmen, Dächern oder steilen Anhöhen stehen oder gehen sehen. Besonders leicht stellen sich bei vielen die unangenehmen Gefühle ein, wenn zu der Vorstellung des Höhenunterschiedes noch das Bewußtsein hinzutritt, in der Freiheit der eigenen Bewegung beschränkt zu sein. Man beobachtet das sehr oft, wenn so Empfindliche im Wagen einen etwas steilen Weg hinabführen oder auf einem gewölbten Straßendamm den Verdeckplatz eines Omnibus innehaben; auch die Beklemmung bei der Benutzung von Fahrstühlen gehört wenigstens teilweise hierher. Die Zahl der Beispiele ließe sich nach der Erfahrung leicht noch außerordentlich vermehren, aber es sind immer dieselben Verhältnisse, die in jedem Falle wiederkehren. Wer von den Lesern über eigene Wahrnehmungen verfügt, wird sie leicht in die angedeuteten Gruppen unterbringen können.

Für die Beurteilung und Behandlung der Zustände ist es wichtig, daß sie bei einem und demselben Menschen durchaus nicht immer in derselben Stärke auftreten. Menschen, die für gewöhnlich vollkommen schwindelfrei sind, können zu gewissen Zeiten in dieser Richtung äußerst empfindlich sein. Am meisten disponieren dazu die Zeit unmittelbar nach erschöpfenden Krankheiten, geistige Ueberanstrengung durch Arbeit oder durch Gemütsbewegungen und die dem übermäßigen Alkoholgenuß folgende Abspannung. Unter all diesen Verhältnissen sieht man sogar beim Gehen auf glattem Boden, beim Treppenabstieg etc. gelegentlich Schwindelgefühle auftreten. Auch der sogenannte Nachtschwindel, das im Schlaf oder im Halbwachen auftretende Gefühl des Indietiefestürzens, kommt besonders den genannten Erschöpfungszuständen zu. Wenn man also nicht schon aus manchen psychologischen Berührungspunkten und aus der gesteigerten Anlage nervöser Menschen den Schwindel den neurasthenischen Störungen zurechnen müßte, würde sein oft direkter Zusammenhang mit akuter Nervenerschöpfung über seine Stellung belehren. Das wird auch durch die erprobten Heilmittel gegen die Schwindelzustände bestätigt. Alles, was das Nervensystem kräftigt und beruhigt, vermindert die Neigung zu Schwindel. Man könnte deshalb für die Bekämpfung dieser peinlichen Anlage einfach auf die Regeln der Gesundheitspflege der Nerven verweisen, wie ich sie in meinem Buche „Gesunde Nerven“ (Rostock, W. Werthers Verlag, 2. Aufl. 1897) zusammengestellt habe. Es mag aber immerhin von Wert sein, hier einige Punkte genauer zu besprechen, die für diesen besonderen Fall wichtig sind.

Zunächst muß betont werden, daß das erste Auskunftsmittel der weniger Eingeweihten, der krankhaften Erscheinung mit Aufbietung der Willenskraft entgegenzutreten, sehr zweischneidig wirkt. In ganz leichten Fällen und namentlich bei schnell vorübergehender Disposition zu Schwindelanwandlungen mag es ganz gute Dienste thun, durch Ueberwindung und Gewöhnung die Empfindungen zu bekämpfen. In allen schwereren Fällen wird damit nur geschadet: durch die erneute Erschütterung wächst die Empfindlichkeit oft in solchem Maße, daß die Schwindel- und Angstgefühle nun auch in den Traum übergehen und immer größeren Platz in den Vorstellungen einnehmen. Es ist klar, daß damit die erstrebte Gleichgültigkeit gegen den peinlichen Eindruck nicht erreicht werden kann. Erfahrene Bergsteiger wissen auch ganz gut, daß man die Sache nicht forcieren kann, und ruhen lieber einen Tag, wenn sie sich solcher Disposition bewußt sind. Oft genügt ein längeres Ausruhen und eine gute Nacht, um wieder die nötige Sicherheit zu gewinnen.

Aus der berührten ursächlichen Bedeutung des übermäßigen Alkoholgenusses ergiebt sich schon, daß der oft genug angewendete Rat, den Schwindel mit einem Glase Portwein oder Cognac zu vertreiben, mindestens sehr trügerische und nur Augenblickserfolge haben kann. Wie bei allen nervösen Schwächezuständen muß daher auch hier dringend davor gewarnt werden, in dem Alkohol ein Heilmittel zu sehen. Gerade bei länger dauernder Anlage zu Schwindel sieht man regelmäßig sehr ungünstige Wirkungen. Die Hochtouristen haben ja auch schon lange auf dies Anregungsmittel verzichtet, weil sie es als gefährlich erkannt haben.

Ebenso verfehlt würde es sein, die dem Schwindel zu Grunde liegende vermehrte Reizbarkeit, wie es oft geschieht, mit kalten Bädern und kalten Abreibungen bekämpfen zu wollen. Es kann nicht oft und nicht dringend genug betont werden, daß die kalten Wasserprozeduren erregend auf das Nervensystem wirken. Wo die beruhigende, stärkende Wirkung am Platze ist, kommen nur sehr milde Wasseranwendungen in Frage, am besten Halbbäder von 26 bis 24 Grad Réaumur mit Bespülungen des Oberkörpers mit demselben Wasser, vier Minuten lang, täglich oder jeden zweiten Tag genommen. Weniger gut sind nasse Abklatschungen mit einem Laken von 24 Grad Réaumur, ohne starkes Reiben. Nach jeder solchen Wasseranwendung ist eine halbe Stunde Ruhe nötig.

Auch im übrigen soll das Verhalten schonend und ruhig sein. So wertvoll für alle Menschen der Genuß frischer Luft ist, so unzweckmäßig sind bei Erschöpfungszuständen gewaltsame, anstrengende Spaziergänge und andere angreifende körperliche Uebungen. In den Erholungen soll ebenso wie in der Arbeit ein vernünftiges, den Kräften angemessenes Gleichmaß und Mittelmaß beobachtet werden. Nur dadurch läßt sich eine Kräftigung des Nervensystems und vermehrte Widerstandsfähigkeit erzielen. Wo diese Maßregeln der Gesundheitspflege nicht ausreichen, um die Beschwerden zu beseitigen, ist fachmännischer Rat einzuholen; hier tritt die Kunst des Arztes ein, die den Einzelfall in allen seinen Bedingungen erfaßt und deshalb nie zum Gemeingut werden kann.