Ueber chronische Katarrhe der Athmungswege/Der chronische Rachenkatarrh und sein Einfluß auf die Stimme

Textdaten
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Autor: Max August Fritsche
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Titel: Der chronische Rachenkatarrh und sein Einfluß auf die Stimme
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aus: Die Gartenlaube, Heft 27, S. 442–443
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Ueber chronische Katarrhe der Athmungswege.

Von Dr. M. A. Fritsche, Specialarzt in Berlin.
Der chronische Rachenkatarrh und sein Einfluß auf die Stimme.

Aber mein Kehlkopf ist doch ganz gesund, ich bin ja nicht heiser, Herr Doktor,“ äußerte kürzlich eine Dame in meiner Sprechstunde, als ich ihr erklärte, ihr Kehlkopf müsse behandelt werden.

„Ja, sehen Sie, meine Gnädige,“ erwiederte ich, „Sie vertreten da eine ziemlich verbreitete, aber irrige Anschauung, daß nämlich Heiserkeit und Kehlkopfleiden völlig gleiche Begriffe seien. Dem ist aber nicht so; man kann wohl sagen, bei Heiserkeit ist ein Kehlkopfleiden zugegen, aber nicht das Umgekehrte. Es würde mich übrigens zu weit führen, wollte ich Ihnen jetzt die Sache näher aus einander setzen; bitte, lesen Sie einmal in den nächsten Wochen aufmerksam die ‚Gartenlaube‘; Sie werden darin etwas über dies interessante Thema vorfinden.“

Und so will ich denn die Erfüllung meines Versprechens nicht länger hinausschieben.

Wenn ein Rachenkatarrh nicht zur Ausheilung gelangt, sondern in den chronischen Zustand übergeht, eben so, wenn vielfache Rückfälle eines akuten Rachenkatarrhs stattfinden, so bilden sich an der hinteren Rachenwand kleine, rothe Knötchen von rundlicher oder ovaler Form, sogenannte Granulationen, meist von Hanfkorn- bis Linsengröße, die aber unter Umständen bis kirschkerngroß und darüber werden können. Wenn sie zahlreich auftreten, vereinigen sie sich, fließen zusammen und bilden dann unregelmäßige Wülste und Kämme, die der Rachenschleimhaut ein sehr buntes Aussehen verleihen. Der Rachenkatarrh wird in diesem Stadium als granulöser oder granulärer bezeichnet. Diese Knötchen entstehen durch Zellenwucherungen um die meist mikroskopisch kleinen Drüschen der Rachenschleimhaut und deren Ausführungsgänge, die auf solche Weise erst dem bloßen Auge sichtbar werden. Sie erweisen sich insofern als ganz besonders störend und nachtheilig, als sie einen fortwährenden Druck und Reiz auf die zahlreichen Nervenverzweigungen des Rachens ausüben und dieser stäte Reiz auf sogenanntem reflektorischen[1] Wege einen höchst schädlichen, hemmenden Einfluß auf die Kehlkopfnerven und damit auf die Stimme hervorbringt. Als Ausdruck dieses stäten Nervenreizes zeigen sich die verschiedensten abnormen Gefühle: wie Brennen, Stechen, Drücken, Prickeln, Kratzen, Wundsein im Halse, mitunter auch das Gefühl, als ob ein fremder Körper (Kloß) im Halse steckte. In vielen Fällen, wo Patienten sich wegen einer angeblich verschluckten Gräte oder eines Knochenstückchens, das ihnen noch im Halse stecke, untersuchen lassen, finden sich jene granulösen Wucherungen, welche die abnorme Empfindung, das Granulationsgefühl, wie wir es bezeichnen, hervorrufen.

Wir wollen hier den Verlauf eines granulösen Rachenkatarrhs in seinen Einwirkungen auf die Gesang- resp. Sprechstimme einmal einer nähern Betrachtung unterwerfen. Man kann wohl sagen, daß eine jegliche Stimme unter dem Einfluß des granulösen Rachenkatarrhs leidet; Personen, die ihre Stimme nur für die Anforderungen des Alltagslebens gebrauchen, werden weniger davon gewahr, weil sie nicht genau darauf achten und sich über ihre Heiserkeit oder das Versagen ihrer Stimme nicht sonderlich den Kopf zerbrechen. Erst wenn es mit dem Sprechen gar nicht mehr gehen will und der Kehlkopf selbst schon angegriffen ist, stellen sie sich zur Behandlung ein. Anders verhält es sich mit den Stimmen der Sänger und Sängerinnen. Anfänglich markirt sich die nervöse Erkrankung des Kehlkopfs, denn als solche ist die Stimmstörung aufzufassen, wenig. Die Stimme spricht weniger leicht an, ermüdet leichter als früher, oder sie umflort und belegt sich bei anhaltendem Singen, und es erfordert größere Anstrengung von Seiten des Sängers, um denselben Stärkegrad hervorzubringen. Zuerst leiden die Obertöne beim Sopran und Tenor in besonders fühlbarer Weise; sie sprechen anfangs schwieriger an, werden allmählich immer dünner und unkräftiger, trotz vermehrter Anstrengung, so daß sie nicht mehr gehalten werden können, und gehen schließlich ganz verloren. Weiterhin zeigt sich der Uebergang von der Brust- zur Kopfstimme oder zum Falsett erschwert; er wird holperig und rauh und gelingt nur mit immer größerer Anstrengung; ja es kann in veralteten Fällen sich an dieser Stelle ein förmliches Loch in der Tonfolge bilden: die Töne versagen und können weder mit Brust- noch mit Kopfstimme mehr genommen werden. Auch nach der Tiefe hin büßt die Stimme ein; in schweren Fällen bleiben nur einzelne Töne übrig, die so schwach und matt klingen, daß sie musikalisch nicht mehr verwerthbar sind. Dies ist in den Grundzügen das allgemeine Bild, von dem sich in einzelnen Fällen Abweichungen ergeben. Mitunter kündigt sich die Erkrankung anfänglich durch zusammenschnürende Empfindungen im Halse nach kurzem Singen an. In andern Fällen zeigt sich Neigung zu leichtem Tremuliren, besonders das sogenannte nervöse Tremolo bei getragenen Tönen; noch andere Sänger detoniren bei solchen Stellen leicht, ohne es selbst zu merken. Mitunter spricht die Stimme mezzoforte ganz leicht an, im piano aber wird sie hauchend und versagt, während beim forte-singen starker Hustenreiz und Kitzel im Kehlkopf auftreten. All dies sind nervöse Erscheinungen, unter denen sich die Kehlkopferkrankung offenbaren kann. Bei der Untersuchung mit dem Kehlkopfspiegel ist allerdings wenig davon zu entdecken. Das Aussehen der Kehlkopfschleimhaut und besonders der Stimmbänder zeigt meist keinerlei Abweichung von der Norm, und nur das geübte Auge vermag aus den etwas trägen, matten Bewegungen der Stimmbänder beim Schluß der Stimmritze behufs Tonbildung auf die nervöse Schwäche derselben zu schließen.

Fragen wir nun nach der Entstehung des granulösen Rachenkatarrhs, so müssen wir in erster Linie sich häufig wiederholende Erkältungen beschuldigen; ferner üben sehr heiße und sehr kalte Speisen und Getränke, namentlich in rascher Aufeinanderfolge, endlich chemische und mechanische Reize, welche die Rachenschleimhaut treffen, einen begünstigenden Einfluß. Dahin gehören: starkes Rauchen, staubige Luft, starke Spirituosen, scharf gewürzte oder sehr saure Speisen u. dergl. m. Auch die Möglichkeit einer Vererbung kann in gewissem Sinne nicht von der Hand gewiesen werden. Ungesunde Säftemischung wie skrophulöse Anlage bieten einen günstigen Boden für die Entstehung des Leidens.

Meist erst nach jahrelanger Dauer des granulösen Rachenkatarrhs geht die Erkrankung allmählich auf die Kehlkopfschleimhaut über. Zuerst wird die Schleimhaut der hinteren Kehlkopfwand angegriffen; nach und nach werden auch die Stimmbänder in Mitleidenschaft gezogen. Jede noch so leichte Erkältung wirft sich dann auf den Kehlkopf, indem sie immer und immer wieder Belegtheit der [443] Stimme, starkes Räuspern, ja Hustenreiz, selbst völlige Heiserkeit hervorruft und vorübergehend die Möglichkeit zu singen beeinträchtigt. Allmählich geht auch die katarrhalische Erkrankung des Kehlkopfs in den chronischen Zustand über, und es bilden sich bleibende, Störungen aus: die Stimme ist andauernd rauh und belegt trotz Räusperns und Krächzens; meist besteht starker Schleimauswurf; das Singen ist überhaupt unmöglich; die Sprache klingt dumpf und raüh und wird bei längerem Gebrauch des Organs völlig heiser und unverständlich. Die Engländer haben für diesen Zuständ, der bei den Geistlichen und Lehrern besonders oft beobachtet wird, den bezeichnenden Ausdruck: clergyman’s oder teacher’s sore throat, Prediger- oder Lehrerhalsweh.

Dieser Kehlkopfkatarrh kann nun auf die eine oder die andere Weise, durch entsprechende Behandlung, Klimawechsel u. s. w. zur Besserung oder gar Heilung gelangen; nichts desto weniger bleiben an den Stimmbändern häufig Störungen zurück, die sich mit dem Verschwinden des Katarrhs nicht gleichzeitig verlieren. Wir bezeichnen dieselben als sogenannte Atonie der Stimmbänder, zu deutsch Stimmbandschwäche.

Dieselbe kommt dadurch zu Stande, daß sich in Folge des Katarrhs häufige wässerige Durchtränkungen der Muskelfasern der Stimmbänder und schließlich Verfettungen in denselben bilden, wodurch die Muskelfasern zuerst in ihrer Fähigkeit, sich zusammenzuziehen und die Stimmbänder zu spannen, beeinträchtigt werden, um allmählich ihrem gänzlichen Verfall entgegen zu gehen. Von dieser sogenannten fettigen Entartung werden zuerst die Randfasern der Stimmbänder, als die am leichtesten zugänglichen, betroffen und damit geht der Schmelz der Stimme, vornehmlich das duftige Piano, für immer verloren.

In weiter vorgeschrittenen Fällen vermögen die Stimmbänder keinen Ton mehr zu halten; eine störende Neigung zum Detoniren macht sich immer mehr geltend, weil die erkrankten Muskelfasern nicht mehr dauernd den gleichen Spannungsgrad hervorzubringen vermögen, und aus dem nämlichen Grunde tritt ein allmählich immer mehr zunehmender Hang zum Tremuliren, verursacht durch den steten Spannungswechsel der Stimmbänder unter dem andrängenden Luftstrom, hervor. Der Sänger macht schließlich immer größere Anstrengungen, um der zunehmenden Schwäche zum Trotz noch einen sangbaren Ton von gleicher Kraft, wie früher, hervorzubringen, und kann hierbei durch eine Ueberanstrengung oder gar Zerreißung der nur zum Theil noch gesunden Fasern die Stimme gänzlich und für immer einbüßen. Der Kehlkopf hat und ist dann „ausgesungen“.

Wir haben Fälle gesehen, bei denen die Stimmbänder, in Folge der verzweifelten Anstrengungen der unglücklichen Patienten chronisch entzündet, ein Aussehen wie rohes Fleisch zeigten. Mit diesen wunden, entzündlich geschwollenen Stimmbändern vermochten sie noch ein paar, allerdings rauhe und gepreßte Töne hervorzubringen, so daß dadurch noch der Schein einer Stimme vorgetäuscht wurde; erst nach Beseitigung der Entzündung, zeigten die abgeschwollenen Stimmbänder das Bild hochgradiger Lähmung und die weitklaffende Stimmritze hatte für immer aufgehört, als Sangeskehle zu existiren.

Und hier können wir nicht umhin, einer Unsitte Erwähnung zu thun, die leider noch heut zu Tage bei vielen Sängern üblich ist und der von Seiten der Lehrer noch immer nicht genügend gesteuert wird. Wir meinen die üble Gewohnheit, während eines schweren Halskatarrhs die Stimme nicht ruhen zu lassen oder wenigstens zu schonen, sondern, wie der technische Ausdruck lautet, „den Katarrh durchzusingen“. Es ist die größte Thorheit, die ein Sänger begehen gegen sein Organ begehen kann, und wir können nur um so eindringlicher davor warnen, als wir während einer vierzehnjährigen Praxis, leider eine erschreckend große Anzahl von Kehlköpfen gesehen haben, bei denen sich aüf diesem Wege in kürzester Zeit die oben geschilderte Stimmbandschwäche entwickelt hatte.

Wir pflegen als erste Bedingung zu einer erfolgreichen Kur das Aussetzen des Singens für einige Zeit zu beanspruchen und gestatten erst nach völliger Beseitigung des Katarrhs und erfolgter Kräftigung der Nerven durch entsprechende elektrische Maßnahmen eine vorsichtige Wiederaufnahme der Gesangsstudien. Nur bei völliger Schonung und Ruhe des Organs kann man von einer geeigneten Behandlung die Wiederherstellung desselben in seiner früheren Schönheit und Stärke erwarten. Ja, man beobachtet nicht selten, daß die Stimme an Umfang und Kraft noch erheblich zunimmt.

Eine zweckmäßige Behandlung hat aber hauptsächlich zwei Gesichtspunkte zu verfolgen: zuerst die Beseitigung der eigentlichen verderblichen Ursache, des granulösen Katarrhs, dann aber die elektrische Kräftigung der vorhandenen Stimmmittel. Eine leichte Besserung des granulösen Katarrhs erzielt man wohl durch Touchirungen; eine radikale Beseitigung allerdings, nur durch galvanokaustische Operation, das heißt durch Wegätzen aller kleinen Wucherungen und Knötchen auf gavanokaustischem Wege. Mit einem feinen Platinaknöpfchen, das durch den galvanischen Strom erhitzt wird, werden sämmtliche Wucherungen im Rachen betupft, eine nach vorhergehender Einpinselung der Schleimhaut mit Cocaïnlösung absolut schmerzlose Operation, die allerdings, besonders bei reizbarer Rachenschleimhaut, eine gewisse Uebung und Geschicklichkeit von Seiten des Operateurs erfordert. Die geätzten Wucherungen schrumpfen zusammen und werden durch den Heilungsproceß theils abgestoßen, theils aufgesogen, so daß die Rachenschleimhaut nachher schön glatt und eben erscheint.

Erst nach Erzielung dieses Resultats verspricht die elektrische Behandlung des Kehlkopfes einen sicheren und dauernden Erfolg. Man kann dieselbe in verschiedener Weise durchführen; wir haben von der galvanischen Massage, verbunden mit der inneren Elektrisirung, die besten Resultate gesehen. Es ist nicht der Zweck dieses Aufsatzes, sich über unsere Behandlungsmethode des Weiteren zu verbreiten; erwähnen wollen wir nur, daß man auf diesem Wege den Kehlkopf nicht nur vollkommen wieder zu kräftigen, sondern die noch vorhandenen Stimmmittel zu ihrer denkbar glänzendsten Entfaltung zu bringen vermag.

So wollen wir diese Zeilen mit dem Wunsche schließen, daß sie auch ihrerseits dazu beitragen möchten, das schönste aller musikalischen Instrumente, die menschliche Gesangstimme, vor dem Ruin durch den schlimmsten ihrer Feinde, den chronischen Rachenkatarrh, mehr und mehr zu bewahren: dann ist ihr Zweck erreicht.



  1. Unter Nervenreflex versteht man die gewissermaßen telegraphische Uebertragung des Reizzustandes eines Nervengebietes auf ein mehr oder weniger entlegenes Nervengebiet, so sind z. B. das Augenthränen bei Reizung der Geruchsnerven, der Niesreiz bei starker Blendung, der Hustenreiz beim Bohren im äußeren Gehörgang durch Nervenreflexe bedingt.