Ueber Lungenschwindsucht und Höhenkurorte

Textdaten
<<< >>>
Autor: Professor Dr. Liebermeister
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Ueber Lungenschwindsucht und Höhenkurorte
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 12, S. 375–376, 380, 382–383
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1898
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[376]

Ueber Lungenschwindsucht und Höhenkurorte.[1]

Von Professor Dr. Liebermeister-Tübingen.


I.0 Das Wesen und die Heilung der Lungenschwindsucht.

Ich möchte es heute unternehmen, Sie aufzurufen zum Kampf, zum Kampfe gegen einen Feind, der der gefährlichste ist unter allen, die der Gesundheit und dem Leben des Menschen nachstellen. Es ist dies die Tuberkulose und insbesondere die Lungenschwindsucht. In Deutschland tötet sie Jahr für Jahr weit mehr als 100 000 Menschen. Die Verheerungen dieses Feindes sind größer als alle Verluste, die in unserer Zeit im Kriege vorkommen. Pest, Cholera und andere furchtbare Seuchen giebt es doch nur zu gewissen Zeiten und in beschränkter Ausdehnung; die Tuberkulose wütet anhaltend unter uns und verlangt viel größere Opfer. Und sie tötet die Menschen gerade in der Lebensperiode, in welcher sie der Allgemeinheit am meisten nützen könnten. Wenn man alle Todesfälle zusammenrechnet, die bei Menschen im arbeitsfähigen Alter, etwa zwischen dem 15. und 60. Lebensjahre, vorkommen, so zeigt sich, daß ein volles Drittel der Tuberkulose erliegt. Wahrlich, der Kampf gegen einen solchen Feind ist es wert, im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses zu stehen.

Die Tuberkulose hat von je her unter allen Kulturvölkern bestanden. So weit die Geschichte zurückreicht, berichtet sie uns von dem Vorkommen der Lungenschwindsucht. Aber es wäre [378] unrichtig, wenn man glauben wollte, die Krankheit müsse notwendig überall vorkommen, und sie sei von allem Anfang an über die ganze Erde verbreitet gewesen. Bei den Negern im Innern von Afrika hat es, wie uns Livingstone und andere Forscher berichten, keine Tuberkulose gegeben, bevor sie mit den alten Kulturvölkern in Berührung kamen; erst durch diese haben sie, noch ehe sie der Vorteile der Kultur teilhaftig geworden sind, die Tuberkulose und viele andere Schäden der Civilisation erhalten. Die Indianer in Amerika haben, bevor die Weißen eingedrungen waren, keine Tuberkulose gekannt; jetzt trägt zu ihrem Aussterben auch diese Krankheit in hohem Maße bei.

Die eigentliche Ursache der Lungenschwindsucht und der Tuberkulose überhaupt, der Tuberkelbacillus, ist erst seit dem Jahre 1882 bekannt. Es ist eines der vielen unvergänglichen Verdienste von Robert Koch, daß er uns die Natur und die Wirkungsweise der Tuberkelbacillen deutlich dargelegt und gezeigt hat, daß sie die einzige und ausreichende Ursache der Tuberkulose sind, daß es ohne diese Bacillen keine Tuberkulose giebt. Diese Bacillen sind kleine Lebewesen, bestehend aus länglichen Stäbchen, die so klein sind, daß sie nur mit bewaffnetem Auge gesehen werden können, nur bei den stärksten Vergrößerungen, die uns das Mikroskop liefert. Vielleicht können Sie sich eine Vorstellung machen von ihrer Größe, wenn ich anführe, daß man 300 bis 400 davon der Länge nach aneinanderlegen müßte, um nur die Länge eines Millimeters zu erhalten. Diese unscheinbar kleinen Lebewesen sind der Feind, der so furchtbare Verheerungen anrichtet und den es zu bekämpfen gilt. – Nachdem man ihn genau kennengelernt hatte, lag es nahe, zu denken, es werde nun nicht allzuschwer sein, ihn abzuwehren oder zu vernichten. Viele Aerzte haben sich damals solchen Hoffnungen hingegeben. Sie sind enttäuscht worden: die Menschen sterben nach wie vor an Tuberkulose.

Und doch können wir sagen, daß die bessere Erkenntnis schon Früchte getragen hat. Die Zahl der Menschen, die in Deutschland an Tuberkulose sterben, ist zwar immer noch erschreckend groß, aber sie ist im Vergleich zu der Bevölkerung in den letzten 10 Jahren merklich zurückgegangen. In den meisten großen Städten ist die Sterblichkeit an Tuberkulose beträchtlich geringer geworden, als sie vor 10 oder 20 Jahren war. Älso der Kampf ist keineswegs aussichtslos, und wir dürfen erwarten, daß, wenn jeder an seinem Teil das Seinige thut, noch große Erfolge erreicht werden.

Welches sind nun die Maßregeln, durch die wir hoffen dürfen, die Tuberkulose mit Erfolg zu bekämpfen? Ich werde hier nur die allgemeinen Gesichtspunkte vorführen, um nachher auf einen besonderen Punkt, die Wirkung der Höhenkurorte, näher einzugehen.

Krankheiten zu verhüten, ist eine lohnendere Aufgabe, als Krankheiten zu heilen. Deshalb legen wir Aerzte den größten Wert auf die Vorbeugungsmaßregeln. Wir suchen die Entstehung der Krankheit zu verhüten. Zunächst ist dafür zu sorgen, daß die Verbreitung der Tuberkelbacillen in der Umgebung möglichst verhindert werde, damit sie nicht, mit anderem Staub eingeatmet, in die Lungen von gesunden Menschen gelangen. Es muß deshalb der Auswurf von Lungenkranken, in dem die Bacillen zu Millionen und Milliarden vorhanden sind, aufs sorgfältigste desinfiziert oder vernichtet werden, weil er sonst in eingetrocknetem Zustande dem übrigen Staub sich beimischen kann.

Uebrigens braucht der Gesunde nicht besonders ängstlich zu sein bei dem Verkehr mit Lungenkranken. Wenn die Gefahr der Übertragung auch nur annähernd so groß wäre wie z. B. bei Pocken, Masern, Scharlach, so müßten ja alle Aerzte schwindsüchtig werden. Der Mensch ist nicht besonders empfänglich für Tuberkulose und jedenfalls viel weniger als die zu Uebertragungsversuchen benutzten Kaninchen oder Meerschweinchen. Der gesunde Mensch verfügt über ausgedehnte Schutzvorrichtungen, vermöge deren die Bacillen, die etwa in den Körper eingedrungen sein könnten, unschädlich gemacht oder wieder ausgeworfen werden. Wenn aller Staub, den wir mit der Luft einatmen, wirklich bis in die Lunge gelangte und dort liegen bliebe, dann würden wohl bei den meisten Menschen die Lungen bald ganz vollgestopft sein. Der größte Teil des Staubes bleibt, wenn wir durch die Nase atmen, schon in den vielfachen Ausbuchtungen an dem dort vorhandenen Schleim haften, ein anderer Teil schlägt sich an der inneren Wand des Kehlkopfes, der Luftröhre und ihren Verzweigungen nieder. Und dort ist die Schleimhaut ausgekleidet mit sogenanntem Flimmerepithel, dessen mikroskopisch kleine Wimpern in anhaltender Bewegung sind, durch die sie alles, was auf der Schleimhaut liegt, allmählich wieder nach oben fördern, so daß es nachher mit einem leichten Hustenstoß ausgeworfen werden kann. Wenn wir viel Ruß eingeatmet haben, z. B. bei einer langen Eisenbahnfahrt, so ist noch einige Zeit nachher der Schleim aus der Nase oder aus dem Kehlkopf schwarz gefärbt. Und wie dieser Ruß, so werden auch die etwa eingeatmeten Tuberkelbacillen wieder entfernt. Auch die Bacillen, die etwa mit den Speisen in den Magen gelangen, werden durch den Magensaft, wenn er normal beschaffen ist, unschädlich gemacht. Und wenn ein Arzt etwa bei einer Operation oder bei einer Sektion durch eine zufällige Verwundung am Finger sich infiziert, so entsteht in den meisten Fällen nur eine örtliche Störung, ein sogenannter Leichentuberkel, der lange örtlich bleiben kann ohne weiteren Nachteil. Die Reaktion der lebendigen Gewebe verhindert das Eindringen der Bacillen in den übrigen Körper.

Anders freilich verhält es sich bei Menschen, die schon vorher an gewissen Lungenkrankheiten gelitten oder die durch angeborene Schwäche, durch besondere Krankheiten oder infolge von Entbehrungen und Not einen Teil ihrer Widerstandsfähigkeit eingebüßt haben. Sehen Sie sich im Walde um oder im Obstgarten! Welches sind die Bäume, die durch Flechten und andere Schmarotzer besonders schwer geschädigt werden? Es sind vorzugsweise die wenig lebenskräftigen oder anderweitig kranken, während die in frischem fröhlichen Wachstum begriffenen sich als weit mehr widerstandsfähig erweisen. Auch beim Menschen wird durch alles, was seinem Gedeihen förderlich ist, die Widerstandsfähigkeit erhöht, sowohl im allgemeinen als auch gegen die Tuberkulose, so durch eine gute Konstitution, eine gute Ernährung, eine gesunde Lebenshaltung, eine erfreuliche Thätigkeit, und auch durch eine gewisse Abhärtung gegen Erkältung und gegen andere Schädlichkeiten.

Wenn wir dagegen von einem Menschen wissen, daß er aus irgendwelchen Gründen mehr als andere zur Erkrankung an Tuberkulose geneigt ist, so müssen wir ihn schon behandeln, bevor es zur Tuberkulose kommt; auch eine bloße Disposition zu Tuberkulose bedarf einer sorgfältigen vorbeugenden Behandlung.

Was aber ist zu thun, wenn die Krankheit schon vorhanden ist, wenn in der Lunge bereits Tuberkelbacillen sich angesiedelt haben?

Offenbar würde es am nächsten liegen, ein Mittel anzuwenden, welches die Tuberkelbacillen töten könnte, ohne dem Kranken wesentlich zu schaden. Man hat vielfach nach solchen Mitteln gesucht, und man thut gewiß recht, wenn man noch weiter sucht; aber gefunden hat man ein solches bisher nicht. Die Anwendung von Jodoform, von Zimmetsäure, von Kreosot, von Arsenik und anderen Mitteln ist für manche Fälle ganz zweckmäßig; aber sie sind nur selten imstande, in den Mengen, in denen sie ohne Schaden angewendet werden können, die Bacillen zu vernichten. Auch die Einspritzung von Kochschem Tuberkulin ist in einzelnen Fällen nützlich; aber auf die übertriebenen Hoffnungen, welche man im Anfang an seine Anwendung knüpfte, ist bekanntlich bald eine große Enttäuschung gefolgt; auch dadurch werden die Bacillen nicht vernichtet. Es giebt bisher kein specifisches Heilmittel gegen die Tuberkulose, und auch die neueren Forschungen haben uns kein Rezept geliefert, welches die Krankheit beseitigen könnte.

Aber sind wir deshalb ohnmächtig der Krankheit gegenüber? Eine solche Meinung wäre gänzlich unrichtig. Wir können die Tuberkulose nicht direkt besiegen, wohl aber indirekt, indem wir sorgfältig die Wege verfolgen, welche die Natur selbst bei der Heilung einschlägt. Es ist dies die Methode, deren wir uns bei den meisten Krankheiten bedienen. Der Arzt bildet sich nicht ein, daß er die Krankheiten heile: er weiß, daß die Natur die Heilung besorgen muß. Ohne die natürlichen Hilfsmittel wäre der Arzt machtlos; seine Kunst besteht nur darin, daß er die natürlichen Heilungsvorgänge zu unterstützen und zu leiten versteht, daß er [379] die Kranken in Verhältnisse bringt, unter denen die Heilung am leichtesten möglich ist.

In früheren Zeiten hat man gewöhnlich die Lungenschwindsucht für unheilbar gehalten; und es war dies annähernd richtig, wenn man unter Schwindsucht nur die sehr weit vorgeschrittenen Fälle verstand; die werden auch gegenwärtig nur selten geheilt. Anders aber ist es bei den Anfängen der Krankheit. Wir wissen jetzt ganz sicher, daß in unzähligen Fällen die Tuberkulose wirklich zur Heilung gelangt. Wir finden bei Menschen, die an ganz anderen Krankheiten oder die in hohem Alter gestorben sind, nicht selten die Narben oder andere Ueberbleibsel einer geheilten Tuberkulose der Lunge oder auch anderer Organe. Es ist wohl nicht zu weit gegangen, wenn man annimmt, daß eine Lungentuberkulose, wenn sie frühzeitig erkannt und sorgfältig behandelt wird, wenn ferner der Kranke in der Lage ist und sich auch dazu versteht, alles zu thun, was für die Heilung notwendig ist –, daß sie dann in der Mehrzahl der Fälle geheilt wird. Die Heilung erfolgt gewöhnlich in der Weise, daß in der Umgebung des Krankheitsherdes ein festes Narbengewebe sich bildet, durch das der Krankheitsherd ringsum abgekapselt und fest eingeschlossen wird, so daß die darin enthaltenen Bacillen auf den übrigen Körper nicht mehr einwirken können, sondern unschädlich werden oder auch allmählich zu Grunde gehen.

Die wirksame Behandlung der Tuberkulose wendet sich in der Regel nicht direkt gegen die Tuberkelbacillen, sie ist vielmehr eine indirekte, man könnte sie auch eine diätetische nennen oder ein Naturheilverfahren.

Dabei ist die Aufgabe des Arztes eine außerordentlich wichtige, aber auch eine schwierige; um sie erfüllen zu können, ist außer den allgemeinen Kenntnissen von dem Wesen der Krankheit und den natürlichen Heilungsvorgängen von der größten Bedeutung ein möglichst frühzeitiges Erkennen der ersten oft unscheinbaren Anfänge der Krankheit, eine genaue Feststellung ihres Sitzes und ihrer Ausdehnung, außerdem aber auch in jedem Falle eine sorgfältige Berücksichtigung der eigentümlichen Konstitution und der besonderen Körperbeschaffenheit des einzelnen Kranken und eine richtige Beurteilung der natürlichen Hilfsmittel, über die seine Lunge und sein ganzer Organismus noch verfügt.

Unter den Maßregeln, die gegen die schon bestehende Krankheit anzuwenden sind, kommen in erster Reihe wieder diejenigen in Betracht, welche die Widerstandsfähigkeit des Kranken erhöhen. Ein Kranker, der zu schwach ist, um den Kampf mit dem Feinde zu bestehen, kann oft noch zum Siege geführt werden, wenn es uns gelingt, ihn ausreichend zu kräftigen. Ueber die Art, wie dies auszuführen sei, möge eine Andeutung genügen. Bekanntlich besteht eine der auffallendsten Folgen der Lungenschwindsucht in der stetig fortschreitenden Abmagerung, und diese Abmagerung leistet wiederum dem Fortschreiten der Tuberkulose Vorschub; je schlechter die Gewebe des Körpers ernährt sind, desto weniger werden sie den zerstörenden Wirkungen der Bacillen widerstehen können. Wenn es uns dagegen gelingt, die Ernährung zu verbessern und den ganzen Körper zu kräftigen, so ist zu erwarten, daß alle seine Teile eher imstande sein werden, gegen die zerstörende Wirkung der Krankheitserreger sich zu behaupten und endlich sogar sie zu überwinden. Und in der That ist ja, wie allgemein bekannt, bei einem Menschen mit beginnender Lungenschwindsucht ein Zunehmen des Körpergewichts und eine allgemeine Zunahme der Körperkräfte ein Zeichen, das zu erfreulichen Hoffnungen berechtigt.

Wie eine solche allgemeine Kräftigung zu erreichen sei, darauf will ich hier zunächst nicht näher eingehen; es kommt dabei vorzugsweise an auf eine zweckmäßige Anordnung der ganzen Lebensweise und auf eine dem Zustande des Kranken vorsichtig angepaßte Ernährung. In letzterer Beziehung sei daran erinnert, daß eine Bevorzugung der eiweißreichen Nahrungsmittel, wie Fleisch und Eier, nicht die Wirkung hat, einen mageren Menschen fett zu machen, sondern daß dabei eher, wie die bekannten Erfahrungen mit der Bantingkur zeigen, die entgegengesetzte Wirkung eintritt.

Außer der Erhöhung der Widerstandsfähigkeit besteht eine zweite und ebenso wichtige Aufgabe darin, den Kranken und insbesondere seine Lungen vor anderweitigen Schädlichkeiten zu schützen. Es giebt viele Fälle von beginnender Lungenschwindsucht, bei denen nicht die Tuberkelbacillen das schlimmste sind. Der Bacillen würde sich der Kranke vielleicht noch erwehren; sie könnten durch Naturheilung abgekapselt und unschädlich gemacht werden, wenn nicht anhaltend noch andere Schädlichkeiten auf die Lunge einwirken würden, die teils die weitere Ausbreitung der Bacillen in der Lunge befördern, teils an ihrer zerstörenden Wirkung sich beteiligen. Von solchen Schädlichkeiten führe ich an Erkältungen, durch welche Katarrhe und kleine Lungenentzündungen entstehen, in deren Gebiet die Weiterverbreitung der Bacillen erleichtert ist, dann aber ferner auch die Einatmungen von Staub, die in ähnlicher Weise wirken. Mit dem Staub werden zugleich noch mancherlei kleine mikroskopische Lebewesen oder deren Keime eingeatmet, verschiedenartige Bakterien und Kokken, und die schon kranke Lunge kann sie nicht mehr hinausbefördern. Viele von diesen Mikrobien sind freilich unschädlich, aber es sind darunter auch solche, deren Ansiedelung in der Lunge höchst nachteilig wirkt, indem sie die weitere Ausbreitung der Tuberkelbacillen erleichtern und vorbereiten, oder indem sie selbst zur Zerstörung der Lunge beitragen. Die schlimmsten Fälle von Lungenschwindsucht sind die, bei denen es sich um eine Mischinfektion handelt, bei denen außer den Tuberkelbacillen auch noch verschiedenartige andere Krankheitserreger in der Lunge ihre verderbliche Wirkung ausüben.

Wie wollen wir den Kranken vor solchen Schädlichkeiten schützen und besonders vor den schlimmen Mischinfektionen? Wie wollen wir es einrichten, daß er eine möglichst staubfreie und bakterienfreie Luft einatmet, ohne dabei sich der Gefahr einer Erkältung auszusetzen?

Die Luft im Zimmer enthält immer Staub; wir sehen ihn deutlich, wenn ein einzelner Sonnenstrahl eindringt. Also muß der Kranke sich möglichst viel im Freien aufhalten. Aber die staubige Stadt- oder Landstraße ist noch gefährlicher. Einigermaßen staubfrei ist nur die Luft auf der See, im Walde und auf ausgedehnten Wiesenflächen. Außerdem ist in unserem Klima während des größten Teils des Jahres die Witterung nicht so, daß der Kranke viel im Freien sein könnte. Der Winter ist schon schlimm; aber wenn Schnee liegt, ist wenigstens die Luft rein, und die Kälte an sich ist für den Kranken nicht schädlich, wenn er ausreichend bekleidet ist. Herbst und Frühling sind meist noch gefährlicher als der Winter.

Darum soll der Kranke, der während des Sommers in der Heimat oder in der Nähe an einem staubfreien Ort, etwa im Walde oder in mäßiger Höhe im Gebirge, sich aufhalten kann, für den Herbst, den Winter und den Frühling, wenn es möglich ist, ein günstigeres Klima zum Aufenthalt wählen. Das Fortgehen vom Hause, die sogenannte Luftveränderung, hat ja auch noch so viele andere günstige Wirkungen: der Kranke ist damit aus seinen Geschäften entfernt, er ist allen den mannigfachen geselligen Verpflichtungen enthoben, er hat wirklich Muße und kann ganz seiner Gesundheit leben.

Den klimatischen Kurorten hat man von je her bei der Behandlung der Lungenschwindsucht eine große Bedeutung beigelegt. Schon im Altertum wurden die Schwindsüchtigen von Rom nach Aegypten geschickt; dabei war die damals noch lange dauernde Seereise eher von günstiger Wirkung. Und noch heutigestags bewährt sich die Wirkung des Aufenthalts im Süden bei zahlreichen Kranken. Wenn sie auch an den oberitalienischen Seen, an der Riviera oder in Sicilien nicht, wie mancher vielleicht erwartet hatte, den ewig heiteren Himmel finden, so können sie doch viel mehr, als es zu Hause möglich wäre, sich der freien Luft erfreuen. Besonders ein dauernder Aufenthalt im Süden ist für den vom Norden kommenden Schwindsüchtigen günstig. Ich kenne Aerzte, Apotheker, Kaufleute, die mit schon vorgeschrittener Lungenschwindsucht nach Sicilien, Tunis, Aegypten, Palästina ausgewandert sind, sich dort einen Wirkungskreis gegründet haben und sich seit Jahrzehnten dort einer guten Gesundheit erfreuen.

Auch der Aufenthalt an der See und besonders längere Seereisen sind von günstiger Wirkung. Außer der Reinheit der Luft kommt dabei vielleicht auch noch ihr Salzgehalt in Betracht, wie er sich bei unruhiger See z. B. bei dem, der eine Brille trägt, durch den Beschlag derselben mit kleinen Salzkrystallen deutlich macht. Freilich ist eine Reise mit unseren Schnelldampfern gewöhnlich so bald zu Ende, daß der Kranke kaum über die Unannehmlichkeiten der Seekrankheit hinauskommt und keinen großen Nutzen davon hat. Mehr zu empfehlen würde es sein, wie es [380] auch schon in größerem Maßstabe projektiert wurde, während längerer Zeit mit einem Dampfer etwa im Mittelmeer Spazierfahrten zu machen.

Großes Aufsehen in ärztlichen und in anderen Kreisen hat es erregt, als seit der Mitte der 60er Jahre die Höhenkurorte in Wettbewerb traten mit den südlichen Kurorten. Es war zunächst das mehr als 1500 Meter hoch liegende und von noch höheren Bergen umgebene Thal Davos in Graubünden, welches als Kurort für Schwindsüchtige empfohlen wurde, und zwar nicht nur als Sommerkurort – im Sommer hatte man schon früher die Kranken ins Gebirge geschickt –, sondern vorzugsweise als Winterkurort. Von dem Winter in Davos erhält man eine gute Vorstellung, wenn man die von dem dortigen Kurverein für jeden Monat ausgegebenen Wetterkarten betrachtet. Während der Monate Dezember, Januar, Februar ist die mittlere Tagestemperatur nur selten über dem Gefrierpunkt, und Temperaturen von 24° unter Null sind nicht selten. Wie sollte in einem so eisigen Klima ein Schwindsüchtiger gedeihen, den man sonst nach dem warmen Süden zu schicken pflegte? Es war gewiß berechtigt, wenn dagegen die schwersten Bedenken erhoben wurden. Viele Aerzte haben sich lange gesträubt gegen die Anerkennung der Heilwirkungen des Hochgebirges, und manche haben davon auch jetzt noch keine richtige Vorstellung. Aber alle Bedenken sind überwunden worden durch die Thatsache, daß wirklich viele Schwindsüchtige von dort gebessert oder selbst dauernd geheilt zurückkommen.

Ich kann aus eigener Erfahrung über eine große Reihe von Fällen berichten, die ich vor dem Aufenthalt in Davos oder einem andern Höhenkurort und dann nachher wieder untersucht habe und ich kann sagen, daß die Kranken im Durchschnitt dort während des Winters sich bedeutend besser befunden haben, als es zu Hause zu erwarten gewesen wäre.


II.0 Die Heilwirkung des Höhenklimas.

Wie ist die günstige Wirkung des Höhenklimas zu erklären? Die Antwort auf diese Frage ist nicht leicht, und die Erklärung ist nicht ganz einfach. Es ist nicht ein einzelner Umstand, etwa ein specifischer Einfluß des Höhenklimas, worauf die Wirkung beruht. Man hat Meerschweinchen, die man in Berlin durch Impfung tuberkulös gemacht hatte, nach Davos geschickt; wie zu erwarten war, sind sie dort ebenso zu Grunde gegangen wie die, die in Berlin geblieben waren. Vielmehr ist bei der Heilwirkung des Höhenklimas eine ganze Reihe verschiedener Umstände zu berücksichtigen.

Zuerst war man auf den Einfluß des Höhenklimas aufmerksam geworden durch die schon seit längerer Zeit gemachte Beobachtung, daß oberhalb einer gewissen Höhe Schwindsucht unter der Bevölkerung fast gar nicht vorkommt. Die Höhe, in welcher diese relative Immunität gegen Tuberkulose beginnt, ist je nach dem Breitengrade verschieden. In den Tropen, z. B. in den Anden von Peru und Ecuador, hört die Schwindsucht erst auf bei einer Höhe von etwa 2000 Metern, in der Schweiz schon bei etwa 1000 Metern, in Mitteldeutschland bei etwas mehr als 500 Metern und im höheren Norden schon bei einer noch geringeren Erhebung. Wenn wir diese Immunität erklären könnten, so hätten wir damit vielleicht auch eine Erklärung für die Heilwirkung des Höhenklimas.

Unzweifelhaft beruht die Immunität des Hochgebirges zum Teil auf dem Umstand, daß dort die Bevölkerung weniger dicht ist als in der Ebene. Die Schwindsucht ist überhaupt durchschnittlich um so häufiger, je dichter gedrängt die Menschen zusammenleben, und es ist dies leicht verständlich bei dem ansteckenden Charakter der Krankheit. Aber dieser Umstand allein reicht nicht aus für die Erklärung. Man hat ferner darauf hingewiesen, daß die Lungen der Gebirgsbewohner, weil sie mehr geübt seien, auch kräftiger und widerstandsfähiger seien. Aber es kommt nicht selten vor, daß Leute aus dem Gebirge, wenn sie sich lange im Tiefland und namentlich in den großen Städten aufgehalten haben, dort an Lungenschwindsucht erkranken: sie sind durch ihre kräftigeren Lungen keineswegs geschützt. Wenn sie dann aber früh genug ins Gebirge zurückkehren, so werden sie gewöhnlich geheilt, und die Krankheit zeigt dann auch im Gebirge eine auffallend geringe Neigung zur Weiterverbreitung.

Von Bedeutung ist jedenfalls die dünnere Luft in der Höhe, der geringere Luftdruck. Das Barometer, das in Meereshöhe durchschnittlich auf 760 Millimeter steht, kommt in Davos nur wenig über 630 Millimeter, bleibt also etwa 130 Millimeter niedriger. Dieser Umstand ist von Wichtigkeit für die Atmung. Wir müssen, um die nötige Menge Luft in die Lungen zu bringen, in der dünneren Luft tiefer atmen, und daraus haben manche die günstige Wirkung des Höhenklimas erklären wollen, indem sie annahmen, daß die stärkeren Atembewegungen für die Lunge von Vorteil seien. Ich kann dieser Ansicht nicht zustimmen; vielmehr würde ich es eher für einen Nachteil halten, wenn die kranke Lunge genötigt wäre, sich mehr auszudehnen. Ich komme auf diesen Punkt noch zurück.

Von größerer Bedeutung ist vielleicht ein anderer Umstand, der in den letzten Jahren die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Die Menschen, die in der Höhe leben, haben mehr rote Blutkörperchen als die Menschen im Tiefland. Und wer sich ins Hochgebirge begiebt, bei dem nimmt schon nach kurzer Zeit die Zahl der roten Blutkörperchen merklich zu; es gilt dies für Kranke ebenso wie für Gesunde. Der Gesunde hat im Tiefland in einem Kubikmillimeter Blut gegen 5 Millionen roter Blutkörperchen, im Hochgebirge steigt ihre Anzahl auf 6 oder 7 Millionen oder noch darüber. Die roten Blutkörperchen sind aber die Sauerstoffträger, sie vermitteln die Atmung; man kann deshalb sagen, daß ihre Zunahme einen zweckmäßigen Ausgleich darstellt gegenüber der dünneren Luft. Diese Vermehrung der roten Blutkörperchen ist sicher wesentlich beteiligt bei der Acclimatisation für den Aufenthalt in der Höhe. Sie ist aber ferner von Einfluß auf den Gesamtstoffumsatz, und wir können uns denken, daß sie wohl auch zur Erhöhung der Widerstandsfähigkeit und somit zur Heilung der Krankheit beitrage.

Um die ganze Heilwirkung des Höhenklimas zu verstehen, müssen wir nochmals auf das zurückkommen, was früher schon besprochen wurde. Wir haben gesehen, daß für die Heilung der Lungenschwindsucht hauptsächlich zweierlei erforderlich ist, nämlich einerseits eine Erhöhung der Widerstandsfähigkeit gegenüber den eingedrungenen Krankheitserregern und anderseits der Schutz gegen neue Schädlichkeiten und insbesondere gegen neue Krankheitserreger, durch die die Tuberkulose zu einer Mischinfektion werden würde. Diese beiden Erfordernisse für die Heilung liefert das Hochgebirge wie kein anderes Klima, und darauf beruht nach meiner Ansicht in der Hauptsache der günstige Einfluß der Höhenkurorte bei der Lungenschwindsucht.

Bekanntlich stellt sich bei den meisten Menschen, bei Gesunden wie bei Kranken, beim Aufenthalt im Hochgebirge ein vermehrter Appetit ein; sie nehmen mehr Nahrung auf, und bei vielen nimmt deshalb das Körpergewicht zu. Auf der anderen Seite ist aber auch der Verbrauch, der Gesamtstoffumsatz ein größerer, und deshalb ist die Zunahme an Körpergewicht meist nicht so groß, wie es der vermehrten Nahrungsaufnahme entsprechen würde. Aber gerade diese Steigerung des Stoffumsatzes entspricht einer gesteigerten Lebensenergie, und sie erhöht die Widerstandsfähigkeit. Wie sehr die Widerstandsfähigkeit abhängig ist von dem Gesamtstoffumsatz und der dadurch bedingten Lebensenergie, das wird am deutlichsten, wenn wir den äußersten Fall betrachten, wenn wir sehen, was geschieht, sobald der Gesamtstoffumsatz und damit das Leben ganz aufhört, in der Leiche: dann erhalten sofort die niederen Lebewesen, die überall und auch in unserem Körper verbreitet sind, die Kokken und Fäulnisbakterien, das Uebergewicht. Wir können deshalb sagen, daß der Mensch im allgemeinen um so mehr geschützt ist gegen alle Arten von Bakterien und auch von Krankheitserregern, je lebhafter sein Gesamtstoffumsatz und die davon abhängige Lebensenergie ist. Die Steigerung der Lebensenergie, die im Hochgebirge stattfindet, hat einen großen Anteil an den Heilwirkungen des Höhenklimas.

Auch das zweite Erfordernis für die Heilung, der Schutz gegen anderweitige Schädlichkeiten, wird im Hochgebirge erreicht in einer Weise, wie es anderswo nicht leicht möglich ist. Daß der Kranke aus seiner gewöhnlichen Lebensweise und aus allen anstrengenden Beschäftigungen und Verpflichtungen herauskommt, das hat der Höhenkurort gemein mit allen anderen Kurorten. Sein wesentlicher Vorzug besteht aber in der Reinheit der Luft. Besonders im Winter, wenn das Land weit und breit mit Schnee [382] bedeckt ist, da ist keine Möglichkeit, daß im Freien schädlicher Staub vorhanden sei; der Kranke ist, so lange er in freier Luft sich aufhält, geschützt gegen alle schlimmen Wirkungen der Staubeinatmung. Namentlich ist die Luft frei von schädlichen Kokken und Bakterien. Man kann z. B. im Hochgebirge frisches Fleisch einfach an der Luft trocknen lassen, ohne daß es in Fäulnis übergeht. Dazu trägt freilich auch bei die dünnere Luft, der geringere Luftdruck, wodurch das Eintrocknen beschleunigt wird; und vielleicht ist diese eintrocknende Wirkung der Luft in manchen Fällen mit beteiligt an dem günstigeren Verlauf der Lungenkrankheit. Die Hauptsache ist aber, daß der Kranke gesichert ist gegen das Auftreten von Mischinfektionen, die so oft einen schlimmen Verlauf der Krankheit veranlassen. Und auch die etwa schon bestehenden Mischinfektionen können eher gebessert werden, weil die Bakterien keinen neuen Zuwachs erhalten.

Es sind ferner Erkältungskrankheiten im Hochgebirge seltener als in der Ebene, zum Teil deshalb, weil die mikroskopischen Krankheitserreger, die außer der Erkältung noch nötig sind, damit ein Schnupfen oder ein Lungenkatarrh entstehe, in der Luft nicht vorhanden sind. Der Kranke kann sich einigermaßen abhärten ohne die Gefahr, sich dabei eine Erkältungskrankheit zuzuziehen. Dabei kommt noch ein anderer Umstand in Betracht. Die örtlichen Luftströmungen, die Winde, die durch ungleiche Erwärmung des Bodens entstehen, und die oft viel schädlicher sind als die allgemeinen und verbreiteten Luftströmungen, fehlen im Winter in den Thälern des Hochgebirges fast ganz; denn eine bedeutende Ungleichheit in der Erwärmung des Bodens ist nicht möglich, weil der Schnee niemals über den Gefrierpunkt erwärmt werden kann.

Und nun noch ein wichtiger Punkt. Im Winter, wenn in des Thales Gründen uns der kalte Nebel drückt, dann ist häufig auf der Höhe der schönste Sonnenschein. Beim Aufenthalt in der Höhe liegen viele Wolken und Nebel, die im Tiefland die Sonne verdecken, unter uns. Und die Sonnenstrahlen, die nicht durch so viele Luftschichten hindurch zu gehen brauchen, haben eine viel kräftigere Wirkung. So erklärt es sich, daß im Hochgebirge, auch wenn das Thermometer im Schatten noch 10 Grad unter dem Gefrierpunkte steht, der Kranke in der Sonne spazieren gehen oder auch ruhig sitzen oder liegen kann, ohne von der Kälte zu leiden. In Davos kann sich der Kranke mehr im Freien aufhalten als an manchen südlichen Kurorten, und die freie reine Luft ist für ihn das wohlthätige Element. Die starke Sonnenbeleuchtung ist aber auch noch in anderer Weise von Vorteil. Pilze gedeihen nicht im Sonnenschein, und die meisten Kokken und Bakterien werden durch helles Sonnenlicht zerstört, und so trägt der Sonnenschein dazu bei, die Luft frei zu erhalten von schädlichen Mikroorganismen. Der Mensch aber gedeiht im Licht und im Sonnenschein, und so gehört die Sonne zu den wichtigsten Kurmitteln der Höhenkurorte.

Nachdem ich so die günstigen Wirkungen der Höhenkurorte bei Lungenschwindsucht dargelegt habe, möchte ich doch anderseits vor zu großen Erwartungen warnen. Nicht alle Kranke mit Lungenschwindsucht, die ins Hochgebirge geschickt werden, werden dort geheilt. Bei vielen ist die Krankheit schon zu weit vorgeschritten, andere können wegen äußerer Umstände den Aufenthalt nicht so lange fortsetzen oder so oft wiederholen, als es für die Heilung nötig wäre, bei anderen sind es innere Umstände, die die Heilung unmöglich machen, z. B. Mängel der Konstitution, die angeboren oder ererbt sein können, oder irgendwelche Krankheiten in anderen Organen des Körpers. Für manche Kranke ist das Hochgebirge überhaupt nicht passend. Dahin gehören zunächst alle, bei denen die Krankheit schon so weit gediehen ist, daß eine Heilung unmöglich ist. Ferner wird man im allgemeinen Kranke nicht hinschicken, so lange sie Fieber haben; doch kommt es vor, daß ein Fieber, welches von Mischinfektion abhängt, im Hochgebirge sich bessert. Aber auch dort gehört jeder Kranke, der Fieber hat, dauernd ins Bett; man soll ihn erst aufstehen lassen, wenn das Fieber vollständig aufgehört hat. Auch Kranke, die nicht noch einen gewissen Vorrat von Lebensenergie und Widerstandsfähigkeit haben, ertragen nur schwer einen so bedeutenden Klimawechsel; bei solchen kann eher noch ein südlicher Kurort in Frage kommen. Wo dagegen erst die Anfänge der Krankheit bestehen, und wo im übrigen die körperlichen Verhältnisse noch günstig sind, da kann von einer Kur im Hochgebirge eine vollständige Heilung erhofft werden. Es ist deshalb von so großer Wichtigkeit, daß schon die ersten Anfange der Krankheit richtig erkannt und behandelt werden. Aber auch wenn ein Kranker nicht vollständig geheilt, sondern nur wesentlich gebessert wird, so müssen wir dies als einen Erfolg bezeichnen. Viele Kranke, die in der Heimat bald zu Grunde gehen würden, kommen durch eine oder durch wiederholte Kuren im Hochgebirge so weit, daß sie nachher wieder jahrzehntelang mit Freudigkeit in ihrem Beruf thätig sein können, daß sie von ihrer Krankheit nur geringe Beschwerden haben und vielleicht ein hohes Alter erreichen.

Endlich aber darf nicht verhehlt werden, daß mit dem Aufenthalt an einem Höhenkurort auch Nachteile verbunden sein können, daß auf manchen Kranken dort Schädlichkeiten einwirken, die den Erfolg der Kur beeinträchtigen oder vereiteln, namentlich an einem Weltkurort wie Davos, wo im Winter weit mehr als 2000 Kurgäste gleichzeitig anwesend sind. Ich denke dabei weniger an die Gefahren, welche der Umgang mit so vielen Lungenkranken mit sich bringt; denn es wird gerade an solchen Kurorten so peinlich gesorgt für Reinlichkeit und für Desinfektion des Auswurfs, daß man dort vielleicht sicherer ist vor Ansteckungsgefahr als in der Heimat, wo doch auch Lungenkranke vorhanden sind.

Auch wird einem Kranken, der selbst schon Bacillen in der Lunge hat, der Verkehr mit Lungenkranken nicht weiter schaden, und Kranke, bei denen noch keine Bacillen nachgewiesen sind, schickt man ohnehin an Kurorte, die weniger von Schwindsüchtigen besucht werden. Ich denke vielmehr an die vielen Versuchungen, welche der Aufenthalt an einem solchen Weltkurort mit sich bringt, wo ein junger Mensch sich oft schwer entschließt, seine Lebensweise und sein ganzes Verhalten so einzurichten, wie es für die Heilung am besten sein würde. Viele Lungenkranke sind geneigt zu einer optimistischen Beurteilung ihres Zustandes; wenn es ein wenig besser geht, halten sie sich schon für nahezu geheilt, und einigermaßen leichtsinnige Leute glauben dann nicht mehr der Geselligkeit und dem Vergnügen entsagen zu müssen, sie beteiligen sich an Festlichkeiten und an mancherlei Veranstaltungen, die für die Lunge durchaus nicht heilsam sind. Man hat schon behauptet, daß mehr Lungenkranke an ihrem Temperament zu Grunde gehen als an ihrer Krankheit. Ich halte einen solchen Ausspruch für eine starke Uebertreibung, aber ich muß doch zugestehen, daß etwas Wahres zu Grunde liegt. Ueberhaupt, wenn es möglich wäre, mit einer gewaltsamen Kraftanstrengung die Krankheit zu überwinden, so wäre dies den meisten kranken Menschen angenehmer, als wenn dazu ruhiges Ausharren, lange dauernde Entsagung und Geduld erforderlich sind. Und so möchten auch manche Lungenkranke mit Gewalt ihre Lungen wieder in Ordnung bringen. Sie treiben sogenannte Lungengymnastik, Bergsteigen, Radfahren, Schlittschuhlaufen, Schlitteln und anderen Sport, bei dem die Atmung stark angestrengt wird. Es hat auch schon Aerzte gegeben, die bei Lungenkranken solche Gymnastik empfohlen haben. Und doch gehört keine tiefe ärztliche Wissenschaft, sondern nur der einfachste Verstand dazu, um zu begreifen, daß es für eine Lunge, in der Geschwüre vorhanden sind, nur schädlich sein kann, wenn sie häufig übermäßig ausgedehnt und gezerrt wird. Der Gesunde mag Gymnastik und auch Lungengymnastik treiben, der Kranke soll sich ruhig halten, und namentlich der Lungenkranke soll seine Lunge nicht mehr bewegen, als unbedingt nötig ist.

Solche Schädlichkeiten können nur vermieden werden durch ärztliche Aufsicht. Darum ist es erfreulich, daß an den Höhenkurorten immer mehr geschlossene, von Aerzten geleitete Anstalten entstehen, so in Davos, in Arosa, in Leysin im Waadtland – geschlossene Anstalten, in denen die Kranken unter strenger ärztlicher Aufsicht stehen. Aber die meisten derartigen Anstalten sind nur wohlhabenden Kranken zugänglich. Wir müssen es deshalb doppelt freudig begrüßen, daß jetzt in Davos eine deutsche Heilstätte begründet werden soll für minderbemittelte Kranke, die sonst nicht daran denken könnten, sich die Heilwirkungen des Höhenklimas lange genug zu nutze zu machen.

Nun aber haben manche gefragt, warum man denn im Auslande, in der Schweiz, eine solche Heilstätte errichten wolle, ob nicht die Kranken lieber in Deutschland bleiben sollten. Ein Teil der Heilwirkungen, welche das Hochgebirge der Schweiz liefert, ist auch im deutschen Mittelgebirge an den passenden Stellen vorhanden. Und es giebt ja auch in Deutschland Heilstätten [383] für Lungenkranke. Die Heilanstalt in Görbersdorf in Schlesien in einer Höhe von 560 Metern hat lange bestanden und gute Erfolge geliefert, bevor man daran gedacht hat, die Lungenkranken nach Davos zu schicken. Und ähnliche geschlossene Anstalten, die vortrefflich wirken, bestehen in Deutschland in großer Zahl. Man hat in den letzten Jahren in allen deutschen Staaten begonnen, auch für minderbemittelte oder ganz unbemittelte Lungenkranke Heilstätten und Heimstätten zu errichten; und auch dabei wird Württemberg nicht zurückbleiben. In Schömberg im Schwarzwald, etwa zwischen Liebenzell und Wildbad, in einer Höhe von 650 Metern, haben wir schon eine Anstalt, in der außer den wohlhabenden auch weniger bemittelte Kranke aufgenommen werden. Und der Verein zur Errichtung von Volksheilstätten für Lungenkranke in Württemberg, dem auch ich angehöre, ist eben im Begriff, mit einem Aufruf zu Sammlungen an die Öffentlichkeit zu treten.[2] Hoffen wir, daß es recht bald möglich werde, in Württemberg und in ganz Deutschland noch recht viele solcher Anstalten ins Leben zu rufen. Die Zahl der Lungenkranken ist so außerordentlich groß, daß die Heilstätten nicht zahlreich genug werden können; sie werden immer voll und übervoll besetzt sein. Und sie werden segensreich wirken, auch wenn sie nicht in so bedeutender Höhe liegen; die sorgfältige Pflege und die zweckmäßige ärztliche Behandlung wird manches ersetzen, was ihnen an natürlichen klimatischen Vorzügen abgeht. Und auch daran darf wohl erinnert werden: wenn es möglich wäre, einen großen Teil der Lungenkranken in solchen Heilstätten unterzubringen, so wäre dies nicht nur ein Vorteil für die Kranken, sondern auch für die Gesunden; die Schwindsucht würde sich weniger ausbreiten, sie würde bald weniger häufig werden.

Nun kann es nach allem, was ich heute ausgeführt habe, wohl keinem Zweifel unterliegen, daß eine Anstalt im eigentlichen Hochgebirge, in der Höhe von 1560 Metern, fast 1000 Meter höher als die Anstalten in Deutschland, doch noch viel günstigere Aussichten für die Heilung bietet. Es kommt ja vor, daß ein Kranker auch zu Hause geheilt wird. Es werden auch bei uns in gut geleiteten Anstalten gute Erfolge erreicht. Aber im Hochgebirge werden sie leichter und häufiger erreicht. Wer viele Kranke zu sehen bekommt, die aus den deutschen Heilstätten zurückkehren, und auch viele, die aus dem Hochgebirge zurückkehren, der überzeugt sich bald, daß im Hochgebirge die Heilungen und namentlich die dauernden Heilungen häufiger erreicht werden. Und für die unglücklichen Kranken ist doch gerade das beste gut genug. Darum wollen wir sorgen, daß recht bald in Davos eine deutsche Heilstätte für weniger bemittelte Kranke errichtet werden kann. Sie wird ja unter allen Umständen leider nur eine beschränkte Zahl von Kranken aufnehmen können, und sie wird unsere Volksheilstätten nicht überflüssig machen. Es gilt eben auch hier, das eine thun und das andere nicht lassen. Die werkthätige Menschenliebe wird ausreichen, um für beides die Mittel zu gewähren.


  1. Am 4. April dieses Jahres hat Professor Dr. Liebermeister in Stuttgart einen Vortrag zu gunsten einer in Davos zu errichtenden deutschen Heilstätte für minderbemittelte Lungenkranke gehalten. Wir sind in der erfreulichen Lage, diesen Vortrag zum Abdruck bringen zu dürfen und unsere Leser mit den Ansichten des so hochgeschätzten und berühmten Arztes über die Heilung der Lungenschwindsucht vertraut zu machen. Dieser Beitrag bildet eine wesentliche und lehrreiche Ergänzung der Artikel, die im Laufe der letzten Jahre über diese wichtige Frage des Gemeinwohls in der „Gartenlaube“ erschienen sind. D. Red. 
  2. Der Aufruf ist inzwischen erschienen, und die Sammlungen nehmen einen erfreulichen Fortschritt. D. Red.