Tolstojs Tod
- [13] Tolstojs Tod
- (am 20. November 1910)
- Die Liebe ist verwaist. Ihr stärkster Hort,
- ihr Schützer, ihr Prophet, ihr Held, ihr Sohn,
- die menschgewordne Liebe selbst ging fort.
- Das Herz der Welt erbebt in seinen Festen,
- 5erschüttert von des Worts Posaunenton,
- vom Testament des Weisesten und Besten.
- Er ging, wie nie ein Mensch noch sterben ging,
- nicht müde flüchtend, nicht mit Todesbeben;
- er sprengte seines Daseins goldnen Ring,
- 10zu einen seines Herzens mächtigen Schlag
- mit dem der Welt. – An seinem Sterbetag
- grüßt ihn der Sieg des langen Kampfs: das Leben...
- Noch schläft die Sonne hinter Reif und Frost;
- vereiste Wege, nur vom Schnee erhellt,
- 15durchkreuzen bleich und lang erfrorne Gründe.
- Durch den Novembermorgen pfeift und gellt,
- wie Atemstöße roher Menschensünde,
- von Schmerz und Wollust heulend der Nordost.
- Da trappeln Pferde. Eine Wagenspur
- 20spult flimmernd sich im schneeigen Boden ab.
- Ein Greis verläßt sein Weib, sein Gut, sein Haus.
- Hinaus in Gottes einsame Natur!
- Die Hufe schlagen auf im scharfen Trab, –
- in Rußlands stillste Einsamkeit hinaus.
- 25Was arme Menschen Wohlstand dünkt und Glück:
- Bequemlichkeit und festliches Geschmeide
- und Zärtlichkeit und liebende Betreuung, –
- der flüchtige Greis wirft keinen Blick zurück.
- Die Seele, eingekrustet im Genuß,
- 30[14] sehnt sich nach Reinigung und nach Erneuung.
- Sie wäscht sich rein von aller Menschheit Leid
- Und aller Menschheit weiht sie ihren Kuß. –
- Sucht nicht den Gatten, sucht den Vater nicht,
- der ohne Abschied ging, um Gott zu finden;
- 35in seiner Sterbestunde für die Blinden
- Gott anzuflehn um Stab und Mut und Licht.
- Der euch verließ, gehört euch nicht allein.
- Stört nicht sein Tun, so ihr die Menschheit achtet!
- Wenn ihr barmherzig seid, tränkt nicht mit Wein
- 40den Sterblichen, der nach Erlösung schmachtet! –
- Der Tag steigt auf. Die helle Sonne leuchtet
- ins herbstliche Gefild mit heller Glut,
- daß rings vom Tau und Schnee sich funkelnd feuchtet,
- und daß des Greisen welke Brust sich dehnt,
- 45noch einmal sich zurück zur Jugend sehnt,
- noch einmal rascher rieseln fühlt das Blut.
- Dann sinkt der Leib zusammen siech und schwach. –
- Nur rasch ihn betten unters nächste Dach! –
- Und die ihn lieben, kommen, ihn zu pflegen,
- 50noch einmal seine bleiche Hand zu küssen
- und zu empfangen Scheidegruß und Segen.
- Er wehrt sie ab. Schon dorren seine Lungen,
- schon jagt in irrem Schlag der Puls des Kranken:
- In dieser Stunde nicht bedrängt sein müssen
- 55von Zärtlichkeiten und Erinnerungen.
- Nur noch zu Gott die Worte und Gedanken! –
- Da draußen liegt die weite weiße Erde,
- das Schlachtfeld, wo Millionen Menschen leiden,
- [15] wo Haß und Kampf und Kriege und Beschwerde
- 60das Menschenherz von seiner Gottheit scheiden.
- Liebt euch! Seid Freunde, Brüder! Haltet Frieden!
- Seid gut und widerstehet der Gewalt! – –
- Der Sterbende hat an die Bahnstation
- die ganze Menschheit vor sein Bett beschieden,
- 65befiehlt ihr, Gottes Odem einzusaugen.
- Er atmet auf. Ein Todeshauch weht kalt
- um Herz und Stirne, – und der Menschensohn
- erkennt den Gott und seufzt und schließt die Augen.
- Sein Herzschlag hat sich dem der Welt vereint. –
- 70Die Liebe ist verwaist. – Die Menschheit weint.