Thierstudien eines Laien/Hirschkäfer und Ohrwurm
Daß neben Koryphäen wie Brehm und Anderen ein Laie sich mit „Thierstudien“ hervorwagt, bedarf kurzer Erklärung. Einmal fordern jene Meister durch ihre populären Schriften selber alle Naturfreunde zum Studium auf, und sie verschmähen auch kleine Beiträge nicht, wenn diese nur auf gewissenhafter Beobachtung beruhen. Sodann stehen sie aber mit ihren Forschungen so hoch, daß viele Laien abgeschreckt werden, zu beobachten oder ihre Erfahrungen zu veröffentlichen, weil sie verzweifeln, etwas Werthvolles zu leisten oder zu liefern. Gerade nun, weil ich Laie bin und als solcher manch schönen Einblick thun konnte, möchte ich meine gesammelten Beobachtungen publiciren, um womöglich alle Freunde der Thierwelt anzuregen, dieselbe zu studiren, auch wenn sie vielleicht lange Zeit nur allbekannte Thatsachen wahrnehmen. Geduld und Genauigkeit entdecken doch manche neue Seite und – den ausdauernden Beobachter krönt auch oft genug das Glück, wie mein Beispiel zeigen wird.
Von früh auf habe ich mit wärmstem Interesse vorzugsweise die niederen Thierclassen beobachtet. Und schon als Knabe befolgte ich stets den Grundsatz: die Thiere erst ohne jede Störung, ganz in ihrem eignen, freien Thun und Treiben zu studiren, und erst wenn ich sie da zu kennen glaubte, ganz allmählich und vorsichtig mich ihnen zum Bewußtsein zu bringen und zu erproben, wie weit sie menschlicher Einwirkung und Erziehung fähig seien.
Alle diese vielen einzelnen, oft zufälligen und häufig unterbrochenen Beobachtungen hatte ich längst gesammelt, als mir’s in den letzten Jahren in Oldenburg möglich wurde, Aquarien und Terrarien anzulegen und so zusammenhängendere und umfangreichere Forschungen zu beginnen. – Und zu derartigen Anlagen rathe ich jedem Naturfreunde, der sie irgend ermöglichen kann. Die Mühe und der unausbleibliche Aerger dabei werden reichlich aufgewogen durch die mannigfaltige Freude des Genusses.
Aquarien sind schon ein verbreiteter Handelsartikel geworden. [78] Ueber sie giebt die beste Auskunft die treffliche kleine Schrift „Das Süßwasser-Aquarium“ von Roßmäßler und Brehm. Die Behälter, Ingredienzen und Thiere kann man ferner in reicher Auswahl aus dem großen Berliner „Aquarium“ beziehen. – Seltner sind die Terrarien, die Behälter für das kleinere Landvieh, die Amphibien, die Insecten, Schlangen etc. – Auch die Behälter des Berliner Vivariums für diese Thiere sind nicht maßgebend für den Laien, der mit wenig Kosten, auf engerem Raum möglichst viele verschiedene Thiere halten und sie von allen Seiten beobachten will.
Ich richtete mein Terrarium ein, ehe ich die Berliner Anstalt kannte und ohne aus einem Buche Anweisung zu schöpfen. Freilich verdankte ich den tüchtigen Oldenburger Zoologen Wingken, Inspector des Museums, Dr. Greye und dem Thierhändler Wagner manchen schätzbaren Wink, im Ganzen aber mußte ich auf eignem Ermessen und Berechnen fußen.
Ein drei Fuß langer und zwei Fuß breiter Blechkasten mit verschiebbaren Glaswänden, der mit seinem ebenfalls beweglichen Draht- und Glasdache sich zu fast drei Fuß Höhe erhob und auf einem tragbaren Gestelle ruhte – das war der Schauplatz, auf dem meine zahlreiche Thierwelt Sommers im Sonnenschein des Gartens ihr bewegtes Leben führte und Winters in des Kellers Dämmerung ihren Winterschlaf hielt. Kleinere gleichartige Behälter dienten dazu, unnütze Thiere einstweilen zu exiliren, oder gezüchtete Brut in Sicherheit zu bringen, oder endlich des Winters im Zimmer Beobachtungen anzustellen.
In der großen Arche stellte ich eine malerische Tropenlandschaft her. Groteske Tuffsteinfelsen und verwitterte Baumklötze wechselten mit weichen Erdhügeln, dürrheißen Sandplätzen und kühlfeuchten Höhlungen ab. Schlanke Akazien, Apfelsinenbäumchen und Papyrusstauden, schattige Farren und breite Blattpflanzen, Epheu und andere Schlinggewächse bildeten die luftreinigende Vegetation, unter welcher halbversteckt Seen in Muschelbassins die nöthige Feuchtigkeit boten, die bei starkem Sonnenbrande außerdem ein einfacher Sprengapparat lieferte. – Auf diesem abwechselungsreichen Terrain konnte ich die Neigungen der Thiere am besten erforschen, konnte auch möglichst verschiedene Inwohner zusammen beherbergen. – Bald wimmelte es denn auch von – meist eigenhändig gefangenen – Eidechsen, Blindschleichen, Molchen, Kröten, Unken und Fröschen; von Käfern, Ohrwürmern, Fliegen, Schmetterlingen, Spinnen, Schnecken und Würmern – letztere Reihe zugleich als Futter dienend im Verein mit Mehlwürmern, Grashüpfern Mücken etc., die ich frisch fing oder hielt. So war die kleine Welt fertig; Tag und Nacht lebte und regte sich’s, und eigentlich war immer etwas Interessantes zu sehen und zu beobachten.
Aus diesem Terrarium also, ebenso aus den verschiedenen gleich reichlich besetzten Aquarien, endlich aus der Menge der Einzelbeobachtungen zu verschiedenen Zeiten und an den verschiedensten Orten fließt der Stoff dieser „Thierstudien eines Laien“. – Mögen sie denn Gnade finden vor den Richtern von Fach, zugleich aber Lust und Interesse, auch für die niedere Thierwelt, fördern und wecken in den weiteren Kreisen der Laienwelt!
Der Hirschkäfer mit seinem stolzen Geweih und seiner ernsten Würde hätte mir stets absonderlichen Respect eingeflößt. Allein so oft ich ihn fing, war er ein so stiller Gast, verschmähte alle Delicatessen und stand so phlegmatisch auf einem Flecke wie ein langweiliger Heiliger auf seiner Säule, daß ich anfing, das Interesse zu verlieren. Da belehrten mich vorigen Sommer die Hirschkäfer des Werrathals bei Münden, daß auch unter ihrem braunen Panzer ein freiheitliebendes und tapferes Herz schlage.
Für die erstere Eigenschaft erlebte ich zunächst folgendes Beispiel. Vielleicht angezogen vom Duft einer Erdbeerbowle, die mich mit Freunden auf dem schönen Andree-Berggarten über Münden vereinte, flogen mir in kurzer Zeit zwei Hirschkäfer, Männchen und Weibchen, zu. Unter einer Glasglocke vereinigt zeigten sie jedoch die gewohnte Lethargie und nur bei jedem Ruck des Tisches zuckten sie eigenthümlich auf und schoben sich etwas rückwärts. Abend nahm ich sie in einer Schachtel mit hinunter in’s Gasthaus. – Mitten in der Nacht nun wachten mein Freund und ich von einem sonderbaren Knistern auf und entdeckten endlich, daß es aus der Schachtel kam. Beim Oeffnen lagen beide Käfer auf der Seite und staken mit den Zangen in einer Fuge der Schachtel. Als wir uns still hielten, fingen sie richtig bald wieder an zu knacken und lösten fortwährend kleine Holzspähne ab. Da es indeß langsam zu gehen schien, so besorgte ich nichts, schüchterte sie durch Schütteln ein und bald lagen wir wieder fest im Schlafe. – Da weckte uns gegen Morgen ein gewaltiger, sausender Lärm und – siehe da! Die Käfer hatten wahrhaftig die Fuge durchgeknabbert, sich hinausgedrängt und sausten nun von Zeit zu Zeit mit einem starken Bums! gegen die Fenster. – Solche Freiheitsliebe mußte ich belohnen und bald schwirrte das Pärchen in den goldnen Morgen hinaus.
Aber eine noch höhere Achtung des Hirschkäferstandes flößte mir einige Tage später ein weibliches Glied derselben ein, welches sich als wahre Amazone bewährte. Mit Freunden ging ich eines Abends am Werraufer und Waldessaum entlang, und Caro, unser Pudel, ergötzte uns durch seine Possen. Schon mehrfach hatten wir Hirschkäfer an den Bäumen hinstreifen sehen, aber zum Fangen zu hoch; es schien ein ordentlicher Strich von Westen her zu sein. Endlich kam ein mächtiger Bursche gerade auf uns zu; ein Schlag mit dem Hut – und am Boden zappelte ein kolossales Weibchen, eine Riesin ihres Geschlechts, wie ich sie auch in Sammlungen noch nicht gesehen, und wenn auch ohne Geweih, so doch mit gewaltigen Zangen gerüstet. Wir halfen ihr auf die Beine, als Caro herbeikam und nach Hundeart das seltsame Ding beschnupperte. Dies fand die Käferdame indessen frech und – kaum gedacht, so kniff sie sich so intensiv in des Pudels Schnauze ein, daß dieser heulend aufsprang und erst durch verzweifeltes Schütteln den fatalen Nasenklemmer los wurde. Nun aber war Caro der Beleidigte! Wüthend faßte er den Käfer an, doch – o weh! abermals zwickte dieser ihn im Nu derartig, daß er niesend und prustend umherkreiste. – Jetzt verfuhr der Hund, der auch tapfer war und vom Kampfe nicht abstand, vorsichtiger, hier- und dorthin fuhr er, den Gegner mit den Zähnen zu fassen und doch die bösen Zangen zu meiden. Aber wie staunten wir, als der sonst so ungelenk erscheinende Hirschkäfer, stets hoch aufgerichtet und die drohenden Fänge dem Köter entgegenstreckend, sich wie der Blitz im Kreise drehte, jeder Wendung und Bewegung auf’s Genaueste folgte und sogar, wenn Caro zurücksprang, tapfer vorrückte! So oft der Pudel ihn noch wirklich packte, so oft wir glaubten, jetzt sei’s um die kleine Amazone geschehen – immer doch war’s die alte Geschichte: Caro ließ stets wieder heulend los und der Hirschkäfer – den wir natürlich immer sofort wieder auf die Füße stellten – behauptete das Schlachtfeld. – Endlich setzten wir die Siegerin auf einen Baum, wo sie sich erholen und triumphirend herabsehen konnte auf den noch lange wüthend hinaufbellenden Pudel.
Wie mögen, bei solcher Tapferkeit, erst die Kämpfe sich gestalten, welche die „Eifersucht und Leidenschaft“ der Hirschkäferliebe erregt? Leider habe ich diese zu beobachten bisher noch nicht das Glück gehabt. –
Wer kennt ihn nicht, den schmächtigen Gesellen mit dem beweglichen Leibe und den flinken Füßen, der überall, in Früchten und Schoten, in Blumen und Blättern, in Mauerritzen und unter Steinen, sein lichtscheues Wesen treibt? Erst sitzt er, wie geblendet, ganz still, wenn Deine prüfende Hand leise den schützenden Versteck öffnet; aber plötzlich huscht er Dir blitzschnell durch die Finger und – weg ist er, Du weißt nicht wie!
Die gewöhnliche Sprache nennt ihn „Ohrwurm“; ich möchte den Kunden als den „Reinecke unter den Insecten“ betiteln.
„Wie ekelhaft ist dies Geschöpf!“ hat gewiß mancher Leser schon gerufen, wenn er vielleicht gerade in einen schönen Apfel beißen oder eine süße Weintraube entbeeren wollte und dann ein solcher Schmarotzer ihm entgegensprang, den haschenden Finger vielleicht gar tüchtig kniff und jedenfalls durch seine fatale „Anrüchigkeit“ dem Munde den Genuß verleidete. Und auch abgesehen von dem Märchen, als krieche der kleine Gourmand in die Ohren und erzeuge dort Taubheit: das allgemeine Urtheil ist dem Burschen jedenfalls ungünstig – analog der Verdammung des eigentlichen Reinecke.
Außer dieser sehr negativen Analogie haben mich nun meine vielfachen Beobachtungen zu sehr positiven Gründen für jenen Vergleich geführt. Der moralische Charakter des Oehrlings hat durch dieselben zwar wenig gewonnen, obwohl Taschenberg (in Brehm’s „Illustrirtem Thierleben“) die Liebe der Mutter zu ihren [79] „Würmchen“ rühmt; aber um so interessanter sind mir die geistigen Fähigkeiten des „Ritters vom Oehr“ entgegengetreten. Ich halte ihn für das schlaueste aller Insecten-Subjecte, und alle meine Studien haben mich stets von Neuem auf die Zusammenstellung mit Meister Reinecke hingedrängt. Die empfindliche Spinne, die scharfsichtige Cicindela, die praktische Ameise, der vorsichtige Carabus, ja die berechnende Biene – sie alle und mir gegen den Ohrwurm wie Stümper und Ignoranten erschienen. Wenn die Augenblicke kommen – und das, meine ich, ist die Probe –, von denen jedes Wesen denkt, sie gefallen mir nicht, also in Gefahren, zumal bei Eingriffen der Menschenhand: da wird die Spinne, hat sie nicht gerade Eier zu schützen, feig und kopflos, die Cicindela kurzsichtig, die Ameise tollkühn, der Carabus tölpisch, die Biene tollkühn und – nur der Ohrwurm bleibt, wie er ist, nämlich vorsichtig, schlau, erfinderisch.
Ich setzte von allen jenen Thieren (außer der Biene), dazu von Fliegen, Käfern etc., eine Menge Exemplare in einen größern Glasbehälter, dessen Boden ich – wie das meine Hauptregel auch bei den kleinsten Behältern ist – mit Erde, Steinen, Blättchen und allerlei Grus dem natürlichen Erdboden möglichst treu nachbildete; denn nur so, nicht aber auf glattem, ebenem Glas- oder Holzboden, entfalten die Thiere ihr wahres Leben und Treiben wenigstens annähernd wie im Freien. – Nach etwa einstündigem, erbittertem Kampfgewirr wiesen alle Parteien mehr oder weniger Todte und Verwundete auf. Da lagen Spinnen, oft von den eigenen Verwandten am tollsten zerfetzt; Cicindelen und Carabusse hatten sich und allen Anderen wüthende Schlachten geliefert; Ameisen, ineinander verbissen oder von anderen Gegnern zerquetscht, hauchten langsam ihre zähe Seele aus. Und von den Lebenden liefen die Käfer stets denselben blödsinnigen Trab rings an der Glaswand herum, blind nur zufassend, wenn ein Hemmniß vorlag. Die Spinnen hatten sich meist nach oben geflüchtet, jagten aber auch hier einander, und nur allemal die größeren hatten den Muth, den kleineren dauernd zuzusetzen; oft aber flohen sogar die dicksten Kreuzjungfern entsetzt vor einer dummdreisten Fliege, die im Netze ihnen ja unrettbar verfallen wäre. Die Ameisen endlich, die den Streit am glühendsten geführt, fielen rasch der Ermattung zum Opfer. – Dagegen deckte aus der Cohorte der Ohrwürmer kein einziger als Leiche das Schlachtfeld; aalglatt wanden sie sich durch den dicksten Gefechtsknäuel durch, fortwährend den geschmeidigen Hinterleib mit drohend weitgeöffneten Zangen blitzschnell nach allen Seiten schnellend; die größten Widersacher wurden durch diese Akrobatenkniffe in Schreck und Furcht gesetzt. Verwundet waren freilich mehrere; einen hatte sogar des Cicindelenzahnes Schärfe halbirt. Aber auch diese wehrten sich noch, und selbst jenes Vordertheil that noch ebenso tapfer mit wie die unverletzten Gefährten. Nie griff ein Oehrling den andern an; höchstens machten sie – gleichsam zangenfletschend – gegen einander Front und „rempelten“, doch ohne ernstliche Attaque. Natürlich concentrirten sie, gleich allen anderen, sich oft genug rückwärts in die naheliegenden Schlupfwinkel; aber ebenso oft kamen sie wieder hervor, und namentlich beim Matterwerden des Streites griffen sie direct Fliegen, Spinnen und nicht allzu große Käfer an.
Endlich stellte sich eine verhältnißmäßige Ruhe ein. Und nun zeigte sich diese schlaue Bande als die einzige, welche – freilich nicht sehr moralisch – aus der Situation Nutzen zu ziehen verstand. Denn nun offenbarten die Bösewichter sich als die „Hyänen des Schlachtfeldes“, als die wahren Marodeure und Leichenschänder. Von allen Seiten, aus allen Löchern kamen sie nach und nach hervor und machten sich ohne viel Gewissensbedenken an die Todten und Verwundeten. Ja mitten in Kampfscenen saß Meister Oehrling ruhig am schauervollen Fraß; kam ein Feind nahe, so erhob sich sofort das drohende Zangenpaar, doch ohne daß die Kauwerkzeuge auch nur einen Moment gefeiert hätten. Ward der Spectakel zu arg, so schleppte er wohl die oft noch widerstrebende Beute bei Seite unter ein Blatt oder Steinchen; aber gar nicht immer nahm er sich diese Mühe, sondern nagte häufig genug auf freiem Felde fort. – Erst lange nachher folgten Spinnen und Käfer diesem bösen Beispiele. Trafen dann mehrere Räuber an einem Stück zusammen, so wichen vor den größeren Käfern die Ohrwürmer zwar meist zurück, aber doch auch nur langsam und drohend; zuweilen indessen hielten sie selbst dem überlegensten Gegner Stand, zerrten mit ihm hin und her, und mehrfach sah ich, daß selbst eine Cicindele vom Kampfe abstand. Eine Spinne nun gar, und wäre sie auch die größte gewesen, band regelmäßig nur zu eigenem Schaden mit dem Gesellen an, der sie sammt den Fliegen gegen Abend sogar aufsuchte und angriff. Setzte sich eine der Weberinnen zur Wehr und fuhr mit ihren auch nicht zu verachtenden Zangen zu, so barg der Ohrwurm stets im Nu den Kopf unter dem gänzlich nach vorn übergebogenen Hinterleibe, gegen dessen Zangenöhr der Spinnenbiß nichts ausrichten konnte. Im Netze habe ich freilich oft den Ohrwurm verloren gesehen, da die Spinne viel rascher ihn umstricken konnte. Doch waren auch die Fälle nicht selten, daß der Bursche sich mannhaft vertheidigte und seine Lanzen oft bis zur Wurzel in den weichen Spinnenleib versenkte, oder auch, daß er raschen und leichten Laufs über das Netz hinweg der Spinne entfloh, oder endlich sich mit der Kraft der Verzweiflung durch die Maschen riß und zur Erde hinabstürzte.
So behaupteten sich also in dem Behälter die Zangenritter durch Tapferkeit, vor Allem aber durch Umsicht und List, als die eigentlichen Meister der Arena und hielten, mitten unter Blut und Leichen, ein cannibalisches Siegesmahl, wie es ihnen vielleicht selten geboten war. Selbst jener noch immer muntere Halbirte schmauste wacker mit und schien es gar nicht zu verübeln, daß seine Hinterhälfte von seinen eigenen Cameraden mit verspeist wurde. An mich schienen die geriebenen Subjecte sich rasch gewöhnt zu haben. Fuhr ich ’mal mit dem Finger in die Gesellschaft hinein, so stoben Spinnen und Cicindelen erschreckt durcheinander; die Carabusse zogen sich, allerdings mit dem jeweiligen Raubstück, zurück; aber von den Oehrlingen blieben die meisten ruhig beim Schmause und erhoben auch gegen mich dräuend den Doppelspieß. Vielleicht hatten sie ein Gefühl, daß ich es war, der ihnen den Tisch so reichlich gedeckt hatte.
Allein Undank ist der Welt und zumal Reinecke’s Lohn. Als die Dunkelheit hereinbrach, begannen die nun satten Gesellen gegen meine Auspicien zu opponiren. „Wir sind nun voll und können nach Hause gehen!“ Das schien ihre Losung zu sein, die sie denn auch mit Energie und gleicher Klugheit zu realisiren strebten. Sie versuchten nämlich nun, an den glatten und dazu concaven Glaswänden hinauf zu klettern; lange vergeblich, bis endlich ein Hauptpfifficus auf den Einfall kam, nicht gerade, sondern seitwärts und im Zickzack sich hinaufzuschieben. Alle Minuten machte er Ruhepause, und so oft er auch herabfiel, stets begann er die Tour von Neuem und meist von derselben Operationsbasis aus. Und nicht genug, selbst hier am jähen Abgrund „sich leimend mit dem eig’nen Blut“, scheuchte er jede querkommende Fliege oder Spinne zurück; und wunderlich genug sah’s aus, wie dieser Jongleur mit den Füßen sich an die glatte Wand stemmte, sorglich jedes Stäubchen zum Anhaltspunkt ausnutzend, und mit dem langen Hinterleib herüberhing oder nach rechts und links schlenkerte. Dem Führer folgten denn alsbald mehr und mehr Cameraden und die Glaswand rings bot nun ein komisches Bild dar mit den hier und dort kletternden, ruhenden, purzelnden Oehrlingen und den dazwischen hindurch jagenden Spinnen, Fliegen und Käfern.
Da ich den Behälter durch einen Drahtdeckel mit übergreifendem Blechring geschlossen hatte, konnte ich unbesorgt diesen Kletterclub gewähren lassen und begab mich auf längere Zeit hinweg. Doch als ich wieder kam und Alles still, auch die Glaswand völlig leer fand – wer faßt mein Erstaunen, als ich bei Licht die Zahl der Oehrlinge nachzähle, die unten saßen, und „viele sah, die nicht da waren“! Wo sollten die geblieben sein? Wahrscheinlich unter all’ dem Grus. Um Gewißheit zu haben, nahm ich den Deckel ab. Aber sieh’ da, die Schlauköpfe! da hatten sie sich hinaufgearbeitet und oben so dicht am Rande des Blechrings angeschmiegt, daß ich sie nicht hatte sehen können. Sowie ich nun den Deckel lüftete – husch! setzten sie hierhin und dorthin über den Rand auf die Fensterbank und, ohne von diesen wahren Harrassprüngen auch nur einen Augenblick gelähmt zu sein, rannten sie nach allen Seiten auseinander.
So hatte dieses Geschöpf selbst den Menschen überlistet. Oder will man auch dies mit dem unheimlichen „Instinct“ erklären, daß sie gerade jetzt, und mit so unsäglicher Mühe gerade den Deckelrand zum Versteck wählten, während sie bei Tage allein die zahlreichen Schlupfwinkel unten aufgesucht hatten? Ich kann es nur List und Ueberlegung nennen; und wäre der Ohrwurm [80] nur irgendwie ein idealer Jüngling, so wäre mir für ihn auch der Gedankengang noch plausibel: die Freiheit, die er meinte und die sein Herz erfüllte, könne ihm nur von oben winken.
Ich habe dieses einen Tages Beobachtung so genau zu schildern versucht, weil sie alle meine sonstigen zahlreichen Studien über den Oehrling gleichsam zusammenfaßte und bestätigte. Im Anschluß an Taschenberg’s Darstellung füge ich noch bei, daß der Ohrwurm Fleischnahrung nicht blos nicht verschmäht, sondern ebenso gern acceptirt wie Pflanzenkost. Habe ich ihn doch mit Fleisch vom Eßtisch gefüttert! So viel er also auch den Früchten schadet: durch Vertilgung unzähliger Insecten und animalischer Stoffe stiftet er doch auch einigen Nutzen. Ob sie endlich „nächtliche Thiere“ sind, die Oehrlinge – was Taschenberg bezweifelte, möchte ich weder unbedingt verneinen noch bejahen, sondern sie als „Amphibien“ des Lichts und der Finsterniß bezeichnen. Das ist zwar kein Fachname, aber ich glaube, er paßt auf sehr viele Wesen, die bei Nacht wie bei Tage ihren Trieben und Bedürfnissen nachgehen. Und auch in dieser Beziehung würde ja die Analogie mit dem Fuchse richtig und das Epitheton passend sein: „Reinecke unter den Insecten“.